Die Teilnehmer der Wannsee-Konferenz – und eine Sekretärin

Gerade ist die zweite, überarbeitete und erweiterte Auflage unseres Sammelbandes über die „Männer der Wannsee-Konferenz“ erschienen. Neben den 15 Teilnehmern wird nun eine weitere Anwesende biografisch porträtiert: Die Sekretärin Adolf Eichmanns aus dem Reichssicherheitshauptamt, Ingeburg Werlemann, die am 20. Januar 1942 stenografierte.

© Metropol-Verlag
Buchcover "Die Teilnehmer"

Die sogenannte Wannsee-Konferenz war eine Besprechung auf Staatssekretärsebene. Die meisten Geladenen waren daher keine „prominenten“ Nationalsozialisten. Die Namen, die vielen heute noch bekannt sind – Heydrich, Eichmann und Freisler – werden mit weiteren NS-Verbrechen in Verbindung gebracht und sind deshalb im kollektiven Gedächtnis geblieben. Insofern wurde 2017, als die erste Auflage des Buches „Die Teilnehmer“ erschien, eine wichtige Leerstelle in der Aufarbeitung dieses Ereignisses geschlossen. Erstmals wurde ausführlich zu allen Biografien recherchiert und bisherige Kenntnisstände aus Einzeluntersuchungen zusammengetragen. Im Ergebnis beginnen die präsentierten Lebensläufe in der Regel mit den ersten politischen Betätigungen nach dem Ersten Weltkrieg, zeichnen Karrierewege im NS-System nach und reichen da, wo es möglich war, bis in die Nachkriegszeit.

Der damals gewählte Untertitel „Die Männer der Wannsee-Konferenz“ erklärt sich aus dem Bedürfnis der Herausgeber Hans-Christian Jasch und Christoph Kreutzmüller, die Teilnehmer auch als Gruppe möglichst präzise zu charakterisieren. Bezüglich Alter, familiärem Hintergrund und Ausbildung gab es viele Überschneidungen, aber offensichtlich war vor allem: „Unter den Geladenen befanden sich keine Frauen. Angesichts des ausgesprochenen Chauvinismus der Nationalsozialisten, die Frauen in Führungspositionen allenfalls in Fürsorgeberufen duldeten, ist dieser Befund wenig überraschend.“1 Täterschaft war auf dieser Hierarchieebene eben männlich.

Die Sekretärin

Dass mindestens eine Person die Besprechung mitstenografierte, war seit dem Eichmann-Prozess bekannt. Der Name Werlemann fiel erstmals 1962 in einem Zeitungsartikel. Offenbar hielt die Zunft der NS-Historiker*innen die Klärung dieser Frage über Jahrzehnte hinweg für nicht relevant genug, um sich tatsächlich mit der Aktenlage zu beschäftigen. Möglicherweise mit der gleichen Begründung, die auch die Justiz anwandte: Ihre Anwesenheit habe keinen Einfluss auf den Ablauf und Inhalt der Besprechung genommen. Sie sei eben „nur“ ein Rad im Getriebe der Bürokratie gewesen.

Auch in unserer Dauerausstellung von 2020 wird Werlemann (noch) nicht thematisiert, obwohl die Ergebnisse der Recherchen unseres langjährigen freien Mitarbeiters, des Historikers Marcus Gryglewski, bereits vor der Eröffnung bekannt wurden. Mit dem Bedürfnis, die Rolle der Teilnehmer der „Wannsee-Konferenz“ insbesondere hinsichtlich ihrer Hierarchie innerhalb des Systems zu erklären, erschien die Hinzunahme der Sekretärin zu kompliziert bzw. hätte dies die Eröffnung eines ganz neuen Themenfeldes nötig gemacht.

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In unserer Dauerausstellung wird die Hierarchie innerhalb der Anwesenden und in Bezug zu den Entscheidungsträgern über ein Organigramm erklärt.

Umso wichtiger ist es, dass jetzt, in der zweiten Auflage des Sammelbandes über die „Teilnehmer“, ein eigener Beitrag zur Biografie von Ingeburg Werlemann ergänzt und ein gesonderter Blick auf die Behandlung von NS-Täterinnen in Justiz und Geschichtswissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten geworfen wurde. 

Marcus Gryglewski hat sich der Person Ingeburg Werlemann, verheiratete Wagner, genähert, soweit dies mit den überlieferten Quellen möglich war. Individuelle Spuren ihrer Arbeit als Sekretärin im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) sind heute kaum zu rekonstruieren. In den mindestens sieben Zeugenaussagen vor Gericht zwischen 1962 und 1970, die im Beitrag ausführlich behandelt werden, hat sie weder über ihre Überzeugungen noch ihre Rolle in der Zeit des Nationalsozialismus gesprochen. Laut privatem Umfeld war ihre Tätigkeit als Sekretärin Adolf Eichmanns zumindest in den Jahren vor ihrem Tod 2010 kein Thema, über das gesprochen wurde. Es ist allerdings schwer vorstellbar, dass das auch für die 1960er Jahre galt: Nur dreieinhalb Wochen nach der Hinrichtung ihres einstigen Chefs 1962 in Jerusalem, über dessen Prozess weltweit intensiv berichtet worden war, musste Werlemann/Wagner das erste Mal als Zeugin aussagen. Dieser Auftritt muss sie aufgewühlt haben. Sie musste nach dem damaligen Rechtsverständnis aufgrund ihrer untergeordneten Stellung zwar keine eigene Strafverfolgung befürchten, entschied sich aber offenbar auch dazu, nichts zur Aufklärung der Verbrechen des RSHA beizutragen und berief sich stattdessen wiederholt auf Gedächtnislücken. Als sie nach ihrer Anwesenheit bei der „Wannsee-Konferenz“ gefragt wurde, gab sie an, in Wannsee bei einer Besprechung stenografiert zu haben, sich allerdings an nichts Weiteres  zu erinnern: „Weiß sogar nicht einmal mehr, ob Judenangelegenheiten besprochen wurden.“2 Gryglewski weist mit Hilfe dieser und weiterer Prozessmitschriften nach, dass es sich zweifelsfrei um die Besprechung vom 20. Januar 1942 handelte, bei der, so Werlemann/Wagner, „viel durcheinander gesprochen“ worden sei. 

„Weltanschaulich klar ausgerichtet“

Schaut man sich Werlemann/Wagners Lebenslauf und berufliche Stationen an, die Gryglewski detailliert untersucht, wird offenbar, dass „Judenangelegenheiten“ darin eine wiederkehrende Rolle spielten; sie sogar eine mustergültige Entwicklung im Sinne des NS-Regimes durchlief: Die 1919 geborene Werlemann trat als 14-Jährige dem Bund Deutscher Mädel bei, wurde später Mitglied bei der Deutschen Arbeitsfront und der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt und trat 1938, nach der vollständigen Aufhebung der Aufnahmesperre, in die NSDAP ein. Nach ihrer Ausbildung zur Kontoristin arbeitete sie ab Juni 1936 zwei Jahre lang für die Mitteldeutsche Textil AG, die Anfang des gleichen Jahres alle jüdischen Mitarbeiter*innen, darunter Joseph Chotzen, entlassen hatte (die Geschichte der Familie Chotzen ist Teil unseres Bildungsangebots). Sie wechselte als Stenotypistin zur Durchführungsstelle für die Neugestaltung der Reichshauptstadt des Generalbauinspektors. Dort war man zu dieser Zeit vor allem mit der Zwangsräumung jüdischer Mieter*innen beschäftigt. Am 1. März 1940 nahm sie schließlich ihre Tätigkeit für die SS im Referat IV D4 „Auswanderung und Räumung“ im RSHA auf. Im Büro in der Kurfürstenstraße 115/116 arbeitete sie zunächst für Theodor Dannecker und die Zentralstelle für jüdische Auswanderung Berlin, wenige Monate später wechselte sie ins Vorzimmer von Adolf Eichmann. „Judenangelegenheiten“ waren also das ihre Arbeit bestimmende Thema: Verdrängung, Vertreibung, Deportationsplanungen nach Madagaskar bis hin zur „Wannsee-Konferenz“. 

Auch für die Mitarbeiterinnen eines SS-Amtes galten seit Oktober 1943 besondere Anforderungen: Für ihre Heirat mit Heinz Wagner im Juni 1944 bescheinigten ihre Kollegen aus dem Referat gegenüber dem Rasse- und Siedlungsamt, dass sie „weltanschaulich klar ausgerichtet“ sei. Eine Kollegin bezeichnete Werlemann/Wagner 1967 vor Gericht als „eine ganz überzeugte Nationalsozialistin“. Diese Überzeugung und auch die Bedeutung, die ihre Arbeit für sie gehabt haben muss, spielen nach 1945 für sie angeblich schlagartig keine Rolle mehr.

Mitwirkung von Frauen an NS-Verbrechen 

Warum eine Person wie Ingeburg Werlemann zwar vor Gericht aussagen musste, aber nicht selbst angeklagt wurde, erläutert der Beitrag von Wolf Kaiser über „Justiz und Geschichtswissenschaft zur Mitwirkung von Frauen an nationalsozialistischen Massenverbrechen“.  Er zeichnet die Entwicklung in der Nachkriegszeit, vom Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess und den Nachfolgeprozessen, in denen nur zwei Frauen angeklagt wurden, bis in die Gegenwart nach und benennt die aktuelle Forschungslage zu Fragen der Mitwirkung von Frauen. Dieser weitere Text war in der Zusammenschau nötig, weil das Buch in der ersten Auflage eben explizit im Hinblick auf männliche Täter zusammengestellt worden war. 

Die Ergänzung des Sammelbandes um die Biografie einer Frau und damit um jemanden, der – im Vergleich zu den anderen Teilnehmern – eine untergeordnete Funktion einnahm, zog intern eine Reihe von Fragen nach sich. Tatsächlich fiel in der Vorbereitung der zweiten Auflage auf, dass es 2017 noch nicht zu unseren internen Absprachen gehörte, in Texten zu gendern. Über sechs Jahre später hat sich das Gefühl für Sprache allerdings verändert. An vielen Stellen fiel die Ergänzung der weiblichen Form leicht – an anderen waren weitere Recherchen erforderlich: Bestand eine bestimmte (Berufs-)Gruppe nur aus Männern oder hätte auch eine Frau dabei gewesen sein können? Vor allem mussten wir darüber diskutieren, ob es sich bei Ingeburg Werlemann um eine Teilnehmerin der Wannsee-Konferenz handelte. Hätte das Buch also, konsequent gegendert, eigentlich „Die Teilnehmer*innen“ heißen müssen? Oder führt nicht das Gendern, das Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern herstellen soll, in diesem Fall zu einer Überbetonung der weiblichen Rolle und damit zu einer Form von Ungenauigkeit, da Werlemann als Sekretärin kein Rederecht und somit inhaltlich nicht verantwortlich war? Von welchem Täter(*innen)begriff gehen wir aus, wenn wir Werlemann/Wagner nicht als „Teilnehmerin“ präsentieren?  Welche Implikationen hat es, wenn wir die Mitarbeitenden von verbrecherisch tätigen Institutionen und ihre Rolle in der NS-Gesellschaft in den Blick nehmen wollen?

Das Ergebnis ist eine pragmatisch verlegerische Entscheidung: Titel und Untertitel bleiben wie in der Erstausgabe. Denn ein angemessener Blick in die Hierarchie-Ebene unterhalb der teilnehmenden Staatssekretäre wäre ein anderes Buchprojekt, für das neue Forschung notwendig ist.

vgl. Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz (Hrsg.): Die Teilnehmer. Die Männer der Wannsee-Konferenz. Zweite, überarbeitete und erweiterte Auflage, Berlin 2024, S. 13

vgl. ebenda, S. 318

Autorin:

Dr. Ruth Preusse

Abteilung Kommunikation und Öffentlichkeit / wissenschaftliche Mitarbeiterin, Projektsteuerung

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