80 Jahre Krieg im Westen: Léon Poliakovs kurzes Soldatenleben
Am 10. Mai 1940, vor 80 Jahren, beginnt der deutsche Angriff im Westen. Léon Poliakov gerät als Soldat der französischen Armee in deutsche Gefangenschaft, kann fliehen und schließt sich dem Widerstand an. Der Historiker und Pionier der Holocaustforschung schildert in seinen Memoiren eigentümlich beschwingt die ersten Kriegsmonate.
Léon Poliakov und Joseph Wulf tragen durch ihre (teils gemeinsamen) frühen Quellenpublikationen und Arbeiten wesentlich zu den Grundlagen der Holocaustforschung bei. Beide sind in unserer Sonderausstellung „Verfolgen und Aufklären“ als Pioniere der Holocaustforschung entsprechend geehrt. Die in der Ausstellung vorgestellten Waffen der Historikerinnen und Historiker im Kampf um Verfolgung und Aufklärung, nämlich Wort und Papier, werden einzig und allein bei Poliakov durch eine echte Kriegswaffe ergänzt: Auf einem Bild von 1939 posiert er als Soldat mit zwei Kameraden, in Uniform und mit Gewehr.
Das Bataillon, dem Poliakov angehört, soll sich Anfang Juni 1940 auf dem Rückzug mit englischen Soldaten in der Normandie einschiffen. Das misslingt. „Den ganzen Tag des 12. Juni kämpfte unser Bataillon weiter. Die Deutschen ließen ihre schweren Panzer vorrücken. Schließlich ließ uns Hauptmann Andrès antreten und erklärte: ‚Kinder, unsere Division hat gestern Abend kapituliert. Ich hatte die Genehmigung verlangt, ein Ehrengefecht von 24 Stunden zu führen. Jetzt, da wir unsere Ehre gerettet haben, werden wir uns ergeben.’ Da ich deutsch sprach, schickte man mich vor, um die Kapitulation zu verhandeln.“
"Unsere Gefangenschaft hatte sich zum Possenspiel entwickelt"
Poliakov, in St. Petersburg geboren, ist 1921-1924 in Berlin zuhause und besucht die Wilmersdorfer Goethe-Schule. Als er 1939 in Paris eingezogen wird, gilt er als russischstämmiger Staatenloser. Er stellt als französischer Soldat sofort einen Antrag auf Einbürgerung, doch weil er jüdisch ist, bleibt der Antrag in Vichy-Frankreich später ohne Erfolg. Im Juni 1945 macht Poliakov in einem Schreiben an die französischen Behörden auf die antisemitische Einbürgerungspraxis aufmerksam: „Aus dem Kriegsgefangenenlager ausgebrochen, floh ich 1941 in die ‚freie Zone’. An Einbürgerung zu denken, war für mich als Nicht-Arier von da an zwecklos. [...] Da ich Jude bin, bin ich nicht eingebürgert worden (alle arischen staatenlosen Kameraden meines Rekrutenjahrgangs wurden es).“
Dass Poliakov nach kurzer Zeit Anfang August 1940 aus der Gefangenschaft entkommen kann, verdankt er auch einem ihm zugewandten Deutschen, dem Offizier Werner Rohr, unter dessen Aufsicht er erbeuteten britischen Nachschub inventarisiert. „Im Zivilberuf Kolonialwarenhändler in Leipzig war Rohr dick, jovial und ein Lebemann.“ Aus dem britischen Inventar stahl Rohr „mit sportlichem Eifer, leidenschaftlich und schamlos. Bei dieser Aufgabe war ihm der Beitrag der quasi von Berufs wegen diskreten Gefangenen von großem Nutzen. [...] Rohr lebte und ließ leben. Um ehrlich zu sein fiel auch für uns von diesem Raub etwas ab.“
Rohr gegenüber verschweigt er zunächst, dass er Jude ist. „Wie es eigentlich gekommen sei, dass ich als Russe von der französischen Armee eingezogen wurde, fragte mich Rohr [...]. Ich wetterte gegen den Kommunismus. [...] Ich erzählte, dass mein Vater Kammerherr bei Nikolaus II. gewesen sei und dass meine Mutter aus einem livionischen Rittergeschlecht stammte... Ich frage mich noch immer, ob Rohr das glaubte. Aber als ich auch noch vorgab, Rennwagen gefahren zu sein, wurde ich am nächsten Tage Hilfsmechaniker [...]. Ich hatte glücklicherweise kaum Gelegenheit, mich einem Motor zu nähern.“
Erich, so erinnert sich Poliakov, ist der älteste deutsche Soldat, mit dem er in der kurzen Gefangenschaft regelmäßig Bridge spielt. „Erich vertraute sich mir eines Abends an: Der Triumph Hitlers schien ihm nichts Gutes zu bedeuten, die Dinge würden sich in spätestens zwei Jahren zum Schlechteren für Deutschland wenden. All das war vollkommen unglaublich. Unsere Gefangenschaft hatte sich zum Possenspiel entwickelt.“
Antisemitische Konfrontationen
Dass er Rohr gegenüber verschweigt, jüdisch zu sein, ist auch das Ergebnis von antisemitischen Konfrontationen mit deutschen Soldaten. Zunächst macht er gegenüber seinen deutschen Aufsehern kein Geheimnis daraus, „bis zu dem Tag, als ein Wachposten mir antwortet: ‚Warum erzählst du mir das? Wäre ich Jude, würde ich eher vor Scham sterben als es zuzugeben.’ Von diesem Tag an, so entschied unsere Clique, würde ich in unser aller Interesse sagen, ich sei schlicht und einfach Russe.“
Er berichtet von einem weiteren Antisemiten, dem „brutalen sudetendeutschen Soldaten, Unteroffizier Hieke. Er stellte in höchster Vollendung den Typus eines preußischen Unteroffiziers dar. Die Realität, mit der ich konfrontiert wurde, entsprach voll und ganz dem Ruf der Deutschen: Hieke war genauso bösartig wie dumm. Besonderes Kennzeichen: Er gefiel sich in endlosen belehrenden Ansprachen und so hörte ich etwa, wie er sich am Tag nach seiner Ankunft damit brüstete, einen untrüglichen Sinn für das Identifizieren von Juden zu haben: ‚Die erkenn ich beim Mundwerk! Meckerer sind die, anders als mit dem Mundwerk sind die unfähig zu arbeiten.’“
Anfang August 1940 soll Offizier Rohr versetzt werden. Er weiß inzwischen, dass Poliakov jüdisch ist. „Er schlug uns, den Juden, vor, bei ihm zu bleiben (‚Bei mir seid ihr besser aufgehoben als bei der SS’) oder uns auf dem Weg in Paris abzusetzen – wie wir wollten. Wir wählten selbstverständlich die Freiheit.“ Léon Poliakov lebt und überlebt vier Jahre im französischen Widerstand. Beständig ist er in dieser Zeit an der Rettung von Jüdinnen und Juden beteiligt. Diese bemerkenswerte Geschichte erzählt er in seinen (seit 2019 endlich auch in deutscher Übersetzung vorliegenden) „Memoiren eines Davongekommenen“.
Krieg und Besatzung im Westen und der Mord an den europäischen Jüdinnen und Juden – weitere Informationen
Die deutsche Besetzung der Niederlande, Belgiens, Luxemburgs und Frankreichs vor 80 Jahren führt nach der Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 zu Deportation und Mord an hunderttausenden in Westeuropa lebenden Jüdinnen und Juden in den deutschen Vernichtungslagern. Zuvor kommt es durch Krieg und Besatzung im Westen aber zu einer Verschleppung in die entgegengesetzte Richtung: Im Oktober 1940 werden Jüdinnen und Juden aus Südwestdeutschland und aus Elsaß-Lothringen ins südfranzösische Lager Gurs deportiert. An dieses Verbrechen erinnern die drei Bundesländer, auf deren heutigen Territorien es damals stattfand: Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und das Saarland. Gemeinsam mit unserer Gedenk- und Bildungsstätte wird derzeit eine Ausstellung erarbeitet, die im Oktober 2020 zum 80. Jahrestag der Deportationen die Geschichte dieser eher unbekannten Verschleppungen ins Bewusstsein rufen soll. „Die Deportationen nach Gurs stellten einen Testfall für die systematische Deportation in die Vernichtungslager dar, die im Oktober 1941 begannen und auch Gegenstand der Wannsee-Konferenz waren“, so unser Direktor, Dr. Hans-Christian Jasch.