Aktion Reinhardt - Orte des Holocaust
Unter diesem Titel haben wir am 14. November 2024 eine Sonderausstellung im Rondell vor dem Haus eröffnet. Die Präsentation, die in Zusammenarbeit mit dem “Grodzka Gate – NN Theatre” Centre in Lublin entstanden ist, wird zeitgleich auch dort gezeigt. Die im Rahmen des von der Stiftung EVZ geförderten Projektes “Unveiling Aktion Reinhardt” entstandene Ausstellung zielt darauf ab, das Wissen über die Bedeutung dieser Mordaktion zu erweitern und eine gemeinsame europäische Erinnerungskultur zu stärken.

“Die Familie meines Vaters wurde in Treblinka ermordet. Sie waren im Warschauer Ghetto. Ich erinnere mich nicht einmal mehr an alle Namen. Ich habe keine Bilder von ihnen. Mir blieb nichts.”
In den Todeslagern Belzec, Sobibor und Treblinka wurden während der sogenannten Aktion Reinhardt insgesamt 1,8 Millionen Jüdinnen und Juden ermordet. Im Zentrum der Ausstellung stehen die Orte in Ostpolen, an denen sich diese Geschichte abspielte, ein Schwerpunkt liegt auf der Region in und um Lublin. Dort begann die Aktion am 16. März 1942 mit der Deportation der Jüdinnen und Juden aus dem Ghetto der Stadt in das Todeslager Belzec. Innerhalb von vier Wochen wurden 28.000 Menschen dorthin verschleppt und ermordet.
Trotz der Dimensionen des Mordens während der folgenden 20 Monate ist die Geschichte der “Aktion Reinhardt” kein Teil des kulturellen Gedächtnisses an die Shoah, weder in Polen noch in Deutschland oder anderen Teilen Europas.
Es geht bei der Ausstellung aber auch um das Zusammenspiel von zentraler Planung und Koordination der Deportationen und des Massenmordes in Berlin und der regionalen Ausführung im Bezirk Lublin.
Der historische Kontext der “Aktion Reinhardt”
Dan Diner sprach bei seinem Vortrag zum 80. Jahrestag der Wannsee-Konferenz von einem “Entscheidungsraum” zwischen Oktober 1941 und März 1942 mit einer Reihe von Ereignissen auf diesem Weg zum europaweiten Massenmord an der jüdischen Bevölkerung. Im Oktober begannen die Deportationen aus dem Deutschen Reich, Ende November tritt die 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz in Kraft, die Staatsangehörigkeitsfragen regelte und den staatlich organisierten Raub jüdischen Eigentums sanktionierte, Anfang Dezember beginnt der Massenmord durch Gaswagen im Lager Kulmhof, im Januar findet die Besprechung am Wannsee statt und am 16. März schließlich – und dies markiert den Endpunkt dieses Entscheidungsraumes – beginnen die Deportationen der Lubliner Jüdinnen und Juden ins Todeslager Belzec.
In dem Zusammenspiel zwischen zentraler Berliner Planung der Verbrechen und Ausführung vor Ort im besetzten Polen sehen wir auch das Zusammenspiel von drei nationalsozialistischen Akteuren und ihren eigenen Interessen: das RSHA unter Reinhard Heydrich, SS- und Polizeiführer Globocnik und seine Männer und das Personal aus den Euthanasiemordanstalten mit Christian Wirth an der Spitze. Im Agieren dieser drei Tätergruppen findet ein Wechselspiel zwischen Kooperation und Konkurrenz in der Realisierung des Mordens statt.
Verantwortlich für die Todeslager ist der im Distrikt Lublin zuständige SS- und Polizeiführer Odilo Globocnik, der direkt dem Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei Heinrich Himmler untersteht. Himmler beauftragt im Oktober 1941 Globocnik mit der Ermordung der jüdischen Bevölkerung im Generalgouvernement. In der Folge beginnen die Vorbereitungen zur Errichtung der Lager Belzec, Sobibor und Treblinka.
Hier zeigt sich deutlich die Konkurrenz zu Heydrich, der in einem von Hermann Göring unterzeichneten Schreiben vom 31. Juli 1941 mit der organisatorischen, sachlichen und materiellen Vorbereitung der “Endlösung der Judenfrage in Europa” beauftragt worden war.
Am 20. Januar 1942 schließlich findet jene Dienstbesprechung statt, die als Wannsee-Konferenz bekannt wurde und auf der sich Heydrich unter anderem die Autorität für alle mit der “Endlösung” – also dem europaweiten Massenmord – im Zusammenhang stehenden Fragen sichert.

Auch wenn Globocnik nicht direkt an der zentralen Koordination in Berlin beteiligt ist, so sind die von ihm organisierten und durchgeführten Massentötungen essentiell in der weiteren Praxis des Mordens. In den folgenden Monaten bis zum November 1943 werden auch Jüdinnen und Juden aus ganz Europa in die Todeslager Belzec, Sobibor, Treblinka und Majdanek gebracht und ermordet.
Im Todeslager Belzec schließlich wird im Dezember 1941 Christian Wirth Kommandant. Er und die anderen Täter in den Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka, von denen nicht alle aus der SS stammten, haben ihre Morderfahrungen in der Aktion T4, der Ermordung von Menschen mit Behinderung, gesammelt. Die Männer unterstehen administrativ der Kanzlei des Führers und werden von hier aus besoldet und verwaltet, wenn auch vor Ort von Globocnik befehligt. Sie bilden den Kern des direkten Tötungspersonals.
In der letzten großen Mordaktion Anfang November, der sogenannten “Aktion Erntefest” – und dieser zynische Täterbegriff zeigt die Mentalität der Mörder überdeutlich –, werden am 3. und 4. November 1943 43.000 Jüdinnen und Juden ermordet. Die Lager der “Aktion Reinhardt” sind zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr in Betrieb, werden zurückgebaut und die Gelände bepflanzt.
Ein deutsch-polnisches Kooperationsprojekt
Das gesamte Projekt bestand aus drei Teilen. Zuerst hat eine Berliner Delegation an den jährlichen Gedenkfeiern um den 16. März 2024 herum in Lublin teilgenommen. Diese erste Begegnung diente bereits einem Austausch über die Vielfalt der Perspektiven, die in diesem Projekt aufgenommen werden sollten. Dann folgte eine gemeinsam vorbereitete Studienreise von 20 Teilnehmer*innen aus verschiedenen europäischen Ländern und Israel zu den historischen Orten der “Aktion Reinhardt” und der Austausch über die Ansätze und Konzepte der Erinnerungskultur in den verschiedenen Gesellschaften. Abschließend wurde schließlich die Ausstellung “Aktion Reinhardt – Orte des Holocaust” erarbeitet.
Als deutsch-polnische Kooperation war es uns wichtig, auch jüdische Perspektiven zu reflektieren. Von Anfang an war die Zusammenarbeit durch gemeinsame Verständigungsprozesse über Begrifflichkeiten gekennzeichnet, die sich in ihrem Ergebnis auch in der Ausstellung widerspiegeln.
Dies kann man gut am Beispiel des Begriffs vom “Osten” zeigen, an dem deutlich wurde, dass es jeweils ganz unterschiedliche Bedeutungszuweisungen dafür gab, was mit dem Begriff jeweils gemeint war. Im Prozess der Entstehung der Ausstellung waren die Diskussionen zwischen den deutschen und den polnischen Kolleg*innen sicherlich mit am intensivsten. Und das meint nicht, dass diese Gespräche kontrovers waren, aber eben Verständigungen darüber, was mit “Osten” jeweils gemeint ist.
Im deutschen Sprachgebrauch hat dieser Begriff schnell eine kolonialistische Konnotation und eine Aufladung durch nationalsozialistische Ideologie. Aus Sicht der polnischen Kolleg*innen ist das, was als Osten bezeichnet wird, eigentlich die Mitte Europas. Der Osten, das war historisch das Russische Reich, und aus polnischer Perspektive gehört dazu auch der Blick nach Westen, nach Preußen und ins Deutsche Reich. In diesem Kontext klingt die Geschichte der polnischen Teilungen seit Ende des 18. Jahrhunderts und die staatliche Nichtexistenz Polens in den Begrifflichkeiten des Ostens und Westens mit. Der “Osten” ist insofern ein geopolitischer Begriff.
