Kapitel 6. Wo sind wir?
Transkript:
Charles Gregor, ebenfalls First Sergeant in der Mobile Field Interrogation Unit Number 2, schildert in den USA lebenden deutschsprachigen Jüdinnen und Juden seine Erfahrungen aus Deutschland. Er beschreibt eindrücklich den Widerspruch zwischen seiner Wahrnehmung von Berlin und dessen Bewohnerinnen und Bewohnern auf der einen Seite und dem Wissen um die NS-Verbrechen auf der anderen. Sein Bericht wird am 17. August 1945 in der in New York herausgegebenen Exil-Zeitschrift „Aufbau“ abgedruckt:
Fahrt durch Berlin
Aus einem Brief von Master Sergeant Charles Gregor
In einem Brief aus Berlin vom 14. Juli, der auf einem Briefbogen aus feinstem Elfenbeinpapier mit eingeprägtem Hakenkreuzemblem und den goldenen Lettern „Der Führer“ geschrieben ist, teilt uns Master Sergeant Charles Gregor folgende Beobachtung und Eindrücke aus der deutschen Hauptstadt mit:
„Ich gehöre zum Hauptquartier des Berliner Distrikts und war einer der ersten G.I.‘s, die die deutsche Hauptstadt betraten. Hitlers privates Briefpapier ist daher wohl der richtige Hintergrund für meinen kleinen Bericht.
Ich bin einquartiert am Wannsee in Himmlers Gästehaus und genieße in vollen Zügen diese schöne Besitzung. Wannsee ist noch in ziemlich guter Verfassung […]
Während wir die breiten Straßen hinunterwandeln, scharwenzeln die Leute um uns herum, winken oder lächeln uns zu. Kinder grüßen. Wo sind wir? Im befreiten Paris oder im eroberten Berlin? Gutaussehende, tadellos angezogene Blondinen lächeln uns an, und wir versuchen hart dreinzuschauen, uns an Buchenwald und Dachau zu erinnern… [...]
Die Kinos und einige Theater sind offen und überfüllt. Mit schüchternem und verschämtem Lächeln, das abstoßend wirkt, sucht die Bevölkerung in kriecherischer Weise mit den alliierten Truppen in Kontakt zu kommen. Sie bieten alles und jeden an. Nie zuvor habe ich Churchills berühmtes Wort besser verstanden als jetzt: „Der Hunne springt Dir entweder an die Kehle oder ist zu Deinen Füssen.“
Ein Ausflug in die ehemalige Reichskanzlei wird für Fritz zur unmittelbaren Begegnung mit den Hinterlassenschaften der NS-Diktatur. Er findet in der Reichskanzlei und auch der Villa am Wannsee unter anderem Briefpapier mit Symbolen des NS-Regimes, auf dem er an seine Frau schreibt. Die Aneignung der Zeichen der besiegten Macht schaffen einen Berührungspunkt zwischen der erlebten Verfolgung durch das NS-Regime und dem Sieg der Alliierten über Deutschland.
9. Juli 45
Liebling,
Heute hatte ich ein sehr schönes Erlebnis, das mir viel Freude bereitet hat. Ich bin nach Berlin gefahren, um mir die Stadt anzusehen, und habe einen Zwischenstopp in der Reichskanzlei gemacht. Neben vielen anderen Räumen stieß ich auf Hitlers Arbeitszimmer, das anscheinend nur wenige Menschen gefunden hatten, denn es gab eine Menge Souvenirs, darunter dieses Briefpapier. Ich habe noch viele andere Dinge gefunden, die ich verschiedenen Familienmitgliedern zukommen lassen werde. Es gibt zwei Bilder von Hitler mit seiner Unterschrift, und sie könnten recht wertvoll werden. Meine Mutter wird eines bekommen. Diese Bilder sollten aufbewahrt werden, denn sie haben einen Wert, glaube ich. Ansonsten ist Berlin ein einziger, unglaublicher Trümmerhaufen, so viel Zerstörung habe ich noch nie gesehen. Aber das Leben geht weiter. [...] Auf der anderen Seite aber sieht der einzelne russische Soldat aus wie die Hölle und nimmt sich alles, was er in die Finger kriegt. Das kann man ihm freilich verübeln. Wir sind sicher keine Engel, aber so schlimm sind wir nicht. Vielleicht habe ich morgen Post. Bis dann, mein Schatz. In aller Liebe für dich und Michael,
dein Fritz
Einmal den Wert der Funde erkannt, entsteht ein Tauschhandel der ergatterten „Souvenirs“ unter den „boys“:
Berlin-Wannsee, 12. Juli 45
Liebling [...]
