Grußwort zum Gedenken an den Beginn der Deportationen aus Berlin
Unsere Direktorin Deborah Hartmann sprach am 16. Oktober 2025 am Mahnmal Gleis 17 (S-Bahnhof Grunewald) zum Gedenken an den Beginn der systematischen Deportationen von Jüdinnen und Juden aus Berlin vor 84 Jahren das Grußwort. Wir dokumentieren es hier in Auszügen.
Im Namen der Ständigen Konferenz der NS-Erinnerungsorte im Berliner Raum begrüße ich Sie zum Gedenken an den Beginn der nationalsozialistischen Deportationen von Jüdinnen und Juden aus Berlin vor 84 Jahren.
Eine besondere und bewegende Woche liegt hinter uns. Am Montag konnten endlich 20 noch lebende israelische Geiseln zu ihren Familien zurückkehren, die zwei Jahre zuvor, am 7. Oktober 2023, von der Hamas und anderen abrupt und plötzlich aus ihrem Alltag und ihrem Lebensumfeld gerissen worden waren.
Wir gedenken heute hier am Mahnmal Gleis 17 der mehr als tausend Menschen, die am 18. Oktober 1941 von Berlin in das Ghetto Lodz verschleppt wurden. Viele von ihnen wurden in der Nacht zuvor abrupt aus ihrem damaligen Lebensumfeld gerissen. Dieses hatte sich aber zu diesem Zeitpunkt bereits stark verändert. Bereits seit 1933 hatte die Entrechtung, Demütigung und soziale Isolation für Jüdinnen und Juden im Deutschen Reich immer mehr zugenommen.
“Nie wieder ist jetzt” ist nach dem Angriff der Hamas auf Israel zu einer oft zitierten Formel geworden. Letzte Woche hat sie bei einer Aussprache zum Jahrestag des 7. Oktobers im Bundestag sogar ein Abgeordneter der AfD bemüht. Da ging es aber ziemlich schnell nicht mehr um das größte an Jüdinnen und Juden verübte Massaker seit dem Holocaust, oder um die Bekämpfung des Antisemitismus in all seinen Formen und in allen gesellschaftlichen Schichten, sondern um ein “Nie wieder Einwanderung, nie wieder Einbürgerung.” Nur zur Erinnerung: 90.000 Berliner Jüdinnen und Juden gelang es unter schwierigsten Bedingungen noch vor Beginn der Deportationen Deutschland zu verlassen – nachdem sie bereits ihre Staatsbürgerschaft und ihre Grundrechte verloren hatten.
Es hat lange gedauert, bis man sich ihrer erinnert hat – hier, inmitten einer bürgerlichen Villengegend, auf dem Weg in den nahegelegenen Grunewald, nicht weit von dem Ort, an dem im Januar 1942 in einer Villa am Wannsee der Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden besprochen wurde.
Erst 1992 wurde dort eine Gedenkstätte eingerichtet. Versuche, am Wannsee ein Dokumentationszentrum für die Erforschung des Nationalsozialismus und seiner Folgeerscheinungen einzurichten, scheiterten an einer wenig interessierten Politik und Öffentlichkeit.
Auch hier am Gleis 17 in Grunewald, entstand die erste Gedenktafel, die an die Deportationen aus Berlin erinnerte, nicht auf Initiative der Stadt oder ihrer Bürgerinnen und Bürgern. Es war die jüdische Gemeinde, also die Betroffenen selbst, die diesen wie viele andere Orte der NS-Verbrechen sichtbar machten, weil es sonst niemand tat oder tun wollte.
Heute legen die Gestaltung aus Beton und Eisen an diesem Mahnmal symbolisch eine gewisse erinnerungspolitische Stabilität nahe. Aber dem ist nicht so. Bundesweit ist die AFD in Umfragen stärkste Partei, eine Partei aus deren Reihen eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad gefordert wird. Eine Partei, die Elon Musk zujubelt, als er erklärt, dass Erinnern ein Land und eine Gesellschaft schwach machen würde. Eine Partei, deren Vorsitzende die Geschichte des Nationalsozialismus umschreibt und damit auch den Holocaust, der eben aus der Mitte der deutschen Gesellschaft möglich wurde. Eine Partei, der die Formel “Nie wieder” nur dann einfällt, und die sich nur dann zu Israel und den Betroffenen der Hamas-Gewalt vom 7. Oktober bekennt, wenn es ihrer Hetze gegen Geflüchtete und ihren Remigrationsphantasien nützt.
Aber auf stabilem Fundament steht diese Erinnerungskultur auch deshalb nicht, weil sich Jüdinnen und Juden heute wieder allein fühlen müssen, weil klare Haltungen und Handlungen gegen antisemitischen Hass und Ausgrenzung auf den Straßen deutscher Städte, in Universitäten und Kultureinrichtungen ausbleiben, weil Maßnahmen gegen Antisemitismus nur halbherzig oder gar nicht umgesetzt werden, weil das Gedenken an den Holocaust heute auch aus jenen Kreisen angegriffen und in Frage gestellt wird, aus denen heraus es einmal mit erkämpft wurde.
Gedenken – auch an diesem Ort – gilt heute für nicht wenige als Störfaktor. Ich hoffe, dass wir alle uns solchen Angriffen und Umdeutungen entschieden entgegenstellen. Und das wir auch jenseits von Gedenktagen dazu beitragen, dass die Beschäftigung mit der Geschichte und Gegenwart antisemitischer Ausgrenzung und Verfolgung ein aktiver Prozess der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Haltung gegenüber der Gegenwart ist.
Deborah Hartmann, 16. Oktober 2025