Und aus Perspektive der jüdischen Bevölkerung ist dies die Bezeichnung ihrer Heimat. Dazu gehört auch als Beispiel das sogenannte Goldene Zeitalter im 16. Jahrhundert bis in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts. Auch wenn man mit solchen Generalisierungen über die Lebenssituation von Jüdinnen und Juden vorsichtig sein muss, “kann man sagen, dass ihre Lage viel besser war als anderswo in Europa” (Jacek Wijaczka).
Hier entwickelt sich das ost-europäisch jüdische Leben, wachsen die Gemeinden, die Shtetl und eine Kultur, die seit dem 19. Jahrhundert mit dem Begriff „Jiddischland“ gefasst wurde und die mehr meint als eine geographische Umschreibung, sondern eben das vielfältige kulturelle und religiöse jüdische Leben.
Dieses unterschiedliche Verständnis dessen, was jeweils mit “Osten” gemeint ist, haben wir versucht, sichtbar zu machen, wenn wir uns dem “Blick nach Osten” auf einer Tafel der Ausstellung widmen.
Diese Perspektivenvielfalt war für alle Beteiligten eine produktive Erfahrung. So wie sich das Berliner Team schnell auf bestimmte Zugänge verständigen konnte, so konnten dies auch die polnischen Kolleg*innen untereinander, aber umso intensiver und erklärungsbedürftiger waren dann die Diskussionen miteinander, wobei diese Diskussionen immer auch der Überprüfung und Schärfung der eigenen Position dienten.
Einer der zentralsten Aspekte für die Ausstellung am Wannsee mit ihrem Fokus auf die Schreibtischtäter ist die Erweiterung des Blicks auf die Situation in und um die Region Lublin. Die Bilder, die wir sehen, seien es die Marktplätze, die Deportationen mit Pferdewagen oder auch die Leere, die durch die Zerstörungen und den Massenmord entstanden, zeigen eindrücklich die Geschichte.
Vor allem erweitern die Zitate der Überlebenden unsere Sicht auf die Geschichte ganz wesentlich. Sie alle stammen aus Interviews, die die Kolleg*innen vom “Grodzka Gate – NN Theatre” Centre in den letzten Jahren mit Überlebenden der Verfolgung geführt haben.
Die Überlebenden beschreiben ihre Erlebnisse in der Region, von der die Ausstellung erzählt, und auch, wie diese Geschichte für ihr weiteres Leben prägend war.
Rozka Doner beschreibt das Leben für Jüdinnen und Juden nach dem Einmarsch der Deutschen:
“Überall hingen Plakate mit Verboten für Jüdinnen und Juden. Auf bestimmten Straßen durften wir zum Beispiel nicht spazieren. Niemand wusste, was der nächste Tag bringen würde. Jeden Tag wurden andere Anordnungen plakatiert. So kommunizierten sie mit uns. Noch heute habe ich Angst, wenn ich Plakate sehe.”
Adam Adams schildert im Gespräch 2011 die Unvorstellbarkeit des Geschehens für die Betroffenen selbst:
“Wir sagten uns ständig, dass man uns nicht umbringen würde. Wir würden verfolgt. Ja. Aber sie würden uns nicht töten. Ich denke, dass wir bis zum letzten Moment nicht glaubten, dass wir alle sterben würden. Wir wollten es wohl nicht wahrhaben.”
Von der Allgegenwart und das Fortleben des Traumas erzählt Symcha Wajs im Gespräch 1999:
“Im Juni 1946 kehrte ich nach Lublin zurück. Auf meinem Weg vom Bahnhof sah ich nicht ein bekanntes Gesicht. Zuerst ging ich zur Wohnung des Hausmeisters. Er sagte mir, dass niemand mehr da wäre. Man hatte sie alle getötet: meine Eltern, meine ganze Familie und alle anderen auch. Der einzige Trost, den er für mich hatte, war ein Brief, in dem stand, dass meine Schwester noch am Leben sei und in Otwock wohnte. Im Umschlag steckte noch mein Schulausweis und ein paar Fotos von meiner Familie, von Freunden und Bekannten und von mir selbst. Mehr war mir nicht geblieben. Ich weiß, dass mich der Schmerz bis an mein Lebensende begleiten wird.”
Diese Schilderungen der Überlebenden stehen im Zentrum unserer Ausstellung und bieten so eine Erweiterung des Lernens über die Geschichte des Holocaust an. In der Kombination aus zentraler bürokratischer Planung und Organisation der Verbrechen mit den Konsequenzen, die dieses distanzierte Verwaltungshandeln für die von ihm betroffenen Menschen hunderte Kilometer entfernt hatte, soll die Ausstellung dazu beitragen, diese komplexe Geschichte möglichst anschaulich zu erzählen.

Die Ausstellung ist unserem verstorbenen Kollegen Alex Dancyg gewidmet. Und durch diese Widmung finden sehr schmerzhaft gegenwärtige Entwicklungen Eingang in dieses Projekt.
Alex Dancyg wurde 1948 in Warschau geboren. 1957 verließ er mit seiner Familie Polen und begann ein neues Leben in einem Kibbuz in Israel. Dort arbeitet er als Landwirt und Historiker, war Vermittler für die Geschichte des Holocausts in Yad Vashem und begleitete Jugendgruppen aus Israel auf Reisen nach Polen. Als Kind von Holocaustüberlebenden, deren Familienmitglieder durch die Aktion Reinhardt ermordet worden waren, war er persönlich mit der Geschichte des Holocaust verbunden. Mit seiner jüdischen und polnischen Identität engagierte er sich aktiv im polnisch-jüdisch-israelischen Dialog.
Am 7. Oktober 2023 wurde Alex Dancyg beim Terroranschlag der Hamas auf Israel als Geisel genommen. Am 21. Juli 2024 wurde er offiziell für tot erklärt.
In einem Interview mit den Kolleginnen aus Lublin sprach Alex Dancyg 2021 auch über die Bedeutung dieser besonderen Geschichte der Jüdinnen und Juden im Osten Polens und der Erinnerung an sie. Er beschreibt so auch die Zielsetzung dieses gemeinsamen deutsch-polnischen Projektes über die Geschichte der Aktion Reinhardt und der von ihr betroffenen Menschen:
“Die Familie meines Vaters wurde in Treblinka ermordet. Sie waren im Warschauer Ghetto. Ich erinnere mich nicht einmal mehr an alle Namen. Ich habe keine Bilder von ihnen. Mir blieb nichts.
Aber ich wäre dumm, ginge ich nach Treblinka, um mehr über meinen Großvater zu erfahren. Er wurde nicht in Treblinka geboren. Er wurde dort umgebracht.
Eine ganze jüdische Kultur wurde in Treblinka vernichtet. Eine wichtige, große Kultur starb dort. Es war die Kultur der Jüdinnen und Juden Europas. Die meisten von ihnen lebten in Osteuropa, in Polen. Ihre Kultur war komplex und reich. Doch sie war nicht nur schön. Nicht alle waren Maler oder Dichter. Manche waren Zuhälter oder Prostituierte. Sie starben zusammen. Sie verschwanden gemeinsam.
Nichts kann sie zurück ins Leben holen. Wir können Filme machen, Bücher und Dissertationen schreiben, und das sollten wir auch. Doch wir müssen auch über das reden, was hier verschwand, und wie es unterging. Das ist die Dimension, die wir irgendwie erreichen müssen - dieses Leben, das 800 Jahre lang auf polnischem Territorium existierte.”
Autor:

Dr. Matthias Haß
stellvertretender Direktor und Leiter der Abteilung Bildung und Forschung
(030) 2179986-20