Wie gefällt dir dieses Briefpapier? Es ist mal wieder etwas anderes, und designtechnisch und handwerklich gesehen hervorragende Arbeit. Nun ja, dieser Son of a Bitch hatte sicherlich das Geld und die Macht, sich das Beste von allem zu holen, und das auf Kosten anderer. Liebste, du und meine Mutter haben wahrscheinlich schon die beiden handsignierten Bilder von Hitler erhalten. Nun, einer der Jungs hier will unbedingt eines davon haben, und er hat einen Brief von Himmler gefunden, den er mir für eines der Bilder geben will. Ich werde dich deshalb wohl bitten, ein Bild an seine Frau zu schicken. Aber dazu bald mehr. [...]
Das war's für heute. Mit viel Liebe, Küssen und Umarmungen, ich bin dein allein, Fritz
Für die Einwohnerinnen und Einwohner Berlins gibt es bald auch wieder kulturelle Angebote. Die Berliner Philharmoniker spielen bereits am 26. Mai 1945 im Titania-Palast ein erstes Konzert. Der russisch-deutsche Dirigent Leo Borchard präsentiert zu Beginn Werke aus der deutschen Klassik sowie der russischen Spätromantik. Wie kann ein Konzert mit dem kriegszerstörten Zustand der Stadt sowie einer an NS-Verbrechen beteiligten Gesellschaft in Einklang gebracht werden?
15 Juli 45
Liebste Lucia, [...]
Ich komme gerade vom Konzert zurück. Das Orchester ist nur noch ein Schatten seiner selbst, was die Größe und die Qualität der Darbietung angeht, aber es war trotzdem schön. Sie spielten die Ouvertüre zu „Oberon“, die „Romeo und Julia“-Suite und die „Neue Welt“-Sinfonie. Der Platz neben mir war in mehr als einer Hinsicht leer, Liebling, ich habe dich so vermisst! In der Pause fiel mir etwas auf, das so typisch für die heutigen Verhältnisse in Berlin war. Draußen im Foyer standen zwei sehr vornehm aussehende Herren, die sich gerade miteinander unterhielten. Als die Glocke läutete und die Leute zurück zu ihren Plätzen rief, warteten sie, bis alle das Foyer verlassen hatten, und dann bückten sie sich, um die Zigarettenstummel aufzuheben, die die alliierten Soldaten, die das Konzert besuchten, fallen gelassen hatten. Ich konnte das beobachten, weil ich zu den letzten gehörte, die ins Theater zurückgingen. [...]
Mit herzlichen Grüßen an dich und Michael, dein Fritz
Mitte Juli erzählt Fritz erstmalig von seinem neuen Arbeitsplatz. Der Brief lässt erahnen welche Aufgaben zu seinem Arbeitsalltag gehören.
Berlin, 18. Juli 45
Liebling,
Ich habe gestern Abend nicht geschrieben, ich fühlte mich sehr traurig und einsam, und das ist ein schlechter Zeitpunkt zum Schreiben. [...] Unsere neue Arbeitsstelle ist sehr aufwendig ausgestattet. Ich habe ein Büro [...], ein Foto-Labor, ein Verhörzimmer und ein angrenzendes Büro mit meiner ganzen Zeichenausrüstung. Alles, was ich jetzt noch brauche, ist eine Sekretärin. Willst du dich bewerben, Liebling? Du bist angenommen. Mit vielen Grüßen,
dein Fritz
Im Verhörzentrum werden im Sommer 1945 nicht nur hochrangige Kriegsverbrecher befragt, viele kleine Beamtinnen und Beamte werden hier durchleuchtet und Zeugenaussagen aufgenommen. Die Einheit hat viel zu tun und auch Fritz scheint unter der Last seiner Aufgaben zu leiden.
Berlin, 31. Juli 1945
Liebling,
Wie wär's mal wieder mit einem anständigen Briefpapier? [...] Wir sind wieder mit Arbeit überhäuft, und irgendwie hat man keine Lust mehr zu arbeiten. Für mich zählt nichts, außer nach Hause zu kommen, zu dir und Michael. Je früher, desto besser. Die Show von Bob Hope ist heute in Berlin, aber ich glaube nicht, dass ich dazu komme, sie zu sehen. Stattdessen muss ich mich mit Kriegsverbrechern herumstreiten. Es regnet und ich bin sehr schlecht gelaunt. Ich habe Lust, einer Fliege die Flügel auszureißen. Liebling, zum Teufel mit dem Krieg, lass uns in den Sommerurlaub fahren, irgendwo hin, nur weg von Uniformen, Reglementierungen und Leuten, die du nicht magst und mit denen du klarkommen musst.
Ich liebe dich!
Wie immer dein Fritz
In ähnlichem Ton schreibt er auch weiterhin, das Heimweh zerrt an ihm:
Berlin, 1. August 45
Mein Liebling,
Ich bin im Moment so müde, dass ich kaum meinen eigenen Namen schreiben kann. Wir sind wirklich mit Arbeit überhäuft, und die Art von Fällen, die wir jetzt bearbeiten, erfordert viel Konzentration und eine detaillierte Ermittlung. [...] Liebling, jeden Tag möchte ich mehr denn je zu Hause sein. Ich glaube, ich halte es hier nicht mehr lange aus, ich habe genug! Was ist das für ein Leben, weg von Frau und Kind? Aber ich will dich nicht traurig machen, es ist schon schlimm genug, wenn ich mich heute Abend schlecht fühle. Was kann ich machen, wenn ich dich so sehr liebe?
Mit einem dicken Kuss für dich und Michael,
Für immer dein Fritz
Ein Lichtblick während der herausfordernden Zeit sind die Besuche von Konzerten oder dem Theater, welche unmittelbar mit Kriegsende von der sowjetischen Besatzungsmacht wieder ermöglicht werden. Auch im US-Sektor wird das Hebbel-Theater in der Stresemannstraße bespielt. Hier findet Fritz vertraute Stücke wieder wie „Die Dreigroschenoper“ von Bertolt Brecht und Elisabeth Hauptmann, einer der größten Theater-Erfolge aus der Weimarer Republik:
Berlin, 17. August 45
Mein Liebling, [...]
Wir sind nach Berlin gefahren, und hatten das Glück, Karten für das Theater zu bekommen. Wir sahen die bekannte und lange vermisste „Dreigroschenoper“ (beggar’s opera). Es war eine gute Aufführung, wenn man bedenkt, unter welchen physischen Schwierigkeiten sie gearbeitet haben. Ein Teil des Daches und der Wände fehlte, und deshalb war es ein wenig zugig, aber wen kümmert das schon. [...] Ich freue mich schon auf die Zeit, in der wir an unserem Album mit Fotos und Souvenirs arbeiten werden, wahrscheinlich auf dem ganzen Boden ausgebreitet, während Michael auf uns herumkrabbelt.
Liebling, ich liebe dich,
In Liebe,
Fritz