Forschen
Die frühe Forschung ist bemüht, ein eigenes Bild des Holocaust zu zeichnen, das nicht von der Perspektive derjenigen geprägt ist, die die Verbrechen begangen haben. Sie will Beweismaterial für spätere juristische Verfahren sammeln und das Andenken an die zahllosen Toten und die vernichtete jüdische Kultur bewahren.
Viele Betroffene beginnen schon während der Zeit der Verfolgung, das Geschehen zu dokumentieren, weil das Ausmaß der Gewalt alle Verbrechen in der Menschheitsgeschichte übertrifft. Einige Menschen in den Ghettos halten ihre Erlebnisse in Tagebüchern fest. Es bilden sich Gruppen, um die Verfolgungsmaßnahmen und das Leiden systematisch zu dokumentieren. Die Mitglieder arbeiten im Geheimen und unter schwierigen Bedingungen.
Nach der Befreiung schließen sich Überlebende in historischen Kommissionen zusammen, um ihre Dokumentationsarbeit fortzusetzen. Nicht allein das Ausmaß der Katastrophe stellt eine Herausforderung für sie dar. Auch die schlechte Quellenlage und der fortdauernde Antisemitismus in ihren Herkunftsländern behindern die Recherchen. Nicht zuletzt müssen sich die Forschenden ganz praktischen Problemen stellen: Worauf und womit sollen Erinnerungsberichte notiert werden, wenn es weder Papier noch Stifte gibt?
Die Kommissionen organisieren aber auch Expeditionen zu den ehemaligen Lagern und tragen Dokumente zusammen. Der Umfang der hierbei gewonnenen Erkenntnisse ist davon abhängig, wie erfolgreich die Täter ihre Akten vernichtet und ihre Spuren verwischt haben.
In vielen Nachkriegsprozessen haben jüdische Überlebende keine Stimme, sie werden nicht gehört. Außerhalb der jüdischen Gemeinschaften besteht kaum Interesse am Holocaust. Dies bestärkt die erste Generation der Holocaustforschung in ihren Anstrengungen: Sie wollen, dass die Perspektive der Opfer auch vor Gericht stärker berücksichtigt wird.
Jüdische Forscherinnen und Forscher sammeln noch während des Krieges eine Vielzahl an Quellen über den Holocaust. In historischen Kommissionen sichern sie auch nach 1945 Beweise und treiben die Aufklärung voran. Es entstehen Archive, Forschungsstellen, Publikationen und Zeitschriftenreihen. Auf diese Weise etablieren sie die Holocaustforschung langsam als akademische Disziplin. Die breiten Materialbestände bilden das Fundament für bedeutsame Institutionen, die der Erinnerung, Erforschung und Dokumentation des Völkermords gewidmet sind.
In Polen wird die Tätigkeit der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission 1947 in das neu gegründete Jüdische Historische Institut in Warschau überführt. Das Untergrundarchiv Oyneg Shabes ist der zentrale Quellenbestand. Bis heute gilt das Institut als wichtigste Forschungseinrichtung zur jüdischen Geschichte in Polen.
Auch in Israel entstehen neben Orten der Erinnerung Dokumentations- und Forschungsstellen: 1949 gründen Holocaustüberlebende – unter ihnen Kämpfende des Warschauer Ghettoaufstands – das Ghetto Fighters’ House. Es dokumentiert jüdisches Leben in Europa vor dem Holocaust sowie die antisemitische Verfolgung. Dabei bildet der jüdische Widerstand in Ghettos und Lagern einen Schwerpunkt. Die 1953 in Jerusalem gegründete staatliche Gedenkstätte Yad Vashem stellt die Erinnerung an Einzelschicksale in den Vordergrund. Ihr Archiv beherbergt heute die weltweit umfangreichste Quellensammlung zum Holocaust. Mit der Gründung der International School for Holocaust Studies existiert seit 1993 auch eine pädagogische Abteilung, die für Lehrkräfte aus aller Welt Fortbildungen anbietet und Unterrichtsmaterialien entwickelt.
In Amsterdam gründen Alfred Wiener und David Cohen bereits 1933, zunächst als Jewish Central Information Office, die Wiener Library. Dort werden Informationen über die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland gesammelt. 1939 werden die Bestände nach London verlegt und nach 1945 in eine Forschungseinrichtung mit öffentlicher Bibliothek umgewandelt. Die dortige Dokumentensammlung liefert wichtige Grundlagen für die Anklagen der Nürnberger Prozesse. Heute umfasst die Sammlung insgesamt über eine Millionen Artikel, Zeitungsausschnitte, Fotos und Zeugnisse Betroffener.