Kuratorische Herausforderungen. „Die Besprechung am Wannsee und der Mord an den europäischen Jüdinnen und Juden“
von Babette Quinkert und Katharina Zeiher
Auszug aus: Elke Gryglewski/Hans-Christian Jasch/David Zolldan (Hrsg.): Design für Alle. Standard? Experiment? Notwendigkeit? Das Making of zur 3. Dauerausstellung. Berlin: Metropol, 2021. S. 43-52.
Für die konzeptionelle Arbeit an der neuen Dauerausstellung im Haus der Wannsee-Konferenz galt es angesichts des Anspruchs an Barrierefreiheit und an ein „Design für Alle“, ein Narrativ zu entwerfen, das sowohl für Einzelbesucher*innen als auch für Teilnehmer*innen der pädagogischen Angebote des Hauses möglichst voraussetzungsarm und nachvollziehbar ist. Wir – das Team der Kurator*innen – gingen dabei aus Sicht der Besucher*in von fünf Fragen aus: Wo bin ich hier? Was ist hier geschehen? Warum ist das relevant? Was hat es mit mir zu tun? Sowie: Was erwartet mich in der Ausstellung?
Die neue Dauerausstellung konzentriert sich inhaltlich auf die Besprechung am Wannsee und ihre Einordnung in den Prozess der Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden. Ein wichtiges Vermittlungsziel ist es, deutlich zu machen, dass zum Zeitpunkt der Besprechung im Januar 1942 das massenhafte Morden bereits seit Monaten im Gange war. Dazu sollen Tatbeteiligungen von Einzelpersonen und Institutionen ins Zentrum rücken.
Ein neues Narrativ
Eine besondere kuratorische Herausforderung bestand darin, einerseits die Nachkriegsgeschichte zu berücksichtigen und es anderseits den pädagogischen Mitarbeiter*innen angesichts des oft sehr hohen Besucheraufkommens zu ermöglichen, Führungen zukünftig von ganz unterschiedlichen Punkten zu starten und deshalb in möglichst vielen Räumen mit Exponaten aus der NS-Zeit arbeiten zu können. Wir entschieden uns aus diesem Grund gegen einen chronologischen Rundgang und für eine an der Architektur des Hauses orientierte Kombination aus einem chronologisch-thematischen und einem vertiefenden Erzählstrang.
In der rechten Haushälfte, die vier Themenräume umfasst, wird nun ein kompakter Überblick über die Entwicklung der Verfolgungs- und Mordpolitik bis 1945 geboten. Von der Einladung ausgehend (Raum 1) wird die Vorgeschichte der Besprechung am Wannsee erzählt, unter Berücksichtigung politischer und ideologischer Entwicklungen vor 1933 (Raum 2). Nachdem die Besucher*innen sich mit der Besprechung selbst und dem dazu überlieferten Protokoll beschäftigt haben (Raum 3), folgt die Entwicklung bis zum Kriegsende 1945, wobei ein Ausblick auf die Situation der Überlebenden nach dem Krieg gegeben wird (Raum 4). Die Rolle der Institutionen bzw. Personen, die an der Besprechung am Wannsee teilnahmen, wird in diesem ersten Teil der Ausstellung integriert erzählt.
In der linken Haushälfte können Besucher*innen sich dann vertiefend mit Fragen der Tatbeteiligungen befassen. Ausgangspunkt der Erzählung ist hier die „Akte Endlösung“, in der nach dem Krieg das Protokoll der Besprechung am Wannsee gefunden wurde (Raum 5). In zwei großen Themenräumen wird dann zum einen die Rolle von Institutionen behandelt (Raum 6). Zum anderen wird nach der Beteiligung der Gesellschaft bzw. von Individuen gefragt (Raum 7). Beide Räume beleuchten auch, wie in der Nachkriegszeit mit Tatbeteiligungen umgegangen wurde. Solche historischen Längsschnitte bieten sich als Ausgangspunkt für Führungen an, die sich an bestimmte Berufsgruppen richten, etwa an Verwaltungsangestellte, Polizeibeamt*innen oder Bundeswehrangehörige. Abschließend können sich die Besucher*innen mit den Auseinandersetzungen um die Wannsee-Konferenz nach 1945 und den Bemühungen um einen Erinnerungsort vertraut machen (Raum 8), bevor die Ausstellung mit einem Gegenwartsbezug endet (Raum 9).
Ausgehend von der Frage „Wo bin ich?“, haben wir entschieden, die Geschichte des Ortes nicht losgelöst, sondern in die Ausstellung integriert zu erzählen: Eine Wandgrafik im Eingangsbereich und sechs Kuben, die sich farblich vom restlichen Ausstellungsmobiliar unterscheiden, behandeln die Entstehung des Gebäudes als Fabrikantenvilla und die späteren Nutzungen als Gästehaus für Polizei und SS, Unterkunft der Alliierten, Bildungsinstitut und Schullandheim eines West-Berliner Arbeiterbezirks. Je ein Kubus befasst sich zudem mit dem Speisesaal sowie dem Umfeld der Villa während des Nationalsozialismus.
Beteiligungen darstellen
Einen Schwerpunkt des Ausstellungsnarrativs bildet die Frage, welche Rolle die an der Besprechung am Wannsee teilnehmenden Institutionen und Personen bei der Verfolgung und Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden spielten. Zugleich wird deutlich gemacht, dass sie nicht die einzigen waren, sondern eine Vielzahl von weiteren deutschen, aber auch europäischen Beteiligten ebenfalls involviert war. Um dieses komplexe Thema niedrigschwellig vermitteln zu können, haben wir zwei Begriffsgruppen gebildet, die das Narrativ strukturieren: Institutionen und Tatkomplexe.
Die am Wannsee vertretenen Institutionen sind vier Kategorien zugeordnet – Polizei und SS, Ministerien, Partei und Besatzungsverwaltung. Ergänzend werden Wehrmacht, Wirtschaft und Verbündete genannt. Die zweite Begriffsgruppe umfasst die Tatkomplexe Ausgrenzung, Vertreibung, Definition, Raub, Zwangsarbeit, Deportation und Mord.
Die beiden Begriffsgruppen werden in Raum 2, in dem die Vorgeschichte der Besprechung am Wannsee erzählt wird, eingeführt. Die Rolle der Teilnehmer und ihrer Institutionen für die frühe Verfolgungs- und Mordpolitik wird hier über ausziehbare Tafeln aufgerufen.
Bei der Thematisierung der Besprechung selbst werden die Teilnehmer ausführlicher vorgestellt (Raum 3). Hier haben wir ein Ausstellungselement konzipiert, das ihre institutionelle Zugehörigkeit aufgreift und zugleich ihre hierarchische Position, also ihre Über- und Unterordnungsverhältnisse, visualisiert.
Ein ähnliches Ausstellungselement findet sich im Vertiefungsraum „Institutionen und Verbrechen“ (Raum 6), wobei hier die konkreten Tatbeteiligungen der Teilnehmer am Mordprogramm im Zentrum der Darstellung stehen. Institutionelle Tatbeteiligungen werden in diesem Raum ausführlich in einer Tafel-Station aufgerufen, die die oben genannten Begriffsgruppen aufgreift. Konkrete Beispiele machen deutlich, dass über die an der Besprechung am Wannsee beteiligten Einrichtungen weitere Behörden und Ministerien, aber auch die Wehrmacht, die Wirtschaft und ausländische Verbündete an den Verbrechen zentral beteiligt waren.
Beim Thema Beteiligung der Gesellschaft und Umgang nach 1945 (Raum 7) haben wir ebenfalls mit Begriffsgruppen gearbeitet, die jeweils die Vielfalt von individuellen Verhaltensweisen aufrufen: wegsehen, profitieren, wissen, mitmachen und morden bzw. umdeuten, leugnen, mahnen, verdrängen, anklagen und integrieren.
Für die Arbeit der Bildungsabteilung der GHWK mit Berufsgruppen galt es – trotz der Reduktion von Exponaten und Texten, die notwendig war, um Einzelbesucher*innen einen erfassbaren Umfang von Ausstellungsinhalten anzubieten –, eine gute Grundlage zu schaffen. In das Ausstellungsnarrativ eingebettet sind deshalb große Screens, auf denen bei Führungen vertiefende, zum Beispiel berufsspezifische, digitale Inhalte aufgerufen werden können.
Nachvollziehbar und multiperspektivisch erzählen
Das Ziel der niedrigschwelligen Erzählweise wurde auch bei der Präsentation von Exponaten und bei der Textproduktion verfolgt. Dabei wurde das Narrativ insgesamt, aber auch innerhalb der einzelnen Räume auf die wichtigsten Aspekte reduziert. Exponate wie Gesetzblätter, Befehle, Plakate etc. werden als Faksimiles gezeigt, Bücher als Originale. Schlagwortartige Überschriften zu einzelnen Exponatgruppen erleichtern die Orientierung. In Screens präsentierte digitale Inhalte werden über Fragen erschlossen, etwa: „Wer sind die Täter?“ Alle Exponate haben einen kurzen kommentierenden Text, der es den Besucher*innen ermöglicht, das Gesehene einzuordnen und damit auch zu hinterfragen. Dabei sind diese Exponatkommentare mit 350 Zeichen, genau wie die Raum- und Thementexte mit 600 bzw. 500 Zeichen, kurz gehalten.
Ziel war es, die Ausstellungstexte in einfacher/klarer Sprache zu schreiben. Um Erfassbarkeit und Verständlichkeit der Texte für Besucher*innen zu gewährleisten, haben wir bereits beim Verfassen der Texte die Schriftart und von der Grafikerin definierte Textfelder zugrunde gelegt. So konnten wir Zeilenlängen bzw. Umbrüche berücksichtigen. Aufgrund der Komplexität des Themas und der knappen Textlängen sind wir aber auch an Grenzen bezüglich einer einfachen/klaren Sprache gestoßen. So ist es uns zum Beispiel nicht immer gelungen, Fachbegriffe zu ersetzen, wie etwa Pogrom oder Ghetto. (Siehe den Beitrag von Cornelia Siebeck in der Publikation.) Ein wichtiges Grundprinzip unserer kuratorischen Arbeit ist Multiperspektivität. Die neue Dauerausstellung greift die Perspektiven von deutschen und europäischen Täter*innen und Helfer*innen ebenso wie die der Alliierten und der Verfolgten selbst auf. Gerade weil das Schwerpunktthema der Ausstellung im Haus der Wannsee-Konferenz auf die institutionelle „Tätersicht“ fokussiert, musste vermittelt werden, was dieses vermeintlich abstrakt-bürokratische Handeln für Betroffene bedeutete und wie es sich in ihrem konkreten Erleben niederschlug.
Zentrales Element hierfür sind die orange-gerahmten Hörstationen des „Personalisierten Erzählens“. Die insgesamt 12 Hörstationen, denen teilweise kommentierte Exponate beigefügt sind, ziehen sich als Erzählstrang durch die gesamte Ausstellung. Bei unserer Auswahl war uns Vielfalt nicht nur in Bezug auf das Geschlecht der Personen, sondern auch bezüglich Herkunft, Alter, Nationalität und Verfolgungsschicksal wichtig. Damit werden auch vermeintlich feststehende Wahrheiten und hegemoniale Sichtweisen hinterfragt. Zudem werden Betroffene nicht ausschließlich als wehrlose Opfer präsentiert, sondern als handelnde Akteur*innen, die nach Möglichkeiten suchten, auf ihr Umfeld und ihre Situation Einfluss zu nehmen. Einige Mitarbeiter*innen der Bildungsabteilung vertraten den Standpunkt, dass an jeder Stelle bzw. jedem Exponat der Ausstellung mehrere Perspektiven erzählt werden müssten. Dies war aus unserer Sicht angesichts des Themas der Ausstellung und der räumlichen Gegebenheiten nicht realisierbar. (Siehe den Beitrag von Elke Gryglewski.)
Die Vielfalt der Beteiligten und der Beteiligungsformen zu zeigen, war auch ein Kriterium unserer Fotoauswahl. So haben wir beispielsweise Bilder gesucht, auf denen nicht nur verschiedene Tätergruppen und Verfolgte, sondern auch Zuschauende zu sehen sind. Einige Fotos zeigen auch explizite Gewalt. Dies war ein weiterer Punkt, den Kurator*innen und Mitarbeiter*innen der Bildungsabteilung teilweise kontrovers diskutierten. Unseres Erachtens kann eine Ausstellung, die den Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden vermitteln soll, nicht ohne Gewaltbilder auskommen. Ansonsten bestünde die Gefahr, dass das historisch falsche Bild eines „sauberen“, verwaltungsmäßigen Mordens unterstützt wird, und damit ein Bild, mit dem die Täter*innen ihr Handeln selbst legitimierten. Statt Gewalt nicht zu zeigen, haben wir vielmehr auf einen sparsamen und bewussten Einsatz solcher Fotos geachtet. Unzulässig ist es u. E., Gewaltbilder häufiger als unbedingt nötig auszustellen und sie strategisch zur Verunsicherung von Besucher*innen einzusetzen. Möglichst zu vermeiden ist auch, Fotos auszuwählen, auf denen die Opfer in entwürdigenden Situationen so dargestellt sind, dass sie durch die Art der Darstellung erneut entwürdigt werden. Einzelne Mitarbeiter*innen der Bildungsabteilung plädierten jedoch generell gegen das Zeigen von Gewalt oder Toten. Und auch die Frage, welche Bilder für Besucher*innen zumutbar sind bzw. die Opfer erneut entwürdigen, wurde mitunter unterschiedlich beantwortet.
Lessons Learned
Im Projektverlauf mussten wir vielfach zwischen den Interessen von Einzelbesucher*innen und den Bedarfen der pädagogischen Arbeit mit Gruppen abwägen. Insgesamt sind wir davon überzeugt, dass die Arbeit an einem „Design für Alle“ eine lohnenswerte und bereichernde Erfahrung für sämtliche Beteiligten an einem Projekt darstellt – auch wenn dieser Begriff, so unsere Erkenntnis, einen Idealzustand beschreibt, der in der Praxis oftmals nicht erreicht werden kann. Ihn anzustreben sollte dennoch unser Ziel bleiben.