Kapitel 2. Und einen recht schönen verdorbenen Magen
Trankskript:
Erna Stahl, Fritz’ Lehrerin an der Lichtwarkschule, wird 1935 an eine andere Schule strafversetzt. Sie bleibt mit vielen ihrer Schülerinnen und Schüler auch danach in Kontakt. Fritz schreibt Erna Stahl zwei Wochen nach seiner Ankunft in New York einen mehrseitigen Brief. Er zeugt von der tiefen Verbundenheit, die viele Lichtwark-Schüler zu Erna Stahl hatten. Aus späteren Briefwechseln zwischen Fritz’ bestem Freund Herbert Meinke und Erna Stahl geht hervor, dass Erna Stahl genaue Kenntnisse von der Ermordung der Jüdinnen und Juden aus Kiew und den Ghettos im besetzten Polen hat. Sie kommentiert auch die Deportation der Hamburger Jüdinnen und Juden. Erna Stahl wird am 4. Dezember 1943 von der Gestapo festgenommen. Sie kommt in verschiedene Haftanstalten. In Bayreuth sollte ihr am 17. April 1945 der Prozess unter anderem wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ und „Verseuchung der Jugend“ gemacht werden. Am 14. April 1945 wird sie allerdings von amerikanischen Truppen befreit und kehrt anschließend zurück nach Hamburg, wo sie wieder als Lehrerin tätig wird.
New York, 19. Mai, 1938.
Liebes Fräulein Stahl, 16 Tage bin ich nun hier und ich weiß nicht, ob ich “schon” oder “erst” sagen soll, denn in dieser Zeit habe ich so viel erlebt und so viele Eindrücke gehabt, dass es mir vorkommt, als sei ich viel länger hier. Andererseits spielen die paar Tage ja gar keine Rolle wenn man bedenkt, dass ich doch wohl Jahrzehnte hier in den Staaten verbringen werde. Die ersten Eindrücke aber sind so zahlreich, dass sie die Zeit dehnen, denn normalerweise erlebt man ja in einer Zeitspanne von zwei Wochen lange nicht so viel, wie ich es bisher hier getan habe. Da sind die ersten Eindrücke von Dingen, die “anders” sind, als man es bisher gewohnt war, und die einem nach einigen Tagen als selbstverständlich vorkommen. So löst man sich hier z.B. bei Antritt der Fahrt mit einer Untergrundbahn keine Fahrkarte, sondern wirft an der Sperre die Geldstücke, die den Fahrpreis ausmachen, in einen Topf und geht dann auf den Bahnsteig. Bei diesem Topf sitzt ein Mann und – nein, er passt nun nicht auf, ob auch ja keiner die Gesellschaft beschummelt, wir sind hier nämlich nicht in Deutschland – liest seine Zeitung oder guckt kaugummikauend irgendwo hin, nur meistens nicht auf die Geldstücke. Keinem New Yorker wird es einfallen, zu wenig hineinzuwerfen, auch nicht, wenn der Aufpasser ganz fehlen würde. In Kleinigkeiten ist die Ehrlichkeit hier wirklich, ganz entgegengesetzt zu dem, was man drüben aus Erzählungen usw. erfährt, groß. Die Untergrundbahnen sind überhaupt ein Kapitel für sich. Erstmal haben die ein Tempo, wie drüben nicht mal der fliegende Hamburger. Übrigens habe ich neulich irgendwo stolz von diesem Zug erzählt und den Namen mit “flying Hamburger” übersetzt und war sehr erstaunt, als alle Anwesenden zu lachen anfingen. Ich musste mir dann erst erklären lassen, dass “Hamburger” hier das ist, was man drüben mit “deutschem Beafsteak” bezeichnet und die Zuhörer nun die Vorstellung von so einem fliegenden Stück Fleisch zu komisch fanden. [...]
Im September 1945 wird Erna Stahl die Schulleitung für die Oberschule für Mädchen im Alstertal übertragen. Das Schulgebäude wird zu diesem Zeitpunkt allerdings von der britischen Besatzungsmacht genutzt. Aus diesem Grund wendet sich Erna Stahl an die Militärregierung mit der Bitte, das Gebäude zu räumen. Ihr Anliegen wird von der Militärregierung zurückgewiesen. Das Anschreiben verdeutlicht einmal mehr Erna Stahls gesellschaftliches Engagement und ihren Glauben, durch Erziehung zu einem demokratischen Neuanfang beizutragen.
Hamburg, 8. Oktober 45
Sehr geehrter Herr,-
Ich bitte um Verzeihung, dass ich mich persönlich an Sie wende - ich weiß wohl, dass es ein etwas ungewohnter Weg ist, aber ich tue es aus purer Verzweiflung. Hören Sie mir bitte zu. Ich bin die Direktorin eines Mädchengymnasiums, das nicht geöffnet werden kann, weil Ihre Soldaten das Gebäude noch immer besetzen. Dies ist kein Einzelfall, aber es ist besonders schmerzlich. Vor zwei Jahren wurde ich von der Gestapo verhaftet, weil ich des Hochverrats und der Vergiftung der Jugend mit antinazistischen Ideen beschuldigt wurde. [...] Zur Zeit meiner Verhaftung war ich Lehrerin an dieser Schule, deren Direktorin ich nun geworden bin. [...] Durch dieses besondere Schicksal sollte ich nun gute Chancen haben, auf weite Kreise einzuwirken. Gerade jetzt, in dieser Zeit des Übergangs, wäre es so wichtig, einen solchen Einfluss auszuüben. Und wie sehr sehne ich mich danach, nach diesen furchtbaren Jahren im KZ etwas Positives zu tun! Ich kann mir gut vorstellen, dass unsere deutschen Angelegenheiten für Sie eher fern und unwichtig sind. [...] Ich stimme Ihnen durchaus zu, dass Ihre Soldaten gut untergebracht werden müssen, aber andererseits stehen die Einquartierung, der Unterricht und die Einflussnahme auf mehr als 1500 Kinder auf dem Spiel und darüber hinaus die Einflussnahme auf die gesamte Bevölkerung von Fuhlsbüttel. [...]
Mit freundlichen Grüßen Erna Stahl
Aus: “Erna Stahl: Zeugnisse ihres Wirkens im Hamburger Schulwesen nach 1945 und Betrachtungen aus ihrer späteren Lebenszeit : mit einem Beitrag: Erna Stahls Haltung in der Zeit des Nationalsozialismus”, Ursula Meier (Hg.)