Der Fall Alois Brunner
Die Strafvereitelung der griechischen und deutschen Behörden und der Kampf der griechischen Jüdinnen und Juden für Gerechtigkeit
Alois Brunner war einer der engsten Mitarbeiter Adolf Eichmanns. Bereits 1938 wirkte er an der Vertreibung der österreichischen Jüdinnen und Juden mit und übernahm 1939 von Eichmann die Leitung der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“. Im Oktober und November 1939 leitete er Deportationen aus Wien und dem besetzten Tschechien nach Nisko in Polen, die als Auftakt für die Deportation der deutschen Jüdinnen und Juden gedacht waren. Ab Oktober 1941 war er in Wien für die Transporte in die Todeslager verantwortlich. Ende 1942 arbeitete er in Berlin, ab Februar 1943 in Thessaloniki, seit Juli desselben Jahres in Frankreich und 1944 in Bratislava führend daran mit, Jüdinnen und Juden zur Ermordung nach Osteuropa zu verschleppen. Brunner war ein Überzeugungstäter, der überall dort eingesetzt wurde, wo die Transporte ins Stocken gerieten und dem auch zahlreiche eigenhändige Morde vorgeworfen wurden.
Bereits seit 1944 wurde Brunner als Kriegsverbrecher gesucht, konnte aber seine Identität verschleiern und lebte zunächst in der Bundesrepublik. Erst als er 1954 in Paris in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden war, flüchtete er nach Syrien und lebte dort bis in die 2000er Jahre. Im Gegensatz zu Frankreich gab es in Griechenland, wo er als stellvertretender Leiter des „Sonderkommandos Saloniki-Ägäis“ die Deportation der jüdischen Gemeinde Thessalonikis organisiert und durchgeführt hatte, wenig Interesse an einer Strafverfolgung. Nach der deutschen Besatzung und dem anschließenden Bürgerkrieg (1946-1949) war die Shoah, in der über 80 Prozent des griechischen Judentums ermordet worden war, in der griechischen Öffentlichkeit kaum präsent.
Diesen und den Umstand, dass die rechtskonservative Regierung Griechenlands von Konstantinos Karamanlis innenpolitisch unter Druck stand, machte sich die Bundesregierung zunutze, als 1957 der ehemalige Kriegsverwaltungsrat Max Merten in Athen verhaftet wurde, der an der Enteignung und Deportation der Jüdinnen und Juden Thessalonikis mitgewirkt hatte. Der Fall Merten wurde zum Politikum in den deutsch-griechischen Verhandlungen über Aufbaukredite, Rüstungsaufträge und Entschädigungsabkommen. Dabei drängte die Regierung Adenauer auf eine Generalamnestie für deutsche Kriegsverbrecher. Infolge dieses Drucks verabschiedete die griechische Regierung eine „Lex Merten“, mit der Griechenland 1959 als einziges europäisches Land sein Recht auf Strafverfolgung deutscher Kriegsverbrecher an die Bundesrepublik Deutschland abtrat. Merten, der zuvor in Athen zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt worden war, wurde freigelassen. Das Gesetz blieb bis 2010 in Kraft und folglich unternahm keine griechische Regierung Anstrengungen, Alois Brunner zur Rechenschaft zu ziehen.
Lediglich der Zentralrat der Juden Griechenlands (KIS) versuchte die Interessen der wenigen Überlebenden der Shoah und ihrer Nachkommen zu vertreten. Seit 1985 drängte er die griechischen Behörden, in Syrien die Auslieferung Brunners zu beantragen, der in Damaskus einem Journalisten der „Bunte“ ein Interview gegeben hatte. Doch über 25 Jahre traf diese Forderung in Griechenland parteiübergreifend auf das Desinteresse und den Unwillen der politischen Verantwortlichen.
Tobias Blümel wird in einem Vortrag mit anschließender Diskussion in der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz am 30. Oktober 2020, 18.00-19.30 Uhr, die Strafvereitelung der griechischen und deutschen Behörden im Fall Brunner und den Kampf der griechischen Jüdinnen und Juden für Gerechtigkeit in den Blick nehmen. Tobias Blümel ist Historiker und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin. Er publizierte zur deutschen Besatzung und Antisemitismus in Griechenland und wirkte unter anderem am Projekt „Erinnerungen an die Okkupation in Griechenland“ mit. Zu Brunner publizierte er jüngst den Aufsatz: „(K)eine Frage ethischer Natur. Der Fall Alois Brunner und das gespaltene Bewusstsein im Umgang mit der Shoah in Griechenland, 1985-2010“. In Die »Neue Ordnung« in Griechenland, 1941–1944, herausgegeben von Nikolas Pissis und Dimitris Karydas, Berlin 2020, S. 125–196.