Grafik: Sylvain Mazas
Grafik: Sylvain Mazas

Unser deutsch-russisches Kooperationsprojekt "An Unrecht erinnern. Auf den Spuren sowjetischer Kriegsgefangener" ist online

In den vergangenen zweieinhalb Jahren haben wir in Zusammenarbeit mit Memorial International Moskau und einer ganzen Reihe von weiteren Gedenkstätten und Museen eine zweisprachige Online-Ausstellung entwickelt, die sich vor allem an Jugendliche richtet und zum Mitmachen einlädt. Ein herzlicher Dank geht dafür an die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft, die das Projekt in ihrem Programm "Zwangsarbeit und vergessenen Opfer" gefördert hat!

von Dr. Ruth Preusse, wissenschaftliche Mitarbeiterin unserer Bildungsabteilung 

Die sowjetischen Kriegsgefangenen, von denen etwa 3,3 Millionen in deutscher Gefangenschaft starben, fielen der rassistischen NS-Politik zum Opfer. Aber im öffentlichen Gedenken an die begangenen Verbrechen spielen sie in Deutschland bis heute kaum eine Rolle. Und auch in ihren Heimatländern, Russland und den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, wird Kriegsgefangenschaft immer noch weitgehend tabuisiert: Die Kriegsteilnehmer*innen sollen als siegreiche Helden erinnert werden. Die Geschichten der gefangenen Rotarmist*innen eignen sich dafür nicht.

"An Unrecht erinnern" soll daher Menschen ohne große historische Vorkenntnisse mit dem Thema vertraut machen und zum Nachdenken über den Umgang mit dieser Geschichte in Deutschland (BRD und DDR), der Sowjetunion und den post-sowjetischen Staaten anregen. Dafür haben wir einen kurzen Intro-Film produziert, der einen Überblick über das historische Geschehen und die wesentlichen Fragestellungen der Ausstellung bietet. Die eindrücklichen und klugen Animationen des Illustrators und Grafik-Designers Sylvain Mazas, der auch die Gestaltung der Webseite übernommen hat, machen es möglich, Grausamkeit und Gewalt zu erkennen, ohne sie explizit zu zeigen.

Auswahl der Inhalte

Das Thema ist komplex, zumal für Menschen, die sich nicht mit den Dienstvorschriften der Wehrmacht und anderen militärischen Spezifika auskennen. Für die anvisierte Zielgruppe mussten Inhalte also deutlich reduziert werden, ohne dass ein unvollständiges oder falsches Bild entsteht.

Da die Arbeit mit Biografien erfahrungsgemäß besonders geeignet ist, (junge) Menschen zu interessieren, sollte hier eine zielgerichtete Auswahl getroffen werden: Um auch über den späteren Umgang mit dieser Geschichte sprechen zu können, wollten wir erstens Überlebende finden (Männer und Frauen), die in irgendeiner Form selbst über die Gefangenschaft und die Zeit nach ihrer Rückkehr in die Sowjetunion berichtet haben. Diese Menschen sollten zweitens nach ihrer Gefangennahme zur Zwangsarbeit nach Deutschland gebracht worden sein, damit deutsche Nutzer*innen geografische Anknüpfungspunkte finden können. Und drittens sollten die geschilderten Erlebnisse eindeutig zu verorten und möglichst auch zu bebildern sein.

Im Mai 2018 besuchten wir unseren Kooperationspartner Memorial International Moskau, um in dessen Archiv nach passenden Biografien zu suchen. Dort wird hauptsächlich Material zu ehemaligen Zwangsarbeiter*innen des GULAG-Systems gesammelt. Anfang der 2000er Jahre wurde die Moskauer Zweigstelle der Menschenrechtsorganisation allerdings unfreiwillig zur Anlaufstelle zahlreicher Überlebender von NS-Unrecht, weil ein Zeitungsartikel den Anschein erweckt hatte, sie könnte bei Entschädigungsforderungen helfen.

