Das Reichsministerium des Innern in den letzten Kriegsmonaten
Angesichts einer aussichtslosen Kriegslage hielt die deutsche Verwaltung bis zuletzt an ihren Abläufen fest. Einer der Teilnehmer der Wannsee-Konferenz, Dr. Wilhelm Stuckart, übernahm nach dem Freitod Heinrich Himmlers in der Regierung Dönitz das Innenministerium und arbeitete bis zu seiner Verhaftung für eine Reichsregierung ohne Reich.
Von Dr. Hans-Christian Jasch

Am 5. Januar 1945 erschien im Ministerialblatt des Reichsministeriums des Innern (RMdI) ein Geleitwort für das Jahr 1945 von Heinrich Himmler, der am 25. August 1943 Wilhelm Frick als Innenminister beerbt hatte. Zu diesem Zeitpunkt befand sich das “Dritte Reich” seit mehr als vier Jahren im Krieg, einem Krieg, der im Dezember 1941 zum Weltkrieg geworden war und in dem das Deutsche Reich zunächst große Teile Europas besetzt und mit seiner verbrecherischen Politik überzogen hatte. Mittlerweile hatte die deutsche Wehrmacht schwere Niederlagen erlitten und befand sich an allen Fronten auf dem Rückzug. Im Süden waren die Alliierten im September 1943 in Italien und im Westen im Juni 1944 in der Normandie gelandet; am 21. Oktober 1944 hatte die US-Army mit Aachen die erste deutsche Großstadt im Westen des Reiches besetzt. Auch die sowjetischen Armeen drangen im Sommer 1944 immer weiter vor und befreiten am 23. Juli 1944 das deutsche Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek in der Nähe von Lublin. Der Lagerkomplex wurde von der internationalen Presse in Augenschein genommen, in Zeitungen verbreiteten sich Bilder von Leichenbergen und Krematoriumsöfen, und in Lublin standen Angehörige der SS-Lagermannschaft vor Gericht.
Spätestens jetzt konnte niemand mehr die Augen vor den ungeheuerlichen Verbrechen verschließen, die die SS im deutschen Namen vor allem in den besetzten Ländern Ost- und Südosteuropas verübt hatte. Ihr Chef, der “Reichsführer-SS” Heinrich Himmler, seit 1936 “Chef der Deutschen Polizei im Reichsinnenministerium” – so sein offizieller Titel –, hatte sich mit viel Energie dem Aufbau eines Lager- und Mordsystems gewidmet, das große Teile Europas umspannte und dazu gedient hatte, ca. 13 Millionen Menschen – darunter etwa 6 Millionen europäische Jüdinnen und Juden – zu versklaven und zu ermorden. Als “Reichskommissar für die Festigung des Deutschen Volkstums” war er zudem einer der Hauptverantwortlichen für die “Umvolkung und Germanisierung”, d. h. die Vertreibung und Vernichtung der autochthonen Bevölkerung sowie der An- und Umsiedlung von (Volks-)Deutschen in den neu eroberten Ostgebieten. Und Himmler war Soldat, hatte eigene militärische Formationen der SS aufgebaut und wurde nach dem Scheitern des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 und den folgenden “Säuberungen” im Offizierskorps der Wehrmacht zum Befehlshaber des Ersatzheeres ernannt. Seit dem 1. Oktober 1944 war er überdies für die Internierung sämtlicher Kriegsgefangener zuständig. Im vom Krieg gebeutelten “Dritten Reich” war der Massenmörder Himmler demnach einer der mächtigsten Männer, zuständig auch für die “innere Sicherheit”, die Innenverwaltung und das Medizinalwesen des Reiches.
Aus seiner Feld-Kommandostelle wandte er sich zu Beginn des neuen Jahres 1945 an die Beamten des Ministeriums:
“Im Jahre 1944 haben Front und Heimat die schweren Proben bestanden, die der Krieg und das Schicksal ihnen auferlegt haben. Im Jahre 1945, das nunmehr anhebt und das uns dem Siege und dem Frieden entscheidend näher bringen wird, wollen wir alle unsere Kräfte anspannen, um auch in keiner Stunde hinter den Leistungen der Front zurückzubleiben. In Erkenntnis der Notwendigkeit sind im vergangenen Jahre die letzten für den Dienst an der Front tauglichen Arbeitskameraden freigegeben worden. Unsere Zahl wurde geringer. Viele bereits im wohlverdienten Ruhestand des Alters lebende Beamte und Angestellte haben die Plätze der Jungen wieder eingenommen. Die Arbeitsbedingungen sind durch den Bombenkrieg in jeder Hinsicht schwerer geworden. Trotzdem stellen wir uns für das Jahr 1945 die Aufgabe, den schwer ringenden, mit Arbeit, Sorge und vielem Kummer belasteten deutschen Frauen und Männern stets freundliche, verständnisvolle Helfer und, im edelsten Sinne des Wortes, Diener unseres Volkes zu sein. Dies sei unser Beitrag zum großen deutschen Sieg! Es lebe unser geliebter Führer!”

Damit sprach Himmler die schwierige Gesamtsituation der inneren Verwaltung an, die sich bereits in den Jahren 1943/44 drastisch verschlechtert hatte. Statt etwa 800 Bediensteten, die noch 1937 im RMdI tätig waren, sank die Zahl der Mitarbeitenden zur Jahreswende 1943/44 auf nur noch gut die Hälfte (etwa 450).1 In der Nacht vom 23. zum 24. November 1943 wurde das ganze Berliner Regierungsviertel durch Luftangriffe schwer beschädigt. Hiervon waren auch die Gebäude des Reichsministeriums des Innern am Königsplatz 6 und Unter den Linden 72 betroffen. Dies führte dazu, dass das RMdI auf eine Reihe von Ausweichquartieren verteilt wurde. Dependancen befanden sich in Potsdam – dorthin wurde das “Staatssekretariat des Innern” mit ca. 50 Mitarbeitern ausgelagert – und Pirna mit 170 Beamten, außerdem in Ilmenau, Friedrichsroda, Küstrin und Querfurt sowie Garmisch als Sitz des “Arbeitsstabes Süd”, der im Falle der militärischen Niederlage und teilweisen Besetzung des Reiches die Arbeitsfähigkeit der Innenverwaltung sicherstellen sollte.2 Kommunikationsprobleme und akuter Mangel bestimmten den Arbeitsalltag.3 Es fehlte an allem; selbst Papier stand nur noch in geringer Menge zur Verfügung.4 Dies betraf auch die verwaltungsrechtliche Zeitschrift “Deutsche Verwaltung”, die von Innenstaatssekretär Wilhelm Stuckart herausgegeben wurde. In der letzten Folge, die am 15. Januar 1945 erschien, widmete sich Stuckart dem Thema: “Der totale Kriegseinsatz im Bereich der allgemeinen und inneren Verwaltung”. Scheinbar unberührt von der Realität des Zusammenbruchs bemühte er sich hier, noch einmal die Bedeutung der inneren Verwaltung für die “Betreuung der Bevölkerung im Rahmen der Kriegsnotwendigkeit” angesichts zahlreicher neuer kriegsbedingter Aufgaben herauszustellen.5
Im selben Zeitraum, in dem Stuckarts Artikel in Druck ging, veränderte sich die Kriegslage im Osten dramatisch: Am 12. Januar 1945 griff die 1. Ukrainische Front unter Marschall Konew an und durchbrach die deutschen Stellungen an der Weichsel. Auf 300 km Breite und bis zu 150 km tief drangen die sowjetischen Truppen vor und überquerten am 19. Januar die Grenzen des Deutschen Reiches in Schlesien und Ostpreußen. Nur eine Woche später erreichten sie den Lagerkomplex in Oświęcim, wo am 27. Januar 1945 Einheiten der sowjetischen 60. Armee die Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz und Birkenau befreiten.
Millionen von Menschen befanden sich auf der Flucht, wurden verschleppt oder flohen vor der herannahenden Front und der erwarteten Rache der Sieger – auch Angehörige der Verwaltung. Gleichzeitig mussten Vorkehrungen getroffen werden, die fliehenden Menschen aufzunehmen und zu versorgen. Dies war nicht zuletzt auch eine Aufgabe für das RMdI, welches gemeinsam mit den örtlichen NSDAP-Gauleitern als Reichsverteidigungskommissaren für die zivile Reichsverteidigung und die Feststellung der Kriegsschäden zuständig war. Da Himmler in seinem Feldquartier bzw. in seinem rollenden Quartier, dem Sonderzug “Heinrich”, unterwegs war, überließ er schon seit Herbst 1943 die Leitung des Innenministeriums seiner rechten Hand in Verwaltungsdingen,6 dem damals erst 42jährigen Innenstaatssekretär Dr. Wilhelm Stuckart, einem Verwaltungsjuristen, der 1942 sein Ressort auch bei der sogenannten Wannsee-Konferenz vertreten hatte.7
Stuckart hatte sich früh in den Dienst des NS-Staates gestellt, galt als der “Gralshüter der Verwaltung” und hatte auch unter schwierigen Bedingungen organisatorisches Geschick bewiesen. So spielte er auch in den letzten Kriegsmonaten eine zentrale Rolle und bemühte sich angesichts des bevorstehenden Zusammenbruchs um die Aufrechterhaltung der Ordnung. Insbesondere galt es, die sich stetig verschärfende Versorgungssituation der deutschen Zivilbevölkerung erträglicher zu gestalten, davon zeugen zahlreiche Erlasse und Richtlinien, die er in diesem Zeitraum noch herausgab. So wies er am 7. Februar 1945 die Reichsverteidigungskommissare an, wie mit dem “zurückschwappenden” Verwaltungspersonal verfahren werden sollte:8 “Durch die Rücknahme der Ostfront sind zahlreiche Dienststellen verdrängt worden.” Bei der Bevölkerung müsse jedoch der Anschein vermieden werden, dass die evakuierten Behörden “nur um ihrer selbst Willen fortgeführt werden”. Die Angehörigen dieser Behörden sollten sich daher bei der Verwaltung im Aufnahmegebiet melden und die Jahrgänge 1906 und jünger der Wehrmacht zur Verfügung stellen. Zwei Tage später, am 9. Februar 1945, hatte ein weiterer Stuckart-Erlass die “Betreuung der Rückgeführten und Restverwaltung des Reichsgaues Wartheland” zum Gegenstand: Das “Hereinströmen dieser großen Menschenmenge mit Fahrzeugen und Wirtschaftsgütern aller Art” beeinflusse den “normalen Ablauf des öffentlichen Lebens in den Aufnahmegauen” wesentlich. Flüchtlinge sollten daher schnellstens erfasst und eingegliedert sowie “in Arbeit gebracht” werden, “Familienräumungsunterhalt” erhalten und ihre Habe der “volkswirtschaftlich richtigen Verwendung” zugeführt werden. Die evakuierten Behörden sollten ordnungsgemäß abgewickelt werden: “Der Totale Krieg, in dem jede nur verfügbare Arbeitskraft für Wehrmacht und Rüstung” gebraucht würde, dulde keine weit verstreuten “Abwicklungsstellen” mehr. Besonders “osterfahrene” Beamte wurden zu “Verbindungsführern des RMdI bestellt”, die in enger Zusammenarbeit mit den Reichsverteidigungskommissaren und den noch bestehenden Dienststellen der Partei Kontakt halten sollten.
Im Frühjahr 1945 spitzte sich die Lage durch die heranrückende Front und die nunmehr auch tagsüber erfolgenden Luftangriffe auf Berlin noch weiter zu. Häufig gab es bis zu drei Mal “Fliegeralarm” am Tag. Einer der schwersten Angriffe überhaupt zerstörte am 3. Februar 1945 große Teile des Berliner Stadtzentrums und der angrenzenden Bezirke, es wurden fast 3.000 Tote und über 100.000 Obdachlose registriert.9 Immer öfter war nun auch die S-Bahn Richtung Wannsee unterbrochen, mit der auch Stuckart – wenn kein Dienstwagen oder kein Benzin zur Verfügung stand – von seinem Dienstsitz Unter den Linden 72 zu seiner Villa in Wannsee “Am Sandwerder” fuhr.10 Die Villa diente mittlerweile auch seinen ausgebombten Kollegen als Obdach. Sie schliefen bei den Stuckarts auf Feldbetten.11
Am 14. April wurde die Potsdamer Innenstadt von der Royal Air Force nahezu vollständig zerstört. Zwei Tage später begann die Schlacht um Berlin, bei der die Rote Armee die Stadt mit 2,5 Millionen Soldaten, 41.600 Geschützen und 6.300 Panzern umzingelte und 7.500 Flugzeuge einsetzte und bei der auf beiden Seiten viele zehntausende Soldaten fielen. Schätzungsweise 20.000 Zivilisten fanden den Tod.12 Obgleich die Devise ausgegeben wurde, dass die “Reichshauptstadt” “bis zum letzten Mann und bis zur letzten Patrone” verteidigt werden sollte,13 erreichten die sowjetischen Streitkräfte bereits am 21. April 1945 die nordöstlichen Außenbezirke der Stadt und wenige Tage später die “Hauptkampfline S-Bahnring”. Während die Zeitung “Der Panzerbär” in seiner allerletzten Ausgabe vom 29. April 1945 von einem “heroischen Ringen” fabulierte und von “Entlastungskräften” träumte, wurde etwas kleiner gemeldet: “Der Kampf um den Stadtkern entbrannt”.14 Angesichts dieser Lage hatten sich die noch in Berlin verbliebenen Regierungsbeamten längst die Frage gestellt, ob sie trotz des sich schließenden sowjetischen Belagerungsrings noch in der Stadt bleiben sollten, oder ob sie sich zu einem der beiden Arbeitsstäbe im Norden und Süden des Reiches begeben sollten, die die Aufgabe hatten, in den noch nicht von den Alliierten besetzten Teilen des Reiches Verwaltungs- und Staatsfunktionen aufrecht zu erhalten. Es galt auf jeden Fall, den Eindruck der “Pflichtvergessenheit” zu vermeiden. Die Maßnahmen, die zur “Wahrung der Disziplin” noch kurz vor der Niederlage getroffen wurden, waren extrem brutal: Bereits am 15. Februar 1945 waren durch eine Verordnung von Reichsjustizminister Otto Thierack, die sogar noch im Reichsgesetzblatt verkündet wurde,15 Standgerichte, ab März 1945 sogar sogenannte Fliegende Standgerichte eingeführt worden.16 Nunmehr wurden auch Zivilpersonen, “durch die die deutsche Kampfkraft und Kampfentschlossenheit gefährdet” erschien, an Laternenpfählen aufgehängt oder auf offener Straße erschossen.
Auch im Bereich der inneren Verwaltung wurden immer radikalere Maßnahmen zur Wahrung der Disziplin getroffen: So hatte Himmler erst wenige Wochen vorher, am 30. Januar 1945, die Erschießung des Polizeipräsidenten der Stadt Bromberg wegen “Feigheit und Pflichtvergessenheit” angeordnet und den Regierungspräsidenten, den Bürgermeister und den Kreisleiter abgesetzt und sie gezwungen, der Exekution beizuwohnen. Der Chef der Parteikanzlei Martin Bormann hatte diesen Gewaltakt anschließend in einem Rundschreiben über das “Verhalten der Dienststellen bei Feindannäherung” als Abschreckungsmaßnahme im ganzen “Noch-Reich” bekannt gemacht.17 So ist es nicht verwunderlich, dass Stuckart sich zunächst an die Reichskanzlei wandte und vorsichtig anfragte, ob jetzt nicht der Zeitpunkt gekommen sei, zu dem sich die Reichsregierung aus Berlin nach Norden absetzen sollte. Dies wurde schließlich von Bormann persönlich mit der Maßgabe genehmigt, möglichst ohne Aufsehen abzureisen.18 Hitler hatte an seinem 56. Geburtstag am 20. April 1945 den sogenannten Fall Clausewitz ausgerufen: Angesichts der herannahenden Front sollten nun Regierungs-, Wehrmachts- und SS-Dienststellen evakuiert und alle Akten, die dem Feind in die Hände fallen könnten, vernichtet werden.19 So wurden Stuckart und eine Reihe seiner Mitarbeiter – noch bevor der sowjetische Belagerungsring um die Stadt am 25. April 1945 endgültig geschlossen wurde – im Gefolge von Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop, dem Reichsminister für die besetzten (tatsächlich lang abhanden gekommenen) Ostgebiete Alfred Rosenberg, dem Reichsfinanzminister Johann Ludwig Graf Schwerin von Krosigk, Reichsarbeitsminister Franz Seldte, Reichsernährungsministers Herbert Backe und Reichsverkehrsminister Julius Heinrich Dorpmüller aus Berlin evakuiert.20 Ihr Sammelpunkt war zunächst das Landratsamt des Städtchens Eutin. Dort fand am 23. April 1945 auch die erste “Kabinettssitzung” unter Leitung von Graf Schwerin von Krosigk statt. Selbst in diesem improvisierten Exil dauerten die Kompetenzstreitigkeiten an. Nach seiner Verabschiedung von Hitler am 21. April 1945 war Großadmiral Karl Dönitz “zur Verteidigung des Nordraumes” fest entschlossen und ernannte den Bremer Gauleiter Paul Wegener für die gesamte zivile Verwaltung dieses Gebietes als obersten Reichsverteidigungskommissar. Unter “Ausschaltung der Reichsministerien” sollte eine möglichst enge Verbindung zu den Oberbefehlshabern des Heeres gehalten werden. Eine derartige Übergehung war für die in Eutin versammelten Ministerialbeamten jedoch nicht akzeptabel. Am 25. April 1945 protestierten sie gegenüber Wegener, dass sich die Ausschaltung der Ministerialverwaltung nicht mit den Großadmiral Dönitz verliehenen Befugnissen decke, die sachlich durch die Aufgabe der Verteidigung und räumlich auf den “Nordraum” begrenzt seien. Man einigte sich schließlich, dass die Arbeit der Ministerien weiterlaufen und die den “Nordraum” betreffenden Anordnungen nunmehr über Stuckart an Wegener übermittelt werden sollten.21
Anfang Mai sammelten sich die Mitglieder der Reichsregierung dann in Flensburg. Himmler hatte dort bereits am 2. Mai 1945 mit einem Stab von 150 Personen Quartier genommen, darunter die Spitzen des SD, Vertreter des SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes, der Inspekteur der Konzentrationslager Richard Glücks und einigen KZ-Kommandanten, darunter Rudolf Höß (Auschwitz).22 Am 3. Mai erreichten Dönitz und die Vertreter der aus Berlin in den “Nordraum” evakuierten Reichsministerien in den Morgenstunden die Marineanlagen in Flensburg-Mürwik, nordöstlich der Innenstadt.23 Zur selben Zeit wie Dönitz und sein Gefolge trafen Überlebende der KZ Sachsenhausen und Neuengamme in Flensburg ein. In den Mittagsstunden kam in Mürwik zudem der Lastkahn “Ruth” an, auf dem sich Häftlinge aus dem KZ Stutthof bei Danzig befanden. Von den mehr als 1.000 eingeschifften Häftlingen des KZs hatten nur 630 die Fahrt überlebt. Am Folgetag, dem 4.5. um 9.30 Uhr, erreichte ein weiterer Transport aus dem Hamburger KZ Neuengamme den Bahnhof. Augenzeugen berichteten, dass die Häftlinge aus den Viehwaggons nach Wasser schrien.24 Nahmen die Beamten der Reichsministerien diese Vorgänge wahr oder waren sie zu sehr mit sich beschäftigt? Die Lage war unübersichtlich. In Lüneburg hatte Generaladmiral Hans-Georg von Friedeburg in Dönitz’ Auftrag mit dem britischen Feldmarschall Bernard Montgomery eine Teilkapitulation der Wehrmacht in Nordwestdeutschland sowie in Dänemark und Holland verhandelt.25 Flensburg wurde am 4. Mai 1945 zur “offenen Stadt” erklärt. Am selben Tag verkündete Himmler anlässlich einer Versammlung im Polizeipräsidium mit den Spitzen von Gestapo und SS, dass er die Bildung einer “reformierten” NS-Verwaltung in Schleswig-Holstein plane, die mit den Westmächten Friedensverhandlungen aufnehmen sollte.26 Der Versuch Himmlers, sich an der Regierung Dönitz zu beteiligen, scheiterte jedoch. Er floh aus Flensburg und geriet am 21. Mai in britische Gefangenschaft, blieb jedoch zunächst unerkannt, da er einen “Vorläufigen Entlassungsschein”, ausgestellt auf den Namen Feldwebel Heinrich Hizinger bei sich trug. Seine Identität gab er erst zwei Tage später in Lüneburg preis und nahm sich dann mit einer Zyankalikapsel das Leben.
Das Deutsche Reich hatte mittlerweile am 7. Mai 1945 in Reims gegenüber den West-Alliierten und am 8. Mai 1945 in Berlin-Karlshorst gegenüber der Roten Armee kapituliert. Zuvor war am Abend des 5. Mai 1945 in Mürwik eine “geschäftsführende Reichsregierung” gebildet worden.27 Um den Titel “Reichskanzler” zu vermeiden, ernannte Dönitz den Reichsminister der Finanzen Lutz Graf Schwerin von Krosigk zum “Leitenden Reichsminister” und Außenminister. Albert Speer wurde als Wirtschafts- und Produktionsminister und Julius Dorpmüller als Verkehrsminister bestätigt. Stuckart wurde als Nachfolger Himmlers mit der Führung der Geschäfte des RMdI und des Reichserziehungsministeriums beauftragt. Als amtierender Innenminister verfügte Stuckart in Flensburg über das zweitgrößte Ressort mit 13 Amtsangehörigen und 9 Hilfskräften. Der Staatssekretär für das Gesundheitswesen Leonardo Conti war ihm unterstellt.

Erst am 13. Mai, einem Sonntag, besetzten britische Truppen Flensburg und verfügten die Schließung des “Reichssenders”, über den Dönitz noch zur deutschen Bevölkerung gesprochen hatte. Wenige Tage später, am 16. Mai, wurden auch die in Mürwik stationierten deutschen Soldaten von den britischen Streitkräften entwaffnet. Im Lazarett der Marineschule wurde kurze Zeit später Alfred Rosenberg verhaftet. Insgesamt nahmen die britischen Streitkräfte in Flensburg ca. 2.000 Gestapo- und andere NS-Funktionäre gefangen, die versucht hatten, sich als Wehrmachtsangehörige zu tarnen. Die Mitglieder der “geschäftsführende Reichsregierung” sowie 420 hohe Beamte und Offiziere wurden jedoch erst am Mittwoch, den 23. Mai 1945, von ihren Ämtern entbunden und verhaftet. Wenige Tage später meldete das amerikanische Time Magazin: “Das Deutsche Reich starb an einem sonnigen Morgen des 23. Mai in der Nähe des Ostseehafens Flensburg.”28 Die “geschäftsführende Reichsregierung” wurden zunächst in Flensburg inhaftiert, dann nach Luxemburg geflogen und im zum Untersuchungsgefängnis umgebauten Palasthotel in Bad Mondorf, dem sog. Camp Ashcan, gefangen gehalten.29

Stuckart blieb in seiner kurzen Amtszeit als geschäftsführender Innen- und Volksbildungsminister nicht untätig. Er nahm an Besprechungen mit der britischen Überwachungskommission teil30 und erstellte für die neue Reichsregierung anlässlich der Halbierung der Lebensmittelrationen für die Bevölkerung ein Gutachten zur prekären Ernährungslage.31 Am 14. Mai 1945 befasste er sich in einem anderen Gutachten mit der Frage der Rechtmäßigkeit der Regierung Dönitz als Nachfolge der Regierung Hitler32 und am 22. Mai 1945 zur völkerrechtlichen Stellung des Reiches nach der bedingungslosen Kapitulation.33 Dieses Gutachten — so skurril dies angesichts der Gesamtumstände erscheinen mag — beschäftigte sich mit einer wichtigen völkerrechtlichen Frage, die noch lange umstritten bleiben sollte und nicht nur theoretische Folgen hatte. Stuckart kann damit sogar als einer der Begründer der sogenannten Fortbestandstheorie gelten, auf die sich die Bundesrepublik als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches später berufen sollte und die auch für die rechtliche Einordnung der Besatzungsmaßnahmen von großer Bedeutung war: War das Deutsche Reich untergegangen oder nur besetzt worden mit der Folge, dass die Besatzungsmächte an die Haager Konventionen gebunden waren? Was geschah mit dem Reich als Anstellungskörperschaft der Beamten? Bestand es fort, so musste die Versorgung gewährleistet, aber auch das Unrecht entschädigt werden, das “in deutschem Namen” im Zweiten Weltkrieg angerichtet worden war.
Als am 23. Mai 1945 die Mitglieder der Regierung Dönitz in Flensburg festgenommen wurden, befand sich Stuckart bei seiner Frau Lotte, die erst am 21. April 1945 das heftig umkämpfte Berlin-Wannsee verlassen hatte. Als er von der Verhaftung der anderen Regierungsmitglieder erfuhr, stellte sich Stuckart am 24. Mai 1945 freiwillig der britischen Militärbehörde und wurde schließlich am 26. Mai 1945 verhaftet und aufgrund der Bestimmungen über den automatic arrest interniert.34 Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess fungierte er als Sachverständiger Zeuge im Verfahren gegen Wilhelm Frick. Er selbst wurde erst im sogenannten Wilhelmstraßenprozess 1947 angeklagt und u.a. aufgrund des mittlerweile aufgefundenen Protokolls der Besprechung am Wannsee zu einer vergleichsweise milden Haftstrafe von drei Jahren und 10 Monaten Haft verurteilt. Seine in alliiertem Gewahrsam verbrachte Haftzeit wurde ihm angerechnet, so dass er 1949 freikam und sich in Niedersachsen wieder politisch betätigen konnte. Anders als zahlreiche andere RMdI-Beamte übernahm er jedoch keine Funktion in der neuen Bundesverwaltung mehr und verstarb bereits 1953 bei einem Autounfall.

Dr. Hans-Christian Jasch ist Referent im Bundesministerium des Innern und Generalsekretär der Deutschen Sektion des Internationalen Instituts für Verwaltungswissenschaften. Er leitete von 2014 bis 2020 die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz. Sein Beitrag stützt sich auf seine Arbeit zu „Staatssekretär Wilhelm Stuckart und die Judenpolitik. Der Mythos von der sauberen Verwaltung“, die 2012 beim Oldenbourg Verlag München als Band 84 der Studien zur Zeitgeschichte des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) veröffentlicht wurde.
Vgl. Günther Neliba, Wilhelm Frick. Der Legalist des Unrechtsstaats, Paderborn (Schöningh), 1992, S. 283; Stephan Lehnstaedt, Das Reichsministerium des Innern unter Heinrich Himmler 1943–1945, in: VfZ 54 (2006), S. 639-672, vgl. hier S. 643; Jasch, Staatssekretär Wilhelm Stuckart und die Judenpolitik. Der Mythos von der sauberen Verwaltung, München (Oldenbourg Verlag) 2012 (= Studien zur Zeitgeschichte des Instituts für Zeitgeschichte, Band 84).
↩Dies veranlasste den Innenstaatssekretär Wilhelm Stuckart am 7.2.1945 dazu, in einem Runderlass zur Geschäftsvereinfachung die nachgeordneten Behörden anzuweisen, Dienstschreiben “in knappster Form”, “im Fernschreibstil” zu verfassen und “veraltete Höflichkeitsformeln wie ‘ergebenst’ oder ‘gefl.’ usw.” wegzulassen, vgl. RMBliV 1944, S. 146, in: BAB R 1501/358, Bl.128.
↩Vgl. Deutsche Verwaltung 1945, Heft 1, S.1-4; vgl. auch: Dieter Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg (Frankfurter Historische Abhandlungen), Frankfurt 1989, S. 525.
↩Vgl. Franz Leopold Neumann, Behemoth, Struktur und Praxis des Nationalsozialismus, Frankfurt (Fischer) 1984, S. 558. Aktualisierte Neuausgabe, herausgegeben von Alfons Söllner, Michael Wildt. Europäische Verlagsanstalt (EVA), 2018.
↩So der “Grundsätzliche Befehl für die Vorbereitungen zur Verteidigung der Reichshauptstadt” vom 9. März 1945 von General Hellmuth Reymann, abgedruckt ebenda, S. 25.
↩Vgl.: VO über die Errichtung von Standgerichten, in: Reichsgesetzblatt 1945 I, S. 30; alex.onb.ac.at/cgi-content/alex (eingesehen: 14.11.2024).
↩Durch “Führererlass” wurde am 9. März 1945 zudem ein “fliegendes Standgericht” errichtet, welches unmittelbar Adolf Hitler unterstand und von ihm allein Aufträge erhielt Aufträge. Vgl. Martin von Moll, “Führer-Erlasse” 1939-1945: Edition sämtlicher überlieferter, nicht im Reichsgesetzblatt abgedruckter, von Hitler während des Zweiten Weltkrieges schriftlich erteilter Direktiven aus den Bereichen Staat, Partei, Wirtschaft, Besatzungspolitik und Militärverwaltung. Steiner, Stuttgart 1997. Hierzu: Peter Lutz Kalmbach, Fliegende Standgerichte – Entstehung und Wirkung eines Instruments der nationalsozialistischen Militärjustiz, in: VfZ 69 (2021) H. 2, S. 211-239.
↩Vgl. Diether Rebentisch, Führerstaat, S. 530 f.; Bekanntmachung 61/45 vom 8.2.1945, in: Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BAB) NS 6/353.
↩Marlies Steinert, Die 23 Tage der Regierung Dönitz, Düsseldorf 1967, S.73 und S.138; vgl. auch: Vermerk Kritzingers zur Absetzung der Führungsstäbe aus Berlin am 20.-23.4.1945 in den Akten der Regierung Dönitz, BAB R 62/10.
↩RMdI Himmler hatte bereits im September 1944 Anweisungen über das Verhalten bei Feindbesetzung gegeben. Alle Landräte und Bürgermeister hatten demnach dafür zu sorgen, Akten “geheimer oder politischer Art und solche, die für den Feind von Bedeutung für seine Kriegsführung sein können”, zu vernichten. Dazu zählten auch Karteien der Wirtschaftsämter, Ernährungsämter und dergleichen, die “dem Feind Unterlagen für Maßnahmen gegen die deutsche Bevölkerung oder für einen Einsatz zum Nutzen des Feindes geben könnten”. Vgl. Michael Richter, Aktenvernichtung am Ende der NS-Herrschaft 1945 in der Oberlausitz, in: Sächsische Heimatblätter 1/2018, S. 61-67.
↩Vgl. hierzu: Klaus Hesse, Das “Dritte Reich” nach Hitler. 23 Tage im Mai 1945. Eine Chronik / The Third Reich after Hitler. A Chronicle of 23 Days in May 1945, Berlin 2016.
↩Steinert, Die 23 Tage der Regierung Dönitz, S. 73; Mitteilung Stuckarts an Dönitz, in: BAB R 62/11a, fol. 136.
↩Vgl.: Gerhard Paul, Inferno und Befreiung. Der letzte Spuk. Drei Wochen zwischen Größenwahn und Terror: In Flensburg versucht Hitlers Nachfolger Großadmiral Karl Dönitz noch bis zum 23. Mai 1945, das Deutsche Reich aufrechtzuerhalten, in: Zeit online 19/2005, S.94, www.zeit.de/2005/19/A−Flensburg.
↩Vgl. hierzu Dönitz Adjutant Walter Lüdde-Neurath, Die Regierung Dönitz. Die letzten Tage des Dritten Reiches, Schnellbach, 1999; Steinert, Die 23 Tage der Regierung Dönitz; Paul, Der letzte Spuk, in: ZEIT ONLINE, 19/2005, S. 94.
↩Zu der Verhaftung hatten die Alliierten eigens aus Paris Fotografen und Kameramänner einfliegen lassen, denen im Hof des Polizeipräsidiums Dönitz und Jodl und Speer vorgeführt wurden. Vgl. Lüdde-Neurath, Die Regierung Dönitz, S. 111–115; Albert Speer, Erinnerungen, Berlin (Ullstein) 1969, S. 502–504.
↩In seiner Funktion als geschäftsführender Volksbildungsminister führte Stuckart am 19.5.1945 mit dem britischen Offizier, Capt. R. H. Thomas ein einstündiges Gespräch zur Erziehung und Ausbildung im “Dritten Reich”, vgl. Public Record Office Kew Gardens, London, FO 1050/1271.
↩Vgl. Stuckarts Bericht über “Gesundheitliche Gefahren bei unzureichender Ernährung”. Stuckart wies insbesondere auf die durch Schwächung des Immunsystems bedingte Seuchengefahr sowie die “Vermehrung aller Arten von Radikalismus” hin, vgl. Steinert, Die 23 Tage der Regierung Dönitz, S.264 f., Anm. 375; BAB R 3/1625.
↩Entsprechend der Erklärung der Siegermächte vom 5.6.1945 war der deutsche Staat am 8.5.1945 untergegangen und durch ein Kondominium der Alliierten, das alle deutschen Staatsfunktionen an sich gezogen hatte, ersetzt worden. Vgl. hierzu: Hans Kelsen, The International Legal Status of Germany to be Established Immediately upon Termination of the War, in: American Journal of International Law 38/4 (1945), S.689–694; Walter Perels, Die Übernahme der Beamtenschaft des Hitlerregimes, in: Kritische Justiz 37 (2004), S.186–193, hier S.187.
↩Die Richtlinie für die Durchführung von summarischen Verhaftungen (automatic arrest) war in einem Annex des „Military Government Handbook“ enthalten, das Ende 1944 vom gemeinsamen Oberkommando der in Europa operierenden Streitkräfte der USA und Großbritanniens (SHAEF) ausgearbeitet worden war und zur Regelung der Verwaltung in den Besatzungszonen dienen sollte. Demnach sollten u.a. alle Spitzenbeamten vom Ministerialrat bzw. Regierungspräsidenten aufwärts, Gauhauptleute, Landräte, Bürgermeister sowie alle Personen, die auf den alliierten Kriegsverbrecherlisten erschienen, verhaftet und interniert werden. Zu den alliierten Internierungslagern in Deutschland s. Lutz Niethammer, Allierte Internierungslager in Deutschland nach 1945, in: Christian Jansen/L. Niethammer/Bernd Weisbrod (Hrsg.), Von der Aufgabe der Freiheit. Politische Verantwortung und bürgerliche Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1995, S. 469–492.
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