Pädagogik im Kontext von Ideologie und Verbrechen
Die Mitarbeit der Lehrkräfte im NS-System und die Schwierigkeiten der Entnazifizierung
von Dr. Saskia Müller
Nicht nur der Terror, sondern auch die ideologische Ausrichtung durch Erziehung war zentral für die Stabilität des NS-Systems. Die NS-Ideologie wurde von je zuständigen Organisationen für verschiedene gesellschaftliche Gruppen verbreitet – so auch vom Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB) für die Pädagog*innen.1 Der NSLB organisierte alle pädagogischen Fachkräfte und hatte die primäre Aufgabe, seine Mitglieder ideologisch zu mobilisieren. Kennzeichnend für die NS-Pädagogik war ihr Doppelcharakter: einerseits ideologische Beeinflussung, andererseits Verfolgung derjenigen, die nicht zur ‚deutschen Volksgemeinschaft‘ gehörten. Aufgabe war es, Kinder und Jugendliche zu ‚deutschen Herrenmenschen‘ zu erziehen und sie an antisemitische und rassistische Feindbilder heranzuführen, um sie zur Beteiligung an Verfolgung und Vernichtung zu motivieren. Um sie in ihrer ganzen Tragweite zu verstehen, muss die NS-Pädagogik vor dem Hintergrund ihrer spezifischen Verbindung mit den Mordverbrechen betrachtet werden.
Antisemitismus und Rassismus fanden systematisch über Lehrpläne, Materialien und Schulungen der Lehrkräfte Eingang in die Schule. NS-Schulvorgaben verschärften schrittweise mit bürokratischer Kälte2 die Diskriminierung und Verfolgung von Jüd*innen sowie Sinti*ze und Rom*nja, die von öffentlichen Schulen verwiesen wurden, bis 1942, im Kontext ihrer systematischen Ermordung, jegliche Beschulung verboten wurde. Für die von Zwangssterilisation und Ermordung bedrohten Hilfsschüler*innen wurden spezielle Richtlinien erlassen. Als ‚Mischling‘ klassifizierte Schwarze konnten aufgrund eines Erlasses ebenfalls der Schule verwiesen werden. Rektoren und Lehrkräfte waren für die Umsetzung der Verfolgungsmaßnahmen verantwortlich und sie trugen maßgeblich zur Diskriminierung und Ausgrenzung in der Schule bei.
Die Berichte verfolgter jüdischer Schüler*innen zeigen, dass sie vielfachen Demütigungen durch ihre Lehrkräfte ausgesetzt waren, von schlechterer Benotung bis zu sadistischen Herabwürdigungen vor der Klasse. Diese Ausschlüsse machten sie zu dem ‚Fremdkörper‘ in den Klassen, der sie laut NS-Ideologie sein sollten. Mitschüler*innen wurden gegen Jüd*innen in ihrer Klasse aufgehetzt, was zu alltäglichen Beschimpfungen, physischer Gewalt und zerbrochenen Freundschaften führte. Die Hilflosigkeit der verfolgten Kinder und Jugendlichen war enorm, da sie von ihren Lehrkräften abhängig waren. Um so nachhaltiger wurde jede kleine Form von Solidarität erinnert.3
Die Schule steht exemplarisch für die insgesamte Entfesselung der antisemitischen und rassistischen Grundstimmung im Alltag. Das Zusammenspiel von verbaler Gewalt und antisemitischen Maßnahmen machte die jüdische Bevölkerung zu sozial Toten, gegen die eine zunehmende physische Gewalt akzeptiert wurde. Die Verbreitung antisemitischer Hetze war ein eigener Gewaltakt, der direkt mit den Mordverbrechen verknüpft war und den Ernst Simmel treffend als “verbalen Pogrom”4 gefasst hat. Die Kommunikation über Feindbilder wirkte innerhalb des nationalistisch-rassistischen Konstrukts der ‚deutschen Volksgemeinschaft‘ auch verbindend als Ausdruck überlegener Identitätsvergewisserung.
Der Beitrag beleuchtet im Folgenden die Rolle der Lehrkräfte und ihrer Berufsorganisation im NS-System anhand der antisemitischen und rassistischen Hetze des NSLB und der direkten Beteiligung pädagogischer Fachkräfte an Verbrechen. Dabei wird insbesondere das Jahr 1944/45 in den Blick genommen, als die Organisation bereits stillgelegt war, aber das Zentralorgan im Angesicht der kommenden Niederlage eine sich zuspitzende Propaganda verbreitete. Von hier aus können die Schwierigkeiten der Alliierten beim Aufbau des Schulsystems im Jahr 1945 zwischen Entnazifizierung und ‚Renazifizierung‘ eingeordnet werden, ebenso wie die Verdrängung der NS-Vergangenheit innerhalb der pädagogischen Disziplin.
Der Übertritt der Lehrkräfte ins NS-System
In der Regel stützten Lehrkräfte das NS-System. Bereits ab 1930 waren viele Volksschullehrkräfte Mitglied in der NSDAP, 1933/34 war es fast jede dritte Lehrkraft. Sie spielten eine wichtige Rolle im mittleren Führungscorps der NS-Hierarchie und waren im NSLB organisiert, der im Jahr 1937 97% der Lehrkräfte als Mitglieder zählte.5 Es gab kein Gesetz, das zum Beitritt in den NSLB zwang, wie das etwa ab einem bestimmten Zeitpunkt für die Hitlerjugend galt, und Austritte waren möglich.6
Warum so viele Mitglied wurden bzw. sich mit ihren Verbänden in den NSLB eingliederten, lässt sich nicht allein mit Gleichschaltung erklären. Forschungen aus den 1970er Jahren zeigen, dass viele Lehrkräfte das Interesse teilten, mit den Nazis einen starken Staat zu errichten. Ihre Berufsverbände boten mit ihrer inhaltlichen Ausrichtung ideologische Anknüpfungspunkte. Der Deutsche Lehrerverein, der größte Verband der Volksschullehrkräfte, hielt die Fiktion politischer Neutralität aufrecht, was die Opposition neutralisierte und die Eingliederung ins NS-System erleichterte. Bereits 1932 fand sich keine Mehrheit mehr für ein Eintreten für die Demokratie. Der Philologenverband, der größte Verband der Gymnasiallehrkräfte, arbeitete aktiv an der Auflösung der Weimarer Republik mit. Die große inhaltliche Übereinstimmung der nationalistisch-völkischen Positionen dieses Verbandes mit dem Nationalsozialismus sorgte für einen bruchlosen Übergang.7
Die Gleichschaltung der Verbände ab 1933 setzte den bereits eingeschlagenen Weg fort. Es war also nicht in erster Linie das plötzliche Ergebnis von Druck und Gewalt, was es auch gab, sondern ein kontinuierlicher Prozess, in dem Lehrkräfte Entscheidungen trafen – etwa Nazis den Weg in Führungspositionen zu ermöglichen oder jüdische Mitglieder auszuschließen. Zweifel oder Ablehnung resultierten oft nicht aus grundsätzlicher Ablehnung des Nationalsozialismus, sondern aus Standesdünkel oder taktischen Überlegungen. Nur wenige Verbände, insbesondere die Lehrerinnenverbände, widersetzten sich der Eingliederung in den NSLB.
Ideologie und Verbrechen des Nationalsozialistischen Lehrerbundes
Der NSLB war für die ideologische Schulung der Pädagog*innen verantwortlich, organisiert durch Schulungsveranstaltungen.8 Bei diesen Tagungen traten auch fanatische Antisemiten wie Julius Streicher auf, der ehemalige Volksschullehrer und Herausgeber des “Stürmers”, der wegen seines Aufrufs zur “Ausrottung der jüdischen Rasse” im Nürnberger Prozess zum Tode verurteilt wurde.9 Der NSLB verfügte über ein umfangreiches Pressewesen, überwachte die pädagogischen Publikationen und entwickelte Unterrichtsmaterialien.10 Neben fachspezifischen Periodika gab es ein Zentralorgan für die Mitglieder, das eine sich den Entwicklungen des NS-Systems anpassende antisemitische und rassistische Hetze verbreitete und in seinem vulgär-antisemitischem Ton mitunter dem “Stürmer” entsprach.

Die derart geschulten Lehrkräfte übten umfassenden Einfluss auf die Kinder und Jugendlichen aus. Die NS-Ideologie wurde vom NSLB gezielt pädagogisch aufbereitet, wobei Wert auf eine kindgerechte Vermittlung von Rassismus und Antisemitismus gelegt wurde, etwa durch Methoden der Reformpädagogik. Diese wurden mit entsprechenden Inhalten gefüllt, etwa forschendes Lernen bei der Erstellung von ‚Ahnen- und Sippschaftstafeln‘, um den Zusammenhalt der ‚Volksgemeinschaft‘ hervorzuheben und nebenbei die Bevölkerung rassistisch zu erfassen. Ein effektives Mittel des NSLB waren reichsweite Wettbewerbe, die in Verbindung mit seiner populären Schülerzeitschrift “Hilf mit!” veranstaltet wurden.
Der Verband beteiligte sich an verschiedenen Verbrechen: an der Verbreitung einer zutiefst antisemitischen und rassistischen Ideologie – einem ‚verbalen Pogrom‘, der Vorarbeit und propagandistische Begleitung der Mordverbrechen war; an der Verfolgung von Jüd*innen, Sinti*ze und Rom*nja, Hilfs- und Sonderschüler*innen sowie Schwarzen Schüler*innen; und an der Aufhetzung einer ganzen Generation, die schließlich in den Krieg zog. In diesem Sinne ist die Organisation als verbrecherisch zu charakterisieren. Wie der NSLB und in ihm organisierte Lehrkräfte an Vorbereitung und Durchführung von Verbrechen mitwirkten, wird im Folgenden erläutert.
Rassismus
Die Einbindung der NS-Ideologie führte zu einem Bedeutungszuwachs des Lehrberufs. Der NSLB stellte den Pädagog*innen entsprechendes Material zur Verfügung und diskutierte die didaktischen Probleme, die unausweichlich bei der Thematisierung ihrer widersprüchlichen rassistischen Ideologie in der Schule auftraten. Wesentlich waren für die Vermittlung die biologistischen Grundlagen des Rassismus, die sowohl Abwertung als auch Aufwertung umfassten. Damit wurde an gewohnte kolonialrassistische Denkmuster angeknüpft, mit denen auch der Antisemitismus rassistisch untermauert werden sollte. Der in der Bevölkerung fest verankerte Rassismus gegen Sinti*ze und Rom*nja war in kleinerem Umfang, aber ebenso selbstverständlich, Teil der Lehren des NSLB. Insbesondere während des Krieges wurde ein antislawischer Rassismus in den Publikationen für die Lehrkräfte relevant.
Die ‚deutsche Volksgemeinschaft‘ diente als positiver Bezugspunkt für die rassistischen und antisemitischen Feindbilder des NSLB. Dieses ideologische Konstrukt wirkte als utopische Gemeinschaftsvorstellung, vor der die Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung möglich wurde. Die ideologische Einflussnahme auf Kinder und Jugendliche geschah nicht durch Zwang, sondern die Herrenmenschenideologie bewirkte eine Bindung an das NS-System. In der Vermittlung der Zugehörigkeit zur ‚Volksgemeinschaft‘ steckte eine fortwährende Aufwertung des Einzelnen, was insbesondere im pädagogischen Kontext wichtig war. In diesem Sinne war Erziehung zum ‚Rassebewusstsein‘ zentrale Aufgabe der NS-Pädagogik, wie sie vom NSLB durch Materialien unterstützt wurde. Diese nationalistisch-rassistische Überheblichkeit nahm während des Krieges zu. Die Deutschen werden in diesem Kontext als “der stärkste Block der weißen Rasse”11 als Retter Europas und des Abendlandes dargestellt.
Im NSLB organisierte Lehrkräfte waren nicht nur im Reichsgebiet tätig, sondern trugen in den besetzten polnischen Gebieten auch zur Umsetzung einer destruktiven Bildungspolitik bei, die mit antislawischem Rassismus legitimiert wurde. Die Kolonialisierung Polens ging mit der Auslöschung der polnischen Intelligenz, insbesondere der Lehrkräfte und Professoren sowie der Schließung der Universitäten und höheren Schulen einher.12 Der NSLB schreibt dazu ganz offen, Hitler habe “sein ganzes Volk hinübergeführt, dass es einmal in seine angeborene Art hineinwachse und zum anderen den Untermenschen vernichte”.13 Die Schulpflicht in Polen wurde ausgesetzt, und jüdische Kinder durften nur noch in Ghettoschulen unterrichtet werden. Die Schulen wurden nur für bestimmte, rassistisch definierte Gruppen mit unterschiedlichen Bildungsniveaus im Sinne der Germanisierung sowie der rudimentären Ausbildung von Arbeitssklaven wieder geöffnet.14 Deutsche Lehrkräfte arbeiteten somit mit Kriegsbeginn auch in unmittelbarer Nähe zu den kurz darauf errichteten Vernichtungslagern und Ghettos.
Eugenik- und Euthanasieverbrechen
Die Lehrkräfte, insbesondere der Sonder- und Hilfsschulen, waren eine zentrale Berufsgruppe, die die NS-Propaganda zur ‚Rassenhygiene‘ verbreitete.15 Bereits vor 1933 hatten Hilfsschullehrkräfte eugenische Positionen in ihre Debatten integriert. Sie profilierten sich nun durch ihre Mitarbeit an Eugenikverbrechen16 und diskutierten die Ausweitung der betroffenen Gruppen.17 Der NSLB übte Einfluss auf die Systematisierung der Verfolgung und die gesetzlichen Grundlagen aus. Er betrachtete die Hilfsschule als “Sammel- und Sichtungsbecken für unerwünschten Nachwuchs”.18 Das Ziel war nicht die individuelle Förderung, sondern Verwertbarkeit oder Ausschluss. Die Didaktik der ‚Eugenik‘ wollte mit “Erzählungen von einem Gang durch eine Irrenanstalt oder durch ein Gefängnis, durch eine Hilfsschule oder ein Asyl” sowie durch “Stammtafeln und Sippschaftstafeln mit minderwertigen Menschen”19 Abschreckung erzeugen.
Sonderschullehrkräfte beteiligten sich an der Verfolgung ihnen anvertrauter Kinder und Jugendlicher, die als ‚erbkrank‘ und ‚asozial‘ stigmatisiert wurden, indem sie diese zur Zwangssterilisation anzeigten und Gutachten erstellten.20 Ihre Mitwirkung war zentral für die rassistische Erfassung der Schüler*innen. Die Vertrauensbeziehung zwischen Lehrkräften, Kindern und Eltern wurde oft zur Begutachtung ausgenutzt.21 Auch Fachkräfte der Sozialpädagogik und Sozialen Arbeit beteiligten sich an Zwangssterilisationen.22 Fürsorger*innen setzten die rassistische Bevölkerungspolitik um, indem sie Informationen über den Gesundheitszustand sammelten, die später auch für Entscheidungen über Ermordungen verwendet wurden. Lehrkräfte erstellten außerdem Gutachten über die ‚volkliche Brauchbarkeit‘ von Kindern und Jugendlichen, wobei ‚unbrauchbare‘ Personen aus dem Schulsystem ausgeschlossen und oft in Heil- und Fürsorgeanstalten übergeben wurden, die in die Euthanasiemorde involviert waren.
Antisemitismus
Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung war wesentlich für die NS-Programmatik. In der Schule war der Ausschluss jüdischer Lehrkräfte und Schüler*innen für alle ersichtlich, wenn er nicht sogar aktiv unterstützt wurde. Ein Teil der Lehrkräfte arbeitete, organisiert vom NSLB, an der Verkartung von Kirchenbüchern, um Personen ausfindig zu machen, die vom Judentum konvertiert waren.23 Diese akribische Erfassung wurde selbst während des Krieges fortgesetzt. Jugendliche wurden in der Schülerzeitschrift des NSLB dazu angeleitet, mit dieser Methode jüdische Mitschüler*innen zu ‚enttarnen‘.24
Antisemitische Hetze war alltäglich und auch im Unterricht präsent. Die vom NSLB bereitgestellte Propaganda untermauerte die Verfolgung mit Rassentheorien und beinhaltete permanente Abwertungen von Jüd*innen. Die Novemberpogrome 1938 markierten einen Wendepunkt hin zu massiver physischer Gewalt vor aller Augen, flankiert von einem Anstieg judenfeindlicher Hetze. Der NSLB legitimierte die Pogrome durch Täter-Opfer-Umkehr:
“Wir wissen, welch unsägliches Leid der Jude in seiner Gemeinheit und Niedertracht über das deutsche Volk brachte. Wenn dieses Volk dank dem Führer heute wieder stark und stolz und seiner bewusst geworden, in Empörung über jenen feigen Judenmord dem Judenpöbel, der sich wieder immer frecher breitmachte, die Schaufenster einschlug, wenn der Staat in Würdigung dieser Empörung der Judenschaft in Deutschland eine Kontribution auferlegte und sie damit am empfindlichsten Punkt, nämlich am Geldbeutel, trifft, so sind diese Sühne- und Vergeltungsmaßnahmen noch viel zu gering im Verhältnis zu dem Unglück, in das das deutsche Volk vom weltmachtlüsternen Judentum gestürzt wurde.”25
Das kalkulierte Ziel der Pogrome war das Vorantreiben der systematischen Verfolgung. Die folgenden Verschärfungen gingen einher mit einer immer brutaleren antisemitischen Mobilisierung auch durch den NSLB. Hitlers Drohung von 1939 zur “Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa” wurde in den Lehrmaterialien zitiert.26

Während des Krieges wurden offene Morddrohungen lauter, und die Propaganda konstruierte Jüd*innen als universales Feindbild. Es ging vor allem in den letzten Kriegsjahren darum, die gesamte ‚Volksgemeinschaft‘ zu mobilisieren. Der Krieg wurde als Verteidigung gegen eine angebliche ‚jüdische Weltverschwörung‘ und Deutschland als Retter des europäischen Abendlandes inszeniert. Für die Schüler*innen wurde diese Thematik in einem Wettbewerb 1942 aufbereitet.27 Mit der Kriegswende 1943 intensivierte sich diese Propaganda. Der Krieg wurde zur unausweichlichen Entscheidungsschlacht gegen die “zahlreichen jüdischen Vernichtungspläne”28 stilisiert. Die Umkehr der Tatsachen zeigt den projektiven Mechanismus im Antisemitismus. Würde Deutschland sich nicht verteidigen, schreibt der NSLB, “dann sind wir gewiss, dass der jüdische Blutrausch an unseren Männern, Frauen und Kindern Orgien feiern und Deutschland in ein einziges Schlachthaus verwandeln würde”.29 Diese Rhetorik verbindet sich mit Motiven des christlichen Antijudaismus, etwa in der Behauptung, dass “das Weltjudentum mit Hilfe des jüdischen Bolschewismus einen riesigen Ritualmord an der nichtjüdischen Menschheit vollziehen”30 wolle. Die Denkfigur beinhaltete auf der anderen Seite die positive Selbstbeschreibung. Der Krieg sei die Auseinandersetzung “zwischen schöpferischem arischem Menschentum und parasitärem Hebräertum”31, wie es in einer Anweisung für die Schule lautet. Die Lehrkräfte wurden aufgefordert, den Kindern täglich die “Vernichtung des Weltjudentums”32 zu lehren. Das wurde 1944 im Zentralorgan für die Lehrkräfte geschrieben, während Jüd*innen in den Vernichtungslagern systematisch ermordet wurden.
Entnazifizierung und Re-education im Kontext Schule – Gescheiterte Pläne
Pädagog*innen im Exil äußerten sich besorgt über das Ausmaß der ideologischen Beeinflussung der Kinder und Jugendlichen.33 Gruppen wie der Internationale Sozialistische Kampfbund und die German Educational Reconstruction entwickelten im Exil Ideen für ein demokratisches Bildungssystem nach dem Krieg. Sie erwarteten einen massiven Lehrermangel, da viele Lehrkräfte am NS-System mitgewirkt hatten:
“Es werden nicht genug Lehrer vorhanden sein. Die Sorge darüber muss zurücktreten vor der grösseren Sorge, nicht zuverlässige Elemente beizubehalten. Der Mangel wird sogar erschreckend sein. Tausende gefallen; Tausende endgültig zu entlassen; unter den übrigen werden viele Opportunisten sein, die einer regelmässigen Aufsicht bedürfen. Man wird selbstverständlich auf die von den Nazis entlassenen Lehrer zurückgreifen, wenn ihre seelische und körperliche Kraft noch ausreicht.”34
Diese Hoffnung Minna Spechts wurde enttäuscht, viele Entlassene und Exilierte wurden nicht zurückgeholt, kehrten aus Enttäuschung über fehlende Reformen nicht zurück oder hatten nur geringen Einfluss.35 Dadurch wurde auch versäumt, mithilfe der von den Nazis verdrängten Pädagogik nach 1945 eine andere pädagogische Theorie und Praxis zu entwickeln.36
Die ersten Maßnahmen der Alliierten zeugten von einer realistischen Sicht auf die NS-Pädagogik. Der Alliierte Kontrollrat verbot 1945 den NSLB als Teil des NS-Systems in den Schulen. Die Pläne zur Entnazifizierung und Demokratisierung des Schulsystems variierten stark zwischen den Besatzungszonen. Während die USA sich bei der geplanten Einführung der Gesamtschule an der Pädagogik John Deweys orientierten, implementierte die UdSSR die Einheitsschule direkt bei der Wiedereröffnung der Schulen. Großbritannien erachtete Reformen von außen nicht als erfolgsversprechend und bot Reorientierung an. Frankreich plante die Reform des Bildungswesens nach eigenem Vorbild für einen späteren Zeitpunkt. Die Bemühungen um Re-education stießen oft auf Abwehr. Fast keine der Reformen konnte grundlegend umgesetzt werden. In Westdeutschland setzte sich die Restauration des dreigliedrigen Schulsystems aus der Weimarer Republik durch, in Ostdeutschland blieb die Einheitsschule.37
Weil die Lehrkräfte einen großen Anteil an der Verbreitung der NS-Ideologie hatten, sie fast ausnahmslos Mitglied im NSLB und darüber hinaus häufig auch in weiteren NS-Organisationen waren, wurden sie zunächst konsequent überprüft anhand formaler Kriterien wie Führungspositionen in NS-Organisationen und Militär sowie bestimmter Mitgliedschaften (z.B. in der SS). Anschließend wurden Fragebögen verwendet, deren Beurteilung in den vier Besatzungszonen unterschiedlich gehandhabt wurde. In keiner Zone konnten die Pläne aufrechterhalten werden. Die Entscheidung oblag deutschen Behörden unter Oberaufsicht der Alliierten, in denen Lehrkräfte über Kolleg*innen urteilten und sich gegenseitig entlasteten. Verschiedene Amnestien ermöglichten viele Rückkehrende in den Lehrberuf. Ein Gesetz von 1951, in der neu gegründeten BRD, ermöglichte schließlich auch denjenigen die Rückkehr in den öffentlichen Dienst, die aufgrund früherer Beurteilungen (mit Ausnahme der Hauptbelasteten) entlassen worden waren.38
Die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit wurde in der pädagogischen Disziplin lange vermieden und kollaborierende Pädagogen blieben einflussreich. Erst mit der Ablösung dieser Generation und der sozialwissenschaftlichen Wende in der Erziehungswissenschaft ist eine beginnende Aufarbeitung der NS-Pädagogik ab den 1960er Jahren festzustellen. Die Verstrickung der Pädagogik in Indoktrination und Verfolgung zeigt pädagogischen Prozessen innewohnende Grundprobleme auf: Sie bergen immer auch die Gefahr von Manipulation und das Erlernen von autoritären Strukturen. Die NS-Pädagogik lediglich als Ausnahme in der Tradition der Pädagogik zu begreifen, hieße von einem rein emanzipatorischen Konzept von Erziehung und Bildung auszugehen. Zusätzlich negiert diese Sichtweise, dass Pädagogik in politische und gesellschaftliche Machtverhältnisse eingebunden ist. Dagegen setzte Herwig Blankertz 1982: “Aber keines der so arrangierten Versatzstücke war originell, vom Faschismus selbst hervorgebracht, sondern entstammte – und das macht die Betroffenheit aus – der Tradition, auf die sich die Pädagogische Bewegung berufen hatte.”39 Zu reflektieren wäre also die Frage, welche (Dis-)Kontinuitäten in der Geschichte der Pädagogik vor und nach der NS-Zeit bestehen – genauer: wie einerseits Erziehung und Bildung zu dem Menschheitsverbrechen beigetragen haben und inwiefern andererseits diese Ideale nach 1945 fortgewirkt haben.40
Anmerkung: Das Zentralorgan des NSLB ist zwischen 1929 und 1945 unter verschiedenen Titeln erschienen: Nationalsozialistische Lehrerzeitung (NSLZ) Aug. 1933-Juni 1933; Reichszeitung der deutschen Erzieher (RZDE) Juli 1933-März 1938; Der Deutsche Erzieher (DDE) April 1938-Jan./Feb. 1945.