Bei der Recherche zeigte sich, dass die Auswahl durch unsere Kriterien nicht einfach sein würde: Die meisten weiblichen Armeeangehörigen waren zum Beispiel nach der Gefangennahme aus der Kriegsgefangenschaft entlassen und als zivile Ostarbeiterinnen zur Zwangsarbeit verschleppt worden. Sie gehörten damit nicht mehr in den Verantwortungsbereich der Wehrmacht. Und: Viele Überlebende erinnerten sich zwar, in Deutschland gewesen zu sein, konnten aber nicht mehr genau benennen, wo. Die häufigen Ortswechsel, dazu Beschilderungen in einer Sprache, die die meisten nicht lesen konnten, führten dazu, dass ihre Erinnerungen an konkrete Ereignisse nicht eindeutig zu lokalisieren waren. Unsere Vorannahmen mussten zum Teil also angepasst werden. Im Ergebnis entschieden wir uns für vier Personen, mit denen die Kolleg*innen von Memorial lebensgeschichtliche Video-Interviews geführt hatten: Olga Golowina, Lew MischtschenkoMichail Botschkarjow und Igor Gurjewitsch.  

Olga Golowina in Uniform, um 1942. Diese Fotografie stammt aus der Sammlung des Klubs „Rote Nelke“ der sowjetischen Schule in Fürstenberg, der sich zu DDR-Zeiten um den Kontakt zu den ehemaligen Gefangenen des KZ Ravensbrück bemühte. (Foto: Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück)
Olga Golowina in Uniform, um 1942. Diese Fotografie stammt aus der Sammlung des Klubs „Rote Nelke“ der sowjetischen Schule in Fürstenberg, der sich zu DDR-Zeiten um den Kontakt zu den ehemaligen Gefangenen des KZ Ravensbrück bemühte. (Foto: Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück)

Weitere Biografien-Recherche

Im nächsten Schritt kontaktierten wir einige Stalag-Gedenkstätten in Deutschland und fragten dort nach passenden Biografien oder Kontakten zu Überlebenden. Besonders nachhaltig entwickelte sich die Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain, dessen Leiter Jens Nagel das Projekt von diesem Zeitpunkt an mit seiner großen Fachkenntnis begleitet und bereichert hat – auch dafür noch einmal vielen Dank! 

Überlebende des Stalags und Lazaretts Zeithain kannten die Kolleg*innen allerdings nicht: Ihre (wichtige!) Arbeit bestand viele Jahre lang aus der Recherche von Namen der dort in Massengräbern verscharrten Toten. Nach heutigem Wissenstand sind es 23.752. 

Durch Zufall fanden wir aber dann doch einen Zeithain-Überlebenden: Der Belarusse Dawid Dodin war 2007 vom Verein KONTAKTE-KOHTAKTbI e.V. angeschrieben worden. Dem Berliner Verein ging es um eine Entschuldigung und symbolische Entschädigung dieser vergessenen NS-Opfer von Seiten der deutschen Zivilgesellschaft, da sich der Staat zu dieser Zeit noch sperrte, das Unrecht an den sowjetischen Kriegsgefangenen überhaupt als solches anzuerkennen. Die Antwortbriefe wurden über Jahre als sogenannte Freitagsbriefe veröffentlicht. Auch Herr Dodin antwortete. Er sprach über seine Arbeit im Lazarett in "Zeitheim" und von einem Interview, dass er (als jüdischer Gefangener) der Shoah Foundation gegeben hatte. Jens Nagel fand dank dieser Hinweise Dodins Personalkarte mit Foto - und die Biografie konnte aufgenommen werden! 

Bald darauf widmeten sich Schüler*innen bei einem Besuch der Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain speziell dieser Lebensgeschichte. Es entstanden Fotografien samt Bildunterschriften, die als Projekt-"Beiträge" in die Online-Ausstellung aufgenommen wurden. Ähnliches geschah in der Gedenkstätte Lager Sandbostel, wo es die damalige Volontärin Ines Dirolf maßgeblich übernahm, mit Jugendlichen Fotomaterial zu erarbeiten, das das Schicksal von Sergej Litwin, einem Überlebenden der Stalags Wietzendorf und Sandbostel, ins Zentrum stellte.

Beiträge zur Biografie Sergej Litwins von Schüler*innen der 10. Klasse der Oste-Hamm-Schule in Gnarrenburg, Projekt "Sowjetische Kriegsgefangene im Stalag Sandbostel", 2019 (Screenshots unrecht-erinnern.info)
Beiträge zur Biografie Sergej Litwins von Schüler*innen der 10. Klasse der Oste-Hamm-Schule in Gnarrenburg, Projekt "Sowjetische Kriegsgefangene im Stalag Sandbostel", 2019 (Screenshots unrecht-erinnern.info)
Beiträge zur Biografie Sergej Litwins von Schüler*innen der 10. Klasse der Oste-Hamm-Schule in Gnarrenburg, Projekt "Sowjetische Kriegsgefangene im Stalag Sandbostel", 2019 (Screenshots unrecht-erinnern.info)
Beiträge zur Biografie Sergej Litwins von Schüler*innen der 10. Klasse der Oste-Hamm-Schule in Gnarrenburg, Projekt "Sowjetische Kriegsgefangene im Stalag Sandbostel", 2019 (Screenshots unrecht-erinnern.info)
Beiträge zur Biografie Sergej Litwins von Schüler*innen der 10. Klasse der Oste-Hamm-Schule in Gnarrenburg, Projekt "Sowjetische Kriegsgefangene im Stalag Sandbostel", 2019 (Screenshots unrecht-erinnern.info)
Beiträge zur Biografie Sergej Litwins von Schüler*innen der 10. Klasse der Oste-Hamm-Schule in Gnarrenburg, Projekt "Sowjetische Kriegsgefangene im Stalag Sandbostel", 2019 (Screenshots unrecht-erinnern.info)
Beiträge zur Biografie Sergej Litwins von Schüler*innen der 10. Klasse der Oste-Hamm-Schule in Gnarrenburg, Projekt "Sowjetische Kriegsgefangene im Stalag Sandbostel", 2019 (Screenshots unrecht-erinnern.info)
Beiträge zur Biografie Sergej Litwins von Schüler*innen der 10. Klasse der Oste-Hamm-Schule in Gnarrenburg, Projekt "Sowjetische Kriegsgefangene im Stalag Sandbostel", 2019 (Screenshots unrecht-erinnern.info)
Beiträge zur Biografie Sergej Litwins von Schüler*innen der 10. Klasse der Oste-Hamm-Schule in Gnarrenburg, Projekt "Sowjetische Kriegsgefangene im Stalag Sandbostel", 2019 (Screenshots unrecht-erinnern.info)
Beiträge zur Biografie Sergej Litwins von Schüler*innen der 10. Klasse der Oste-Hamm-Schule in Gnarrenburg, Projekt "Sowjetische Kriegsgefangene im Stalag Sandbostel", 2019 (Screenshots unrecht-erinnern.info)
Beiträge zur Biografie Sergej Litwins von Schüler*innen der 10. Klasse der Oste-Hamm-Schule in Gnarrenburg, Projekt "Sowjetische Kriegsgefangene im Stalag Sandbostel", 2019 (Screenshots unrecht-erinnern.info)
Beiträge zur Biografie Sergej Litwins von Schüler*innen der 10. Klasse der Oste-Hamm-Schule in Gnarrenburg, Projekt "Sowjetische Kriegsgefangene im Stalag Sandbostel", 2019 (Screenshots unrecht-erinnern.info)

Aus der Gedenkstätte Bergen-Belsen bekamen wir eine weitere Biografie einer Rotarmistin: Die ausgebildete Zahnärztin Antonina Konjakina-Trofimova wurde während ihrer Gefangenschaft als Krankenschwester im Lazarett eingesetzt und kam so mit der dortigen Widerstandsgruppe in Kontakt. Und als vorerst letzten Zeitzeugen entschieden wir uns für Boris Popov, den wir 2019 im Rahmen einer Fortbildung der Geschichtswerkstatt Minsk treffen und selbst interviewen konnten. Herr Popov hat leider den Start unserer Online-Ausstellung nicht mehr erlebt, er starb im Juni 2020 an Covid-19.

