Liebe Leser*innen,

in diesem Jahr hat sich die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz zum ersten Mal ein Jahresthema vorgenommen. In unserer Arbeit legen wir einen besonderen Fokus auf Antisemitismus. Für viele mag diese Entscheidung naheliegend gewesen sein. Immerhin beschäftigte sich die als Wannsee-Konferenz bekannt gewordene Besprechung am 20. Januar 1942 mit der organisatorischen Umsetzung des als „Endlösung“ verharmlosten Massenmordes an den europäischen Jüdinnen und Juden.

Aber ist das wirklich so naheliegend? Ist tatsächlich jeder und jedem bewusst, welch zentrale Bedeutung antisemitisches Denken und Handeln in diesem „Verwaltungsmassenmord“ spielte? Oder lassen wir uns nicht doch noch allzu oft von der bürokratischen Sprache der Nationalsozialist*innen täuschen, die mit den vom „eliminatorischen Antisemitismus“ Betroffenen auch die antisemitischen Beweggründe zum Verschwinden bringt?

Darum ist es wichtig, sich der Rolle und Bedeutung des Antisemitismus in historischer Perspektive immer wieder neu bewusst zu werden, gerade wenn es darum geht, die unterschiedlichen Gruppen der von nationalsozialistischer Verfolgung Betroffenen, also zum Beispiel Sinti und Roma, queere Menschen und Menschen mit Behinderungen stärker in den Blick zu nehmen und Antisemitismus als intersektional verschränkte Form und synthetisierendes Element systematischer Menschenfeindlichkeit zu erkennen. All das fordert von uns und von unseren Besucher*innen vielfältige Perspektivwechsel und gleichzeitig zu selbstkritischer Wahrnehmung heraus, die gerade Historiker*innen und anderen fachwissenschaftlichen Expert*innen oft nicht leicht fällt.

Unser Jahresthema hat aber auch eine unbestreitbare Aktualität. Dass Antisemitismus nach 1945 nicht verschwunden ist, ist eine Binsenwahrheit. Erschreckend aber ist, in wie vielen verschiedenen Formen er heute gesellschaftsübergreifend auftritt, Zuspruch erfährt oder verharmlost und geleugnet wird, und das nicht nur von Seiten der extremen Rechten. Zu der gehört auch eine AfD, in der die nationalsozialistischen Verbrechen zum „Vogelschiss“ der Geschichte werden, eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ gefordert oder Vernichtungsphantasien gegen die EU gepflegt werden.

Dennoch tun sich gerade Gedenkstätten und andere Träger*innen historisch-politischer Bildungsarbeit oft schwer damit, Gegenwartsantisemitismus in den Blick zu nehmen. Das hat auch damit zu tun, dass dieser meist kaum erkannt wird, mitunter auch weil wir uns nicht mit unserem eigenen Anteil an der Reproduktion strukturell antisemitischer Vorstellungen und Bilder auseinandersetzen können oder wollen.

Mit unserem Jahresthema haben wir das Ziel, Antisemitismus auf vielfältige Weise nach innen und außen zu adressieren. Daher beschäftigt sich auch dieser Newsletter mal expliziter und mal indirekter mit Aspekten dieses Themas. Historische Perspektiven finden sich in Martin Cüppers Beitrag zum Aufstand im Ghetto Warschau, der sich in diesem Jahr zum 80. Mal jährte. Cüppers analysiert und kontextualisiert darin den Abschlussbericht des kommandierenden SS- und Polizeiführers Jürgen Stroop, der insbesondere – auch durch das Fehlen von Bildern, die die Betroffenenperspektive auf dieses Ereignis hätte sichtbar machen können – die visuelle Erinnerung des Aufstandes geprägt hat. Zu einer Bildikone wurde das Foto eines Jungen, der mit erhobenen Händen neben einer Gruppe von Frauen und Kindern von deutschen Uniformierten mit Waffengewalt festgehalten wird. Dieses Bild hat sich längst von seinem historischen Kontext gelöst und ist zu einer universellen Ikone für den Schrecken des Krieges und den Terror gegen Zivilist*innen geworden. In aktuellen Auseinandersetzungen dient das Bild immer wieder als visuelle Analogie. So wurde es im Kontext des israelisch-palästinensischen Konflikts aufgerufen, um auf diese Weise Israel als Wiedergänger der Nazis zu brandmarken.

Auch aufgrund solcher Verwendungen sind historische Kontextualisierung und genaue Lektüre historischer Quellen so wichtig. Cüppers analysiert den Bericht auch auf Antisemitismus und seine Funktion für die NS-Ideologie und den nationalsozialistischen Alltag ein. Er schreibt: „Es gilt also ernst zu nehmen, dass möderischer Judenhass nicht nur als zentrales Element der Naziideologie und gebetsmühlenartig wiederholte Propaganda fungierte, sondern das Denken und Handeln vieler Deutscher bestimmte.“

Dass diese Einsichten nach wie vor zur Disposition stehen, zeigen auch die wiederholten Versuche, die Geschichte des Nationalsozialismus, und insbesondere der Shoah, umzuschreiben. Ruth Preusse analysiert einen bekannt gewordenen Fall, der lange nicht im Lichte von Geschichtsfälschung und Leugnung wahrgenommen wurde. Die Fälschung der Hitler-Tagebücher vor 40 Jahren war auch ein Versuch, Geschichte umzuschreiben, wie Preusse am Beispiel der Verarbeitung des Protokolls der Wannsee-Konferenz in den fiktionalen „Selbstauskünften“ Hitlers zeigen kann.

Kontinuität und Gegenwart von Antisemitismus sind Gegenstand unseres Interviews mit Winfrid Wenzel, seit 2022 Antisemitismusbeauftragter der Berliner Polizei. In dem Gespräch berichtet Wenzel von seinem Aufgabenbereich und wie die Polizei antisemitische Straftaten erfasst. Außerdem wird der Frage nachgegangen, wie antisemitismuskritisch die Polizei selbst ist und wie mit Antisemitismus innerhalb der Polizei umgegangen wird.

Auch unsere beiden Tagungen im Mai dieses Jahres boten Raum, verschiedene Formen von Gegenwartsantisemitismus in gesellschaftlicher Perspektive und als Gegenstand historisch-politischer Bildung zu diskutieren. Der Fachtag „Mit Algorithmen (ge)denken?“ beschäftigte sich unter anderem mit Online-Antisemitismus und Strategien gegen Hassrede und ihre algorithmische Verstärkung. Dass der Organisation HateAid, die ihre gesellschaftlich wichtige Arbeit auf unserem Fachtag präsentierte, nun vom Bundesjustizministerium die Förderung für Beratung gegen Online-Hass gestrichen wird, ist in diesem Kontext das falsche Signal.

Die Konferenz „Von der Kunstfreiheit gedeckt? Aktuelle Herausforderungen im Umgang mit Antisemitismus in Kunst und Kultur“ diente nicht nur der kritischen Reflexion von aktuellen Debatten wie der über antisemitische Kunst auf der documenta 15, sondern bot vor allem Raum für Erfahrungen von Betroffenen sowie Gelegenheiten der kritischen Selbstreflexion und des gemeinsamen Austauschs.

Bereits im Januar, dem 81. Jahrestag der Wannsee-Konferenz, hatten wir uns anhand des Themas Widerstand und Selbstbehauptung von Jüdinnen und Juden im Angesicht der Shoah auch mit der Erfahrung von Antisemitismus und individueller wie kollektiver Handlungsstrategien gegen antisemitische Verfolgung in historischer Perspektive beschäftigt.

Mit dieser Ausgabe unseres Newsletters setzen wir diese Diskussionen fort und erweitern sie um aktuelle und historische Perspektiven.

Wie immer freuen wir uns über Feedback und Rückmeldungen.

Ihre

Deborah Hartmann