"Das ganze Entnazifizierungsproblem ist so kompliziert" - Film nach 1945
Nach dem Zusammenbruch des “Dritten Reiches” stellte sich die Frage nach der “Entnazifizierung” auch im Bereich des von den Nationalsozialisten als Propagandainstrument genutzten Films. Doch wer von den Akteuren dieses “Business” eine konsequente Haltung erwartete, konnte nur enttäuscht werden.
Von Wolfgang Jacobsen
Im Juli 1945 schrieb der Schüler Ulli S. in sein Tagebuch:
“Hamburg hat sich an die Besatzung gewöhnt. Kinos und Opern sollen bald geöffnet werden. In der Musikhalle haben bereits Konzerte stattgefunden. Auch die Nazis kommen nicht zu kurz: Zahlreiche Bonzen, die irgendwelche Verbrechen auf dem Gewissen haben, schmoren entweder schon im Kerker oder harren noch angstschlotternd der Bestrafung.”
Er lässt Sinn für Gerechtigkeit erkennen. Die Täter müssen bestraft werden. Ein “Weiter so” darf es nicht geben. Ein verallgemeinerndes “Pax nobiscum”, Erleichterungsseufzer so vieler Deutscher nach Kriegsende, verweigerte der junge Tagebuch-Schreiber. Kein fließender Übergang in eine neue politische Zukunft. Vielmehr denkt der Schreiber an einen Bruch. Vielleicht an eine Abrechnung.
Kontinuität – das meint nicht nur eine personelle, sondern hat auch eine geistige Ausdehnung. Betroffen sind alle politisch-gesellschaftlichen Bereiche, in der Kultur auch der Film. Besonders dort.1 Denn stellte sich der Nationalsozialismus nicht auch als ein “totales Kino” dar? Feierte mit akkurat inszenierten Bildern sein Image – Pomp, Pracht, Prunk und Protz bis hin zu Rechtsbrüchen, Verbrechen, Gräuel- und Gewalttaten. Nutzte die Momente der fiktiven filmischen Unterhaltung zur suggestiven Propaganda, malte filmische Historiengemälde zu eigenem Nutzen, und arrangierte die gewollte Realität – Parteitage, Krieg, Verfolgung und Mord, jeder Ethik und Moral konträr, inhuman in extenso – nach eigenem Gutdünken in filmischen Aufnahmen. Bediente sich eines willigen Personals hierfür, das gefangen war in einem selbstverherrlichenden Kunstverständnis, einer ideologischen Beschränkung in Form, Stil und Geschmack. Wer und wie sollte also nach dem Krieg in Filmen demonstrieren und erklären, wie es war – und auch wie es werden sollte? Ohne den alten Symbolen und Chiffren, Tableaus und sonstigen intellektuell eingebunkerten Attributen zu erliegen?
Der 1933 zunächst nach Österreich und 1938 über die Schweiz in die USA emigrierte Schriftsteller Carl Zuckmayer wies auf dieses Phänomen bereits in seinem “Geheimreport” hin, den er 1943/44 im Auftrag des “Office of Strategic Services” (OSS) verfasst hatte:
“Da es sich in unserem Fall hauptsächlich um die Vertreter künstlerischer und kunstnaher Berufe handelt – Schauspieler, Regisseure, Dichter, Maler, Musiker, Schriftsteller, Journalisten –, muss man sich darüber klar sein, dass man sie charakterologisch – besonders in ihrem charakterlichen Verhalten während einer Zeit politischer Umschwünge und Katastrophen – anders beurteilen muss als etwa führende Politiker, Industrielle, Militärs, Beamte, Wissenschaftler.”
Er verstieg sich zu der Anmerkung, dass in Deutschland
“der Künstler eine geringere gesellschaftliche Verantwortung trage als andere Menschen, ja dass er sozusagen ausserhalb der politischen, sozialen und ökonomischen Ordnung ein Eigenleben führe, dessen Boden und Firmament eben die überzeitliche Welt der Künste sei, die Ewigkeit, das Universum, ein Traumreich, das nicht einmal einer religiösen Autorität, nur der vom Künstler selbst erfühlten Gottheit, unterstehe.”
Mit dem bereits am 24. November 1944 ausgegebene “Kontrollgesetz 191” wurde von den Militärregierungen der Alliierten allen Deutschen jegliche Beteiligung im Bereich des Films untersagt; eine “Nachrichtenkontrollvorschrift” vom 12. Mai 1945 regelte Ausnahmen von diesem generellen Verbot. Einig war man sich darin, dass die “Ufa-Film GmbH”, der sogenannte “Ufi-Konzern”, in dem 1942 die sechs großen deutschen Produktionsfirmen – die alte Ufa, Tobis, Terra, Bavaria, Wien-Film, Prag-Film und Berlin-Film – zusammengeführt und so endgültig unter staatliche Kontrolle gestellt worden waren, entflochten werden sollte. Die Vermögenswerte sollten eingefroren, die vertikale Konzern-Gliederung aufgehoben und die Einzelteile voneinander getrennt werden. Dies geschah durch eine Proklamation des “Alliierten Kontrollrats”, der höchsten Instanz der vier Oberbefehlshaber, vom 20. September 1945. Was aber keineswegs bedeutete, dass die Siegermächte sich auf eine einheitliche Filmpolitik geeinigt hätten, denn eine “überzonale” Filmwirtschaft lehnten vor allem die westlichen Alliierten einhellig ab.
Dass schon bald sich die Wege verzweigten, sich zu einem Konflikt der Ideologien, West versus Ost, westliche Demokratien oder sowjetischer Kommunismus, weitete, erschwerte oder verunmöglichte die Intentionen eines Neuanfangs. Die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) sah im Film ein Mittel zur propagandistischen Beeinflussung des Publikums, die westlichen Alliierten würdigten eher den Aspekt der Unterhaltung, wenn auch mit kritischen Farben versehen.
Die SMAD strebte – anders als die West-Alliierten – keine Dezentralisierung der Filmindustrie an, sondern deren erneute Zentralisierung, etwa durch die Nutzung der noch unzerstörten Produktionsanlage in Babelsberg. Besiegelt wurde dieser Weg mit der Gründung der “Deutschen Film-AG” (DEFA) am 17. Mai 1946. Deren erster Geschäftsführer Alfred Lindemann akzentuierte den eigenen Anspruch in seiner Rede auf dem ersten “Deutschen Film-Autoren-Kongreß” vom 6. bis 9. Juni 1947 so:
“Wir, die wir in den KZ und in den Gefängnissen saßen und in der Zeit der brutalsten Unterdrückung in Deutschland gelebt haben, die wir alle Schwierigkeiten des Aufbaues und die Nöte jedes einzelnen kennen, wir werden mit jedem Film, den wir herstellen, viel stärker seine Sprache sprechen, die in diesem Deutschland verstanden werden kann.”
Und beantwortete damit auch die Frage, wie man in der sowjetisch besetzten Zone eine Kontinuität durch ehemalige Angehörige der Filmbranche, die nationalsozialistisch vorbelastet waren, vermeiden wollte. Spitz formuliert: durch politisch-ideologische Ausgrenzung – mithin ein still hochgehaltenes “kommunistisches Parteibuch”.
In den Gründungsmythologien West wie Ost spielte der Nationalsozialismus eine prekäre und widersprüchliche Rolle. Die Beziehungen sind gegenläufig. