Gemeinsam Antisemitismus stoppen
Unsere Gedenk- und Bildungsstätte gehört zu den Unterstützer*innen der „Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus“, die in diesem Jahr 20 Jahre alt werden. Nikolas Lelle von der Amadeu Antonio Stiftung hat für uns einen Blick in die Vergangenheit und die Zukunft dieser Aktion geworfen.
Am 9. Oktober 2019 versuchte ein Rechtsterrorist, die Synagoge in Halle (Saale) zu stürmen, um die Jüdinnen*Juden zu ermorden, die darin gemeinsam Jom Kippur feierten. 80 Jahre zuvor, um den 9. November 1938, brannten in Deutschland während der Novemberpogrome mehr als 1.000 Synagogen, auch die in der Innenstadt von Halle. Dabei handelte es sich nicht um das gleiche Gebäude: Das Ziel des Terroranschlags von 2019 in der Humboldtstraße diente erst seit 1948 als Synagoge, zuvor wurde es als Taharahaus genutzt, also zur Leichenwaschung.
Der Anschlag von Halle wurde von einigen als Weckruf beschworen, so als sei der Antisemitismus in Deutschland davor nicht existent gewesen, zumindest weniger sichtbar. Die jüdische Community dagegen reagierte zwar schockiert, aber nicht überrascht, denn antisemitische Vorfälle hat es seit 1945 immer wieder gegeben, auch tödliche.
Die beiden Daten, der 9. Oktober und der 9. November, verweisen damit auf die Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus in Deutschland. Genau ein Monat trennt die Jahrestage. Dieser bildet seit 2020 den zeitlichen Rahmen der Bildungs- und Aktionswochen gegen Antisemitismus – so nennt sich der bundesweit größte gesellschaftliche Zusammenschluss gegen Antisemitismus in diesem Land.
Seit genau 20 Jahren organisiert die Amadeu Antonio Stiftung zusammen mit hunderten Partnerorganisationen antisemitismuskritische Veranstaltungen, Konzerte, Ausstellungen und Lesungen. Seit 2015 wird sie dabei vom Anne Frank Zentrum unterstützt. Gefördert werden die Aktionswochen vom Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus. Die Aktionswochen gegen Antisemitismus versammeln kleine lokale Initiativen, jüdische Gemeinden und große Organisationen unter einem Dach, um eine klare Botschaft zu senden: Wir wollen Antisemitismus stoppen, und zwar in all seinen Varianten. Null Antisemitismus –das ist das Ziel. Um das zu erreichen, braucht es Aufklärung, Prävention und Intervention und einen Zusammenschluss, der deutschlandweit Engagierte und Interessierte ins Gespräch bringt. Denn Antisemitismus kann nur bekämpfen, wer ihn erkennt.
Als die Aktionswochen sich Anfang der 2000er-Jahre gründeten, war die gesellschaftliche Lage eine andere. Die Baseballschlägerjahre waren kaum Geschichte, Rechtsextremismus und Neo-Nazismus in Deutschland waren mittlerweile viel diskutierte Themen. Aber über Antisemitismus, berichtete mir einmal Anetta Kahane, Gründerin der Amadeu Antonio Stiftung, sprach kaum jemand. Die Stiftung versuchte daher zusammen mit kleinen Initiativen Veranstaltungsformate rund um den 9. November zu organisieren. Dabei ging es aber nicht nur um das Gedenken an die Novemberpogrome, sondern auch um die Gegenwart. Denn wenn der Satz „Erinnern heißt verändern“ stimmen soll, darf die Erinnerung an den vergangenen Antisemitismus nicht von der Bekämpfung des Gegenwärtigen entkoppelt werden. Genau hier setzten die Aktionswochen an. Mittlerweile gibt es eine engagierte Zivilgesellschaft gegen Antisemitismus sowie ein gut ausgebautes Netz von Gedenkstätten und Erinnerungsorten, und dank der Meldestellen der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) ist zudem ein quantitativer Blick auf den Judenhass in diesem Land möglich. Aus der erhöhten Sensibilisierung, die vielfach von unten, gegen die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft erkämpft worden ist (und wird), folgte allerdings bisher kein erkennbarer Rückgang des Antisemitismus. Natürlich ist es schwer zu sagen, wie die Situation ohne dieses Einschreiten heute wäre. Antisemitismuskritik und -bekämpfung bleibt daher leider weiterhin eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Die Aktionswochen gegen Antisemitismus nehmen diese Herausforderung an. Jahr für Jahr werden jeweils aktuelle Problemfelder und Varianten des Antisemitismus in den Mittelpunkt gerückt, nicht nur durch die unzähligen Veranstaltungen und Formate, sondern auch durch eine bundesweit sichtbare Plakat-Kampagne, die den Finger in die Wunde legen soll. Durch die Corona-Pandemie erlebten in 2020 Verschwörungsmythen ein beunruhigendes Hoch: Auf Social Media-Kanälen finden seither Aktualisierungen alter antisemitischer Erzählungen wie die Ritualmordlegende ein Millionenpublikum. Schnell marschierten die Anhänger von QAnon auch auf deutschen Straßen. Die Lage für Jüdinnen*Juden wurde dadurch besonders beunruhigend – und ist es geblieben. Schon im Mai 2020, wenige Tage nach dem ersten großen Lockdown, organisierte das Team der „Aktionswochen“ zusammen mit vielen anderen Engagierten einen digitalen Aktionstag, um dem grassierenden Antisemitismus etwas entgegenzusetzen.
2021, im Festjahr zu 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland, riefen die Aktionswochen nicht nur den Verbündeten und Standhaften im Kampf gegen Antisemitismus ein lautes Shalom zu, sondern sie adressierten auch die Phrasendrescher und Aufarbeitungsweltmeister, die zwar toter Jüdinnen*Juden gedenken, aber von den Sorgen und Nöten der Lebenden nichts wissen wollen sowie die sogenannten Israelkritiker, die angeblich nichts gegen Jüdinnen*Juden haben, aber Israel von der Landkarte tilgen wollen: Im Mai 2021 fanden auf deutschen Straßen antiisraelische Massendemonstrationen statt, die den Israel-Gaza-Konflikt zum Anlass nahmen, um Israel- und Judenhass zu schüren – teils vor deutschen Synagogen. Ein erneuter Beweis, dass sich die beiden Phänomene schlicht nicht trennen lassen.
Die Aktionswochen-Kampagne 2022 fokussierte sich auch deshalb auf israelbezogenen Antisemitismus, das sicher am heißesten umkämpfte Thema in der Antisemitismusbekämpfung, das viel zu oft zum Streitfall erklärt wird: Was ist legitime Kritik, was geht längst darüber hinaus? Israelhass ist nicht nur vielfach antisemitisch, sondern auch eine Bedrohung für Jüdinnen*Juden in Deutschland.
2023 ist es an der Zeit, in der Plakat-Kampagne einmal zu thematisieren, was oft übersehen wird: Antisemitismus im Alltag der Betroffenen.
Diese durchaus verschiedenen Phänomene sind nicht nur bedrohlich durch ihre Gleichzeitigkeit: Während Corona-Leugner*innen mit „Ungeimpft-Sternen“ durch Berlin, Stuttgart oder Dresden marschierten, demonstrierten Israelhasser*innen in Münster und Bonn vor Synagogen – gerade einmal eineinhalb Jahre nach dem Anschlag in Halle! Auch der oft fatale gesellschaftliche Umgang mit Antisemitismus ist besorgniserregend. Das jüngste Beispiel, die documenta fifteen in Kassel im Sommer 2022, zeigt, dass die Sorgen und Nöte von Jüdinnen*Juden vielfach nicht gehört werden. „Jews don’t count“, lässt sich mit dem englischen Comedian David Baddiel bitter resümieren.
Begleitet werden diese Entwicklungen durch immer härter geführte Antisemitismusdebatten, in denen es nicht allein um die Einschätzung von israelbezogenem Antisemitismus geht, sondern immer wieder auch um die hiesige Erinnerungskultur. Genauer gesagt: die Debatten verdichten diese Themen. Diejenigen, die die deutsche Erinnerungskultur als provinziell ablehnen und für elitär halten, sind nicht zufällig auch diejenigen, die von „legitimer Israelkritik“ sprechen, wo Antisemitismus das richtige Wort wäre. Die Angriffe auf die Präzedenzlosigkeit der Shoah haben bisweilen auch den Zweck, den jüdischen Staat zu delegitimieren. Erinnerungskultur, Antisemitismus und Israel bilden damit ein thematisches Dreieck, über das dringend mehr geredet werden muss.
Die Aktionswochen gegen Antisemitismus werden 2023 deshalb einen zweiten Fokus auf die vielfältige deutsche Erinnerungskultur werfen. Diese wird heute oft kritisiert, als überflüssig oder von oben gesteuert angesehen. Die Aktionswochen wollen daran erinnern, dass diese Erinnerungskultur seit Jahrzehnten von unten vorangebracht wird, von ehrenamtlich Engagierten, von Jüdinnen*Juden. „Mehr Erinnerung wagen“ lautet das Motto; für eine kritische Erinnerungskultur von unten, die ins Licht rückt, worüber geschwiegen wird, und die mit innovativen Formaten auch neue Zielgruppen erreicht.