Antisemitismus - im Vorbeifahren?
Im Frühsommer 1935 wurden an Tausenden Orten im Deutschen Reich Schilder aufgestellt, die Juden den Zutritt untersagten. Diese Schilder wurden in der Regel von lokalen NS-Instanzen errichtet, die damit letztlich eine Verschärfung der antijüdischen Gesetzgebung forderten. In unserer neuen Dauerausstellung – im Bereich „Beteiligung der Gesellschaft“ – zeigen wir ein Beispiel eines solchen Schildes aus Behringersdorf bei Nürnberg.
Die Inschriften der Schilder waren teils so gehässig und gemein, dass der Reichsinnenminister eine Rundverfügung erlassen musste, die explizite Todesdrohungen auf ihnen untersagte. Im Januar 1936 musste der Stellvertreter des Führers aber in einem Rundschreiben an die NS-Gauleiter nochmals bitten, „solche Aufschriften zu unterlassen, die mehr oder weniger deutlich auf die Möglichkeit einer strafbaren Handlung gegen die Juden hinweisen z. B.: „Juden betreten den Ort auf eigene Gefahr“ und ähnliche mit einer Drohung verbundene Aufforderungen (Brief des Stellvertreters des Führers an die Gauleiter, 29.1.1936, in: Generallandesarchiv Karlsruhe, Badisches Staatsministerium, Bestand 233, 27737).
Wenig ist über die Wirkung der Schilder auf Vorbeifahrende bekannt. In der beeindruckenden Kollektion des Privatsammlers Alexander Fayn befindet sich allerdings ein Foto, das auf den ersten Blick wie ein Schnappschuss bei einer Vorbeifahrt aussieht. Auf einer Seite eines Fotoalbums ist es als Teil eines „Angelfahrt nach Töpchin 18.8.[19]35“ gekennzeichnet. Töpchin ist ein kleiner Ort mit mehreren Seen südöstlich von Berlin.
Auf zweiten Blick entpuppt das Foto sich als inszeniertes Standbild. Der schwere Wagen hatte vor dem dunklen (wahrscheinlich roten) Schild angehalten, das vor einer Kirchen(ruine) stand. Die Inschrift enthielt die später dann explizit verbotenen Gewaltandrohung „Juden betreten den Ort auf eigene Gefahr“. In schneller Vorbeifahrt wäre das Foto an dem diesigen Morgen unscharf geworden. Der Fahrer des Wagens mit englischer Steuerung war ausgestiegen und wies mit dem Zeigefinger auf das Schild. Der Beifahrer oder die Beifahrerin war ebenfalls ausgestiegen und hatte die Kamera zur Hand genommen. Er oder sie stellte sich dann so, dass das Schild genau zwischen den Köpfen der anderen Passagiere zu sehen war und nahm dabei in Kauf, dass der Fahrer fast verdeckt wurde.
Warum die Ausflugsgesellschaft aus Berlin das Foto aufnahm, ist unbekannt. Unwahrscheinlich ist aber, dass sie damit – ähnlich wie der jüdische Fotograf Fritz Fürstenberg, dessen Bilder demnächst im Jüdischen Museum zu sehen sein werden – den Schrecken der Verfolgung dokumentieren wollten. Denn dann hätten sie die Fotos nicht als Teil eines – idyllischen – Angelausflugs in ihr Album geklebt – und auf dem Foto auch anders agiert. Wahrscheinlich ging die Initiative zum Zwischenstopp vom Fahrer aus, der sich ja auch neben das Schild stellte. Nicht auszuschließen ist, dass auch der Fotograf oder die Fotografin die Anregung zum Anhalten gegeben hatte. Die Reaktion der drei Mitfahrerinnen und des Mitfahrers ist aber alles andere als eindeutig. Während die beiden Frauen hinten in das Objektiv lächeln, blicken der Mann und die Frau auf der der Kamera zugewandte Seite stur geradeaus. Natürlich wussten sie, dass sie gerade fotografiert wurden. Ob aber die Weigerung, die Kamera anzuschauen, auf Scham, Müdigkeit oder auf ganz anderen Gründen basiert, erschließt sich nicht. So bleibt nur der Fakt festzuhalten, dass die Schilder durchaus Beachtung fanden – und als Fotoanlass dienten.
Autor*in: Christoph Kreutzmüller und Tatiana Manykina