Orte und Themen

Neben den Biografien spielen Orte in der Konzeption eine große Rolle. Das Lagersystem der Wehrmacht verteilte sich über das ganze Land – und das sollte auf den ersten Blick erkennbar sein. Außerdem bietet sich als niedrigschwelliger Einstieg in ein neues Thema immer an, den Nutzer*innen einen Bezug in geografischer Nähe zum eigenen Wohnort anzubieten.

Aber auch im russischsprachigen Raum sind die Namen deutscher Stalags durchaus bekannt. Und bisher war es gar nicht so einfach, Informationen auf Russisch zu finden, weil nicht alle Gedenkstätten ihren Online-Auftritt mehrsprachig gestalten (können). Wir hoffen daher, für Geschichtsinteressierte auch an dieser Stelle einen deutlichen Mehrwert bereitzustellen: Es werden Texte zu den Stalags, aber auch zu den heutigen Gedenkorten angeboten.

Viele Begrifflichkeiten und historische Tatsachen müssen erklärt werden. Daher gibt es im Text und als Verlinkung darunter insgesamt 15 "Themen"-Texte, die verständlich und anschaulich bestimmte Aspekte dieser Verfolgungsgeschichte begreifbar machen: Wie war die Rechtslage? Was regelten die Genfer Konventionen? Was ist ein Stalag eigentlich? Welche Ideologie stand hinter den Entscheidungen, die Versorgung der Kriegsgefangenen betreffend? Außerdem verweisen wir auf andere (online-)Projekte und weiterführende Literatur.

Macht mit! (Screenshot unrecht-erinnern.info, Grafik: Sylvain Mazas)
Macht mit! (Screenshot unrecht-erinnern.info, Grafik: Sylvain Mazas)

Unter "Macht mit!" regen wir dazu an, sich im Unterricht oder auch außerschulisch mit den Inhalten zu beschäftigen. Drei Vorschläge, wie man mit dem Material arbeiten kann (zu den Themen "Überleben", "Umgang mit Friedhöfen" und "Täterschaft") ergänzen das Lernangebot.

An dieser Ausstellung, die auch für den Gebrauch mit dem Smartphone programmiert wurde, soll weitergearbeitet werden: Zum einen können Schüler*innen auch in Zukunft Fotografien und Bildunterschriften von historischen Orten einschicken, die wir dann ergänzen. Zum anderen sollen weitere Ortstexte und Biografien entstehen, da derzeit der Süden und Südwesten Deutschlands nicht repräsentiert sind.

Im kommenden Jahr jährt sich am 22. Juni zum 80. Mal der deutsche Überfall auf die Sowjetunion. Hoffentlich sind dann auch wieder Publikumsveranstaltungen möglich – denn gerne würden wir das Projekt auch persönlich vorstellen und fürs Mitmachen werben!

Projektleitung:

Dr. Ruth Preusse (Bildungsabteilung GHWK)

Wir danken unseren Kooperationspartner*innen: 

Memorial International Moskau

Deutsch-Russisches Museum Berlin-Karlshorst
Gedenkstätte Bergen-Belsen
Gedenkstätte Ehrenhain Zeithain
Gedenkstätte Lager Sandbostel
Arolsen Archives
KONTAKTE-KOHTAKTbI. Verein für Kontakte zu Ländern der ehemaligen Sowjetunion e.V.

Mit freundlicher Unterstützung der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft"