"Chotzen – Bilder nach der Erinnerung"
Eine gemeinsame historisch-künstlerische Ausstellung mit der „Villa Oppenheim“ in Charlottenburg
Noch bis Ende März 2023 sind im Stadtmuseum Charlottenburg-Wilmersdorf, der „Villa Oppenheim“, Bilder und Zeichnungen der israelischen Künstlerin Inbar Chotzen-Tselniker zu sehen. Ihr Gegenstand ist die Geschichte der Berliner Familie Chotzen während der NS-Verfolgung. Ergänzt wird die Kunst durch eine kleine historische Ausstellung zur Familiengeschichte, basierend auf dem Nachlass, den die Gedenk- und Bildungsstätte seit 1992 verwahrt.
Alles an dieser Ausstellung ist besonders: Das Thema, die Akteure, die Objekte – und nicht zuletzt auch die Entstehungsgeschichte dieses Projekts. Die sechsköpfige Familie Chotzen, um die sich alles dreht, lebte ab den 1920er Jahren in der Johannisberger Straße 3 in Berlin-Wilmersdorf. Mutter Elsa, protestantisch aufgewachsen, war vor der Eheschließung zum Judentum übergetreten. Die vier Söhne wuchsen mit jüdischen, aber auch mit christlichen Festen und Gebräuchen auf. Alle vier waren begeisterte und beliebte Mitglieder im Berliner Sport-Verein 1892, wo sie einen großen Teil ihrer Freizeit verbrachten. Der Vater und bald auch die Söhne fotografierten den Familienalltag, Reisen und Ausflüge und klebten die Bilder in Alben, die die Jahrzehnte überdauert haben. Wir können uns also heute noch ein Bild machen von Eppi, Bubi, Erich und Ulli und ihren Eltern Elsa und Joseph. Sie waren, so schreibt es der älteste und einzige die NS-Zeit überlebende Sohn Josef, genannt Eppi, viele Jahrzehnte später „[…] also hier im Umkreis bestimmt eine bekannte Familie geworden und hatten mit vielen Menschen jahrelangen Kontakt.“ Sie hätten sich wohl gefühlt in der Nachbarschaft: „Ich kann mich bis zur Nazizeit keiner Besonderheiten im Umgang mit unserer Nachbarschaft erinnern, die auch nur den Hauch von Feindseligkeit oder gezeigter Abneigung gehabt hätte.“
Mit der Machtübergabe an die Nationalsozialisten änderte sich für die Familie alles. Der Antisemitismus, der vorher in ihrem Leben keine Rolle gespielt hatte, wurde zur Staatsräson und bestimmte fortan ihren Alltag in allen Facetten. Erich wurde schon im Sommer 1933 nahegelegt, die Schule zu verlassen, da seine Chancen, Abitur zu machen, ohnehin aussichtslos seien. Eppi wurde von seinem Arbeitgeber entlassen und erhielt fortan nur noch Aushilfsjobs. Der Vater wurde in dem Unternehmen, für das er seit Jahren erfolgreich in leitender Position gearbeitet hatte, gemobbt und schließlich gekündigt. Eppi beschreibt die Atmosphäre in seinen Erinnerungen so:
“Es war schon erheblich mehr als erstaunlich, was für ein eisiger Wall auf einmal um uns herum vorhanden war. Die Verständigung mit der Umgebung wurde schneller und schneller immer weniger und war plötzlich zu ausgesprochener Sprachlosigkeit geworden. Nur ganz vereinzelt wurde noch – meist klammheimlich – zu grüßen versucht.”
Die Nürnberger Gesetze schrieben 1935 fest, wie solche „Mischehen“ mit „Mischlingskindern“ zu behandeln seien, und die antijüdischen Gesetze trafen die vier Jungen und den Vater mit voller Härte. Sie mussten den geliebten Sportverein verlassen, sich an zahlreiche Verbote und Beschränkungen halten, ab 1939 Zwangsarbeit leisten, später den Stern tragen. Eppi wusste natürlich um die antisemitischen Vorurteile und dass er und seine Brüder dem von der NS-Propaganda gezeichneten Bild so gar nicht entsprachen. Er formulierte spitz: „Ein sicher für viele irritierender Anblick war es, wenn vier blonde, noch dazu sportliche Leute mit Judenstern geschmückt zur Arbeit marschierten. Es ergab sich öfter so ein Abmarsch. Das paßte so gar nicht zum Stürmerbild mit den dazu gehörigen Verleumdungen und Lügen über Juden.“
Drei der Brüder heirateten Ende 1941 ihre jüdischen Freundinnen. Offenbar glaubten sie, sie dadurch vor einer Deportation schützen zu können – ein Trugschluss.
Anfang 1942 starb der Vater. Er erlebte daher nicht mehr, wie kurz darauf sein zweitjüngster Sohn mit seiner Frau und der Schwiegermutter nach Riga verschleppt und dort ermordet wurde. Auch die anderen waren täglich in Gefahr, deportiert zu werden, mehrfach standen ihre Namen auf Listen. Mutter Elsa, die sich als einzige in der Familie frei in der Stadt bewegen konnte, kämpfte wiederholt erfolgreich dafür, dass ihre Söhne zurückgestellt wurden. Sie beteiligte sich auch an den Protesten in der Rosenstraße im Februar/März 1943. Doch im Sommer 1943 scheiterten ihre Bemühungen: Bubi und Ulli wurden mit ihren Frauen nach Theresienstadt deportiert.
Mehr als ein Jahr lang schickten Elsa und Eppi mit Hilfe von Eppis tschechischer Freundin Bozka Hilfspakete mit Lebensmitteln, Zigaretten als Tauschware und Dingen des täglichen Bedarfs in das Ghetto-Lager und erhielten dafür Empfangsbestätigungen zurück. Eppi beschrieb die Unterstützungsaktion so:
“Welche Mühen, Schwierigkeiten, Gefahren zu überwinden waren, bis die Pakete fertig gepackt waren, ist heute sicher nicht zu ermessen. Kaum von jemanden, der damals nicht in der Lage war, wie wir als Juden, und schon gar nicht von jemandem, der diese Zeit nicht erlebt hat. Wenn das Schwierigste und Gefährlichste geschafft war, nämlich die Dinge zuhause bereit zur Verpackung waren, gab es die zusätzlichen Probleme wegen fehlendem Papier, Kartons und vor allem brauchbarer Schnur. Dann zur Post. Im Anfang, wenn es möglich war, habe ich das meiner Mutter abgenommen. Aber als sie einmal dabei war (wir hatten ja meist mehrere Päckchen) und erlebte, wie entwürdigend man mit mir umging – ich trug doch den Stern, und die jüdischen Adressen – Israel oder Sarah jedes Mal –, machte sie auch das in Zukunft allein. Alles zusammen zermürbend und zu viel für sie! –
Das Gefährlichste war in diesem Zusammenhang für mich ohne Zweifel das Heranschaffen von Lebensmitteln und was sonst nötig war.”
368 Empfangsbestätigungen und Textpostkarten sind im Nachlass erhalten, ein fast tägliches Lebenszeichen. Doch dann brach der Kontakt ab. Bubi, Lisa, Ulli und Ruth wurden nach Auschwitz verschleppt. Mutter Elsa und Eppi erfuhren erst nach dem Krieg, dass die Brüder im Frühjahr 1945 bei Dachau starben. Lisa starb vermutlich in Auschwitz, nur Ruth kehrte nach Berlin zurück und wanderte 1946 in die USA aus.
Elsa Chotzen sammelte in den folgenden Jahrzehnten alles, was von ihren ermordeten Kindern geblieben war: Fotos, Briefe, Dokumente. Als sie 1982 starb, ging dieses Familienarchiv in den Besitz des einzigen Überlebenden der Berliner Chotzens über, Eppi Chotzen. Der schrieb daraufhin in einem schmerzhaften, mehrere Jahre dauernden Prozess seine Erinnerungen auf:
“Meine Mutter durchlebte in den Jahren nach 1945 in Gedanken immer von neuem alle möglichen, besonders die dramatischen, schrecklichen Erlebnisse ihres Lebens. Und erinnerte sich, wie mir die unendlich vielen Gespräche mit ihr zeigten, bis in Einzelheiten an alles. Leider habe ich nicht, wie geplant, ihr Wissen zu Papier gebracht. Jetzt aber bin ich dabei, wenigstens für mich und die, die wissen wollen und sollten, das festzuhalten, was ich oder wir noch gut in die Erinnerung zurückrufen können. […] Es ist ein grosser Unterschied sich „historisch“ mit einer 40 Jahre zurückliegenden aufregend dramatischen Zeit zu beschäftigen, oder Dinge und Briefe so nahestehender Menschen aus dieser Zeit vor sich zu haben! Vieles vom damals Erlebten wird wieder hautnah.”
Er verfügte in seinem Testament, dass die neu gegründete Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz mit ihrem ersten Direktor Gerhard Schoenberner nach seinem Tod diese Sammlung und das Manuskript seiner Erinnerungen in verschiedenen Fassungen bekommen sollte. Die Historikerin Barbara Schieb bearbeitete im Auftrag des Hauses den Nachlass und schrieb ein erstes Buch über die Familie. In den folgenden Jahren wurden die Chotzens Teil der Dauerausstellung im DHM und der zweiten Ausstellung im Haus der Wannsee-Konferenz, es entstanden ein Dokumentarfilm und eine Webseite, die Familienmitglieder bekamen Stolpersteine in der Johannisberger Straße.
Als die israelische Künstlerin Inbar Chotzen 2016 in Vorbereitung auf eine Reise in Deutschlands Hauptstadt ihren Familiennamen und „Berlin“ in eine Suchmaschine eingab, fand sie daher etliche Treffer. Sie war verblüfft – sie hatte nichts von einem Berliner Familienzweig gewusst! In Berlin angekommen, kontaktierte sie Barbara Schieb, und gemeinsam rekonstruierten sie die Verbindung zwischen beiden Familien: Inbars Urgroßvater, der 1935 nach Palästina ausgewandert war, war der Bruder von Joseph Chotzen, dem Berliner Familienvater.
Inbar Chotzen tauchte in den folgenden Jahren intensiv in die Familienrecherche ein – mit ihren Mitteln als Künstlerin: Sie studierte die überlieferten Fotos und fertigte Skizzen der Familienmitglieder an, um sie, wie sie selbst sagt, „kennenzulernen“. Und sie besuchte unsere Joseph Wulf Bibliothek und scannte eigenhändig alle 368 Postkarten, von denen sie anschließend einen großen Teil mit Zeichnungen aus dem Alltag der Familie digital gestaltete.
Im letzten Jahr entstand die Idee, eine gemeinsame Ausstellung zu erarbeiten, die sowohl die historischen Hintergründe der Familie als auch den künstlerischen Zugang zu individueller Erinnerung an die Shoah präsentieren sollte. Die Villa Oppenheim mit ihrem großen Saal für Sonderausstellungen war dafür der richtige Ort. Für den historischen Teil wurden die Erinnerungen von Eppi zum Strukturgeber: Durch seinen, nicht den Täter-Blick auf die Ereignisse werden die verschiedenen Phasen der Verfolgungsgeschichte vorgestellt. Sein Hadern mit dem erfahrenen Unrecht spiegelt sich dabei in den Gemälden von Inbar Chotzen, die fotografierte Szenen aus dem Leben dieser Familie während dieser Zeit neu inszenierte. Sie zeigen beispielsweise Sommertage am Krossiner See – das Dunkle, das Böse, der Abgrund sind hier jedoch schon zu erahnen. Eppi klagt an:
“Sie kannten uns viele Jahre. –
Wir hatten kein grundverschiedenes Auftreten!
Wir hatten keinen grundverschiedenen Lebenswandel!
Wir hatten kein grundverschiedenes Aussehen!
Nicht einmal außergewöhnliche Erfolge!
Hatten keine ungewöhnlichen Eigenschaften!
Waren nicht außergewöhnlich gutaussehend!
Waren keine Einzelgänger!
Hatten keine Hakennasen! Keine Plattfüße!
Und von sechs Personen waren nur zwei Brillenträger!
Geld hatten wir auch zu wenig!
Was war das? Und ist es zum Teil noch jetzt?
Dummheit? – Gleichgültigkeit? – Egoismus?
Waren sie einfach gemein? – Charakterlos? – Feige?
Oder was steckte dahinter, wenn diese „ehrenwerten“ Bürger sagten: Warum hat sie denn nun Juden geheiratet?! – Damit meinten sie meine Mutter.
War das noch eine Kulturnation?
Menschenjagd! – Bücherverbrennung! – Und vieles Barbarische mehr!!!”
Veranstaltungen zur Ausstellung in der Villa Oppenheim (Deutsch & Englisch):
Führung durch die Ausstellung: Sonntag, 5. Februar, 12:00 Uhr (Museumssonntag)
Vortrag: 2. März, 18:00 Uhr: Robert Müller-Stahl: „Selbstbilder in der Verfolgung. Private Fotos jüdischer Familien im Nationalsozialismus. Anschließend Gespräch mit Inbar Chotzen
Fortbildung für Multiplikator*innen: 3. März, 14:00 bis 18:00 Uhr: Antisemitismuskritische Bildungsansätze beim Thema Verfolgung von „Mischehen“ und „Mischlingen“ am Beispiel der Familie Chotzen
Führung durch die Ausstellung: 4. März, 12:00 Uhr: mit Inbar Chotzen und Dr. Ruth Preusse
Text: Dr. Ruth Preusse