Kapitel 5. It can never be fixed again.
Transkript:
Im Juni befindet sich Fritz immer noch in Bad Lippspringe. Der Plan, nach Hamburg zu fahren und seine Schwester Hedwig zu suchen, erzeugt bei ihm Unruhe. Fritz weiß nicht, wie es Hede, wie er sie in seinen Briefen nennt, und ihrer Familie ergangen ist und ob alle überlebt haben.
Deutschland, 14. Juni 45
Liebling,
Ein deprimierender Tag, kalt, bewölkt und dunkel. Auch keine Post. Wir sind alle mit der Besatzungs-Krankheit infiziert, das heißt, man wird unruhig, kann keine 5 Minuten stillsitzen und ist allgemein gereizt und gelangweilt von allem und jedem. Vielleicht kann ich in ein paar Tagen nach Hamburg fahren. Aber sag meinen Eltern noch nichts, es ist noch nicht sicher, und ich will erst einmal dort gewesen sein. Wenn es eine gute Nachricht ist, ist immer Zeit dafür, und wenn es nicht sein sollte, nun, wir werden sehen. [...] Bis später, mein Schatz, und viel Liebe, Küsse und Umarmungen.
Für immer dein, Fritz
Am 16. Juni macht sich Fritz auf den Weg nach Hamburg. Sieben Jahre zuvor sah er sich dazu gezwungen, seine Heimatstadt zu verlassen, um sein Leben zu retten. Nun kommt er als Soldat der Siegermächte zurück – und macht sich auf die Suche nach seiner Schwester.
18. Juni 45
Liebste
Ich habe gerade einen kurzen Brief an die Eltern geschrieben. Die Post ist rausgegangen, und ich wollte ihnen wenigstens einen Eindruck von den wichtigsten Punkten geben. Ich werde später ausführlicher schreiben. Die Dinge sehen nicht ganz so rosig aus, wie ich sie in diesem Brief beschrieben habe, aber warum sollen sich die alten Leute Sorgen machen. Die Hauptsache ist, dass alle am Leben sind, und nur Zeit und reichlich Essen können ihnen über alles andere hinweghelfen. Ich werde Wolfgang noch einige Einzelheiten schreiben. Ich werde ihm auch einen Brief schicken, den Hede an die Eltern geschrieben hat. Aber als ich ihn hinterher durchgelesen habe, habe ich beschlossen, dass es ein zu großer Schock für sie wäre, ihn ohne eine gewisse Vorbereitung zu lesen. Die beiden Mädchen sind furchtbar lieb, und die vier kommen sehr gut miteinander aus. Alles in allem war der Ausflug sehr erfolgreich, auch wenn mein Magen heute etwas im Arsch ist. Aber das ist nur vorübergehend, die Aufregung und die Neuigkeiten waren einfach ein bisschen zu viel. Ich habe auch ein paar Bilder gemacht, die ich schicke, sobald ich sie habe. [...] Ich muss noch an Wolfgang schreiben, also Schatz, bis morgen. Ich bin mit all meiner Liebe,
dein Fritz
Der Brief von Hedwig, dessen Inhalt uns unbekannt ist, scheint Fritz und seinen Bruder Wolfgang besorgt zu haben. Wie soll man den Eltern das Unbegreifliche begreiflich machen? Sind die Erfahrungen der Überlebenden überhaupt zu vermitteln? Und was lösen die Begegnungen mit den Verantwortlichen für Verfolgung und Massenmord bei Fritz aus?
