Der Briefeschreiber Joseph Wulf
Vom 8. bis 10. Oktober 2024 fand in der Gedenk- und Bildungsstätte eine internationale Tagung unter dem Titel “Zeugenwissen und engagierte Geschichtsschreibung: Der Holocausthistoriker und -dokumentarist Joseph Wulf (1912–1974)” statt. Auch eine kommentierte Lesung aus Wulfs umfangreichem Briefwechsel mit verschiedenen Akteuren der Zeitgeschichte war Teil des Programms.
Ein Auszug.
Einführung: Aurélia Kalisky (Berlin) und Nicolas Berg (Leipzig)
Joseph Wulf war ein passionierter und engagierter Briefschreiber. Täglich schrieb er viele Anfragen, Gesuche, Antworten, aber auch Freundschafts- und Arbeitsbriefe an Mitstreiter, Kollegen und Freunde. Der Briefwechsel zwischen Joseph Wulf und Léon Poliakov etwa, für lange Zeit sein engster Kollege, spiegelt einen intensiven thematischen und fachlichen Austausch, insbesondere zwischen 1954 und 1960, der Zeit, in der die von ihnen gemeinsam herausgegebenen Bände “Das Dritte Reich und die Juden” (1955), “Das Dritte Reich und seine Diener” (1956) und “Das Dritte Reich und seine Denker” (1959) erschienen. Diese Phase wurde dann von einem Austausch in größeren Abständen abgelöst, der bis 1973, kurz nach Jenta Wulfs Tod, andauerte. Léon Poliakov war jedoch nur einer von mehreren Dutzend regelmäßigen Briefpartnern Wulfs, mit denen er einen engen brieflichen Kontakt hielt. Seit der unmittelbaren Nachkriegszeit und seiner Ankunft in Westeuropa stand Wulf damit im Zentrum eines Kommunikationsnetzes, das die Überlebenden über Grenzen und Meere hinweg miteinander verband.
Wulf korrespondierte auf Jiddisch, Polnisch, Französisch und Deutsch mit Gefährten und ehemaligen Mitarbeitern in den Jüdischen Historischen Kommissionen, mit jenen also, die nach Palästina/Israel emigriert waren, mit jenen, die sich dauerhaft in Westeuropa niedergelassen oder es nie verlassen hatten, und mit jenen, die in die USA und nach Südamerika ausgewandert waren. Einen weiteren großen Teil seiner Korrespondenz macht aber auch der Austausch mit Deutschen aus: mit Historikern, Politikern, Schriftstellern und vor allem mit Institutionen, also Ministerien und Behörden, Archiven, verschiedenen Ämtern, Gerichten, politischen Parteien, Gewerkschaften, natürlich auch mit Universitäten und Forschungsinstituten sowie, nicht zuletzt, auch mit Vertretern beider christlicher Konfessionen und Angehörigen der Bundeswehr.
In vielen dieser Briefe ist es der an den Rand gedrängte, zeitweise geächtete, aber immer selbstbewusste und glasklar formulierende Joseph Wulf, von dem wir hören, wie er um die Erfüllung seiner aufklärerischen Mission und zugleich um sein eigenes wirtschaftliches Überleben kämpft. Jeder noch so kleine, individuelle und scheinbar triviale Kampf – der Zugang zu einem Archiv und einem bestimmten Dokument, die Beantragung eines Passes, die Suche nach einem Verleger oder einer Zeitung, um ein Buch oder einen Artikel zu veröffentlichen – all das erhält einen hohen symbolischen Wert und wird aufschlussreich für seine Situation als osteuropäisch-jüdischer Exilant ohne deutsche Staatsbürgerschaft und als Überlebender im Land der Täter.
In den Briefen erkennt man auch Wulfs Bestreben, von prominenten Akteuren der europäischen Nachkriegskultur und als Mitstreiter innerhalb der intellektuellen Elite Anerkennung zu finden. Das gilt etwa für den bemerkenswerten Briefwechsel mit Ernst Jünger, der 1962 begann und bis zu Wulfs Tod 1974 reichte (dieser Austausch wurde vor einigen Jahren von Detlev Schöttker und Anja Keith im Verlag Klostermann ediert). Der Nachlass bezeugt insgesamt Wulfs unablässige Versuche, mit repräsentativen Schriftstellern und Künstlern, Politikern, Journalisten und Intellektuellen ins Gespräch zu kommen und so ihre Position zur deutschen NS-Vergangenheit und zu den Verbrechen an den europäischen Juden zu erfahren. Die Antwort auf die Frage: Wie sprechen diese Repräsentanten und Vertreter ihrer Institutionen und gesellschaftlichen Gruppen mit mir? war für Wulf schon damals das – über den jeweiligen Inhalt des Briefwechsels hinausgehende – Interessante; er hatte erkannt, dass seine doppelte Außenseiterrolle als polnischer Jude aus Osteuropa, der den Eisernen Vorhangs in Richtung Westen hinter sich gelassen hatte, als Überlebender, der das Krakauer Ghetto, Auschwitz und die Todesmärsche überlebt hatte, und als Publizist und Historiker seinen Austausch mit Vertretern der deutschen Gesellschaft symptomatisch machte.
Ab 1963 nahm dieses Projekt der repräsentativen oder symptomatischen Briefgespräche dann sogar ganz konkrete Form an: Joseph Wulf hatte die Idee, die wichtigsten Stücke aus seinem Austausch mit westdeutschen Akteuren und Institutionen in der Nachkriegszeit zu bündeln und in sogenannten Tagebüchern zu veröffentlichen. Der Projekttitel hierfür variierte zwischen 1963 und den frühen siebziger Jahren von “Tagebücher 1962-1965” und “Berliner Tagebuch” über “Tagebuch eines Zeithistorikers” schlussendlich zu “Tagebuch eines Ostjuden”. In einem Brief kurz vor seinem Tod sprach er von diesem Projekt als seinem “Lebenswerk”.
Wir wissen nicht genau, wie diese geplanten “Tagebücher eines Ostjuden” aussehen sollten, aber wir ahnen, dass er eine Art kaleidoskopische Sammlung im Sinn hatte und aus allen Themen, Fragen und Aufzeichnungen seiner öffentlichen und privaten Auftritte in Westdeutschland diejenigen publizieren wollte, die den Umgang der deutschen Gesellschaft mit dem Holocaust zwischen den 1950er und den 1970er Jahren am deutlichsten aufzeigten. Das Ganze sollte wohl eine Art retrospektiver politischer Zeitkommentar zum Umgang der Bundesrepublik mit der NS-Zeit bilden, der zugleich die intellektuelle Autobiographie Wulfs und die politische Kulturgeschichte Nachkriegsdeutschlands sein sollte. Das wäre der Rahmen gewesen für den Abdruck und die Kommentierung seiner diversen Korrespondenzen. Vor diesem Hintergrund entschied sich Wulf ab einem bestimmten Zeitpunkt dafür, seine Korrespondenzpartner zu fragen, ob sie einer zukünftigen Publikation der Briefe zustimmen würden; zugleich begann er damit, sich mit seinen Worten nicht nur allein an den Adressaten des Briefes zu wenden, sondern darüber hinaus auch an implizite Leserinnen und Leser: natürlich an die damaligen Westdeutschen, aber nicht nur an diese. Wenn wir diese Briefe hören oder lesen, müssen wir uns vor Augen halten, dass sich Wulf ab den frühen 1960er Jahren auch an eine zukünftige Öffentlichkeit, also an uns, wendet.
Es folgen zwei Briefe von Joseph Wulf an den Berliner Innensenator Joachim Lipschitz von Februar und März 1959: Joseph Wulf und Léon Poliakov sammeln zu dieser Zeit das Material für ihr drittes gemeinsames Werk, das den Titel “Das Dritte Reich und seine Denker” trägt und noch im selben Jahr erscheinen soll. Am 12. Februar wendet sich Joseph Wulf an Lipschitz mit der Bitte, sich beim Document Center, einem Dokumentationszentrum, in dem das Verwaltungsschriftgut aus der NS-Zeit zur Vorbereitung der Nürnberger Prozesse zentralisiert wurde, für den Zugang Wulfs zu allen Beständen einzusetzen. Das Document Center steht unter amerikanischer Leitung, und es geht hier auch um die Einsicht in die Personalakten ehemaliger Mitglieder der NS-Bürokratie und des Staatsapparates. Dies ist der Hintergrund für das zweite Schreiben an Lipschitz einen Monat später, aus dem Wulfs konkreter methodischer Blick auf die Ereignisse im “Dritten Reich” erkennbar wird, der fern aller theoretischer Modell- und Begriffssprache war, sondern stattdessen direkt auf die handelnden Personen zielt und aus diesem Grund auch deren Namen nennen möchte.
Wulf erhielt die erbetene Genehmigung, und das Document Center wurde in den Folgejahren zur Hauptquelle für fast alle seine weiteren Werke.
12. II. 1959
An den
Herrn Senator für Inneres Joachim Lipschitz
Berlin-Wilmersdorf
Fehrbelliner Platz 2
Sehr geehrter Herr Senator,
wahrscheinlich haben Sie bereits von meinen Arbeiten “Das Dritte Reich und die Juden”, “Das Dritte Reich und die Diener” (gemeinsam mit Léon Poliakov) gehört, denen bald der Dritte Band “Das Dritte Reich und seine Denker” folgen wird.
[…] Zur Zeit beschäftige ich mich mit dem Problem der Nazi-Weltanschauung im Hinblick auf die Juden. Im Zusammenhang damit wandte ich mich an das Berliner Document Centre bei der hiesigen USA-Mission, damit man mir gestatten möchte, das dortige Material – soweit es mit meinen augenblicklichen Studien zu tun hat – einzusehen. Mit Schreiben vom 10, ds. Mts. antwortete mir nun das Document Centre, bezüglich solcher Erlaubnis zur Einsichtnahme des Materials im Document Centre müsste ich mich an Sie, sehr geehrter Herr Senator, wenden.
Ich erlaube mir deshalb heute, um die Genehmigung zu bitten und hoffe dabei, sehr geehrter Herr Senator, dass Sie über meine Arbeiten genügend orientiert sind, um zu verstehen, wie wichtig für meine rein wissenschaftlichen Nachforschungen so eine Einsichtnahme ist. Ich darf vielleicht nochmals darauf hinweisen, dass alle meine Arbeiten strikt dokumentarisch sind und das Archiv des Document Centre deshalb von ausserordentlicher Wichtigkeit sein kann für mich. Indem ich bitte, die Genehmigung baldmöglichst erteilen zu wollen, bin ich mit verbindlichem Dank in voraus und dem Ausdruck der
vorzüglichen Hochachtung
Ihr sehr ergebener
Joseph Wulf
7. März 1959
Herrn
Senator für Inneres Joachim Lipschitz
Persönlich – Nicht durch Sekretariat
Berlin – Wilmersdorf
Fehrbellinerpl. 2
Sehr geehrter Herr Senator,
zunächst möchte ich Sie […] bitten, mich freundlicherweise persönlich empfangen zu wollen. Damit Sie aber jetzt schon wissen, um was es mir geht, führe ich folgendes aus:
Wie aus dem von Dr. Kreutzer unterzeichnetem Brief hervorgeht, kann mir die Einsicht in einzelne Personalvorgänge im Document Centre nicht erteilt werden und ich dürfte ja auch nur an generellen Vorgängen im Zusammenhang in der Nazi-Weltanschauung interessiert sein.
Da ich mich seit 13 Jahren mit derartigen Problemen befasse und darüber schon zahlreiche Bücher in verschiedene Sprachen veröffentlichte, kann ich mir kaum vorstellen, wie man bei einer wissenschaftlichen Analyse das eine vom anderen trennen kann. Die Weltanschauung des Dritten Reiches war nicht von abstrakten Konzeptionen diktiert, sondern ist von Menschen aus Fleisch und Blut geschaffen worden, die im Dritten Reich lebten.
Und noch eine kurze Bemerkung. Wie ich weiss, haben sehr viele deutsche Wissenschaftler, die sich mit derartigen Problemen befassen, das Recht zur Einsicht im Document Centre ohne jede Einschränkung.
Darf ich Sie, sehr geehrter Herr Senator, deshalb nochmals bitten, mir einen Termin anzugeben, an dem Sie mich empfangen wollen.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Ihr
Joseph Wulf