Müller, Saskia (2021). Der Nationalsozialistische Lehrerbund. Verbrechen, Ideologie und Pädagogik im NS-System. Weinheim/Basel.
↩Ortmeyer, Benjamin/Rhein, Katharina (2013). Bürokratische Kälte mit mörderischen Konsequenzen. Antisemitismus und Rassismus im offiziellen Amtsblatt für Erziehung und Unterricht des NS-Staates. Forschungsbericht. Frankfurt.
↩Ortmeyer, Benjamin (Hg.) (1994). Berichte gegen Vergessen und Verdrängen von 100 überlebenden jüdischen Schülerinnen und Schülern über die NS-Zeit in Frankfurt. Frankfurt. Es sind kaum Berichte von Sonder- und Hilfsschüler*innen, Sinti*ze und Rom*nja und Schwarzen Kindern über ihre Schulzeit bekannt. Diese Lücke liegt insbesondere in ihrer lange fehlenden Anerkennung als Opfer der rassistischen Verbrechen sowie in nach der NS-Zeit weiter wirksamen diskriminierenden Stigmata begründet. Eine Ausnahme stellen Ortmeyer (1994); Biesold, Horst (1988). Klagende Hände. Betroffenheit und Spätfolgen in Bezug auf das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, dargestellt am Beispiel der „Taubstummen“. Solms-Oberbiel; Rose, Romani (Hg.) (1999). „Den Rauch hatten wir täglich vor Augen“. Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma. Ausstellungskatalog. Heidelberg und Massaquoi, Hans J. (1999). „Neger, Neger, Schornsteinfeger!“ Meine Kindheit in Deutschland. Bern dar, die auch einzelne Schilderungen aus der Schule sowie aus der Fürsorge enthalten.
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↩Feiten, Willi (1981). Der Nationalsozialistische Lehrerbund. Entwicklung und Organisation. Ein Beitrag zum Aufbau und zur Organisationsstruktur des nationalsozialistischen Herrschaftssystems. Weinheim
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↩Reichszeitung der deutschen Erzieher 1935/9: Dittrich, Dr. Werner: Zur Methodik des bevölkerungspolitischen Unterrichts, S. 5-7, hier S. 6f.
↩Biesold, Horst (1988). Klagende Hände. Betroffenheit und Spätfolgen in Bezug auf das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, dargestellt am Beispiel der „Taubstummen“. Solms-Oberbiel
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↩Der Deutsche Erzieher 1938/17: B., H.: „Juda erscheint, das Reich zu gewinnen“, S. 422–424, hier S. 423, Herv. i. O.
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↩Keim, Wolfgang (Hg.) (1988). Pädagogen und Pädagogik im Nationalsozialismus. Ein unerledigtes Problem der Erziehungswissenschaft. Frankfurt, S. 33f.
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↩Goll, Jörn-Michael (2021). Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und das NS-Erbe. Weinheim/Basel, S. 202-220
↩Blankertz, Herwig (1982). Die Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Wetzlar, S. 274
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↩