10. August 45
Mein Liebling,
Was für ein Tag. Zuerst die Nachricht, dass der Krieg gegen Japan vielleicht bald zu Ende ist, und dann der ganze Haufen Post, der gestern und heute angekommen ist. [...] Nun, mal sehen, es scheint mir, dass es einiges zu besprechen gibt. Was den Brief von Hede angeht, hier ist meine Seite der Geschichte. Das soll keine Entschuldigung sein, denn ich glaube nicht, dass ich etwas falsch gemacht habe, aber ich möchte, dass du verstehst, was passiert ist. Zuallererst musst du die Umstände verstehen, unter denen ich Hamburg besucht habe. Ich stand unter Zeitdruck, und die Aufregung war so groß, dass wir nicht systematisch vorgehen konnten. Du weißt, wie das ist, man kommt zu nichts Konstruktivem, man redet nur drauflos. Dann hat Hede in letzter Minute beschlossen, einen Brief zu schreiben. Ich bin in aller Eile weggegangen, sie haben mich natürlich nicht gehen lassen, und ich habe den Brief einfach mitgenommen, ohne ihn anzuschauen. Als ich zurückkam, las ich ihn und sah natürlich, dass es unmöglich war, ihn direkt an meine Eltern zu schicken. Deshalb habe ich ihn an Wolfgang geschickt und ihm überlassen, ob er ihn ganz ignorieren oder - was er schließlich getan hat - bestimmte Teile herausnehmen würde. Aber es gibt noch einen anderen, vielleicht noch wichtigeren Aspekt, der für mich schwer zu erklären ist und für euch in den Staaten noch schwerer zu verstehen ist. Siehst du, Schatz, wenn man in Gefahr oder im Elend oder in irgendeinem anderen Extremzustand lebt, gewöhnt man sich irgendwie daran, oder zumindest verliert es den größten Teil der Wirkung, die es auf Außenstehende hat. [...] Wenn Hede über ihre Erlebnisse schreibt, kann sie sich nicht vorstellen, welche Wirkung es auf Leute wie euch haben könnte, schon gar nicht auf Mutter. Obwohl sie Mutters Mentalität kennt, konnte sie nicht wissen, wie es Mutter heute geht - in der kurzen Zeit konnte ich nur die Höhepunkte der letzten 7 Jahre schildern - und vielleicht brachte es ihr ein wenig Erleichterung, darüber zu schreiben. Man muss all diese Schrecken hautnah miterlebt haben, die schrecklichen Bombenangriffe, die ständige Angst vor der Gestapo und all das andere unbeschreibliche Elend. Ich weiß ein wenig, aber nur einen Bruchteil, was es bedeutet, das alles zu erleben. Zur Zeit sehe ich die Beweise gegen diese Nazischweine, ich spreche jeden Tag mit diesen Verbrechern, mit Gestapo-Männern, KZ-Aufsehern - die weiblichen sind die schlimmsten - mit Nazi-Bonzen und all den anderen dreckigen Bastarden, und ich versichere dir, es gibt kein Volk wie die Deutschen, eine so seltsame Kombination von Dummheit, Einfallsreichtum und Verbrechen. [...] Die Nazis haben so viel angerichtet, direkt und indirekt, das kann nie wieder in Ordnung gebracht werden. [...] Liebling, ich liebe dich so sehr! Mehr morgen.
In Liebe, Fritz
Neben dem täglichen Umgang mit Täterinnen und Tätern erfährt Fritz in Deutschland auch mehr über das, was Überlebende der Verfolgung erleiden mussten – nicht nur aus den Erzählungen seiner eigenen Familie. In einem Brief vom 27. August 1945 berichtet er seiner Frau von der Begegnung mit tschechischen und ungarischen Jüdinnen aus Auschwitz. Dabei wird ihm auch die eigene Hilflosigkeit bewusst. Wie kann man nach dem, was geschehen ist, ein neues Leben beginnen?
Berlin, 27. August 45
Liebste,
Vielen Dank für deine Briefe vom 12., 16. und 20. August. Es war eine Erleichterung nach drei Tagen wieder Post zu bekommen. [...] Du weißt, mein Schatz, dass die Bilder von dir in dem weißen Kleid die besten sind, die ich habe. Sie sind wunderbar. Wenn ich irgendwo einen Job haben werde, stelle ich sie auf meinen Schreibtisch. OK? Ich habe noch eine schwierige Aufgabe vor mir. Als wir in Bad Lippspringe waren, sind wir einmal rübergefahren zu einem kleinen Ort in der Nähe, ich weiß nicht, ob ich dir jemals davon erzählt habe, wo einige Leute einquartiert waren, meistens Mädchen, die gerade aus einem Zwangsarbeitslager entlassen worden waren. Es waren tschechische und ungarische Juden, die ursprünglich zur Vernichtung nach Auschwitz geschickt worden waren, dann aber als Zwangsarbeiter in einer Rüstungsfabrik eingesetzt wurden. Sie befanden sich alle in einem schrecklichen Zustand, unterernährt und misshandelt. Wir gaben ihnen etwas zu essen, einen Teil unserer Rationen, luden sie zum Abendessen zu uns ein und versuchten im Allgemeinen - da sie die ersten tatsächlichen Opfer waren, mit denen wir Kontakt hatten -, nett zu ihnen zu sein. Einige von ihnen haben uns jetzt geschrieben - ich habe vor kurzem einen Brief bekommen - und uns um Rat gefragt, was sie tun sollen, ob sie nach Ungarn oder nach Amerika gehen oder wie sie ein neues Leben beginnen sollen. Ich muss diesen Brief beantworten, aber ich weiß nicht, was ich tun oder sagen soll. Irgendwie bin ich scheinbar ein väterlicher Typ, denn warum sollten sie mich sonst um Hilfe bitten. Und das Schlimmste daran ist, dass ich nichts tun kann oder ihnen mit nichts helfen kann, außer mit ein paar billigen Ratschlägen. Ich fühle mich schlecht dabei, aber ich habe nichts anderes zu bieten. Nun, ich werde mir etwas einfallen lassen. Es mag egoistisch sein, aber das Wichtigste für mich ist, zu dir zurückzukehren. Kann ich etwas dafür, wenn ich dich so sehr liebe?
Für immer und ewig dein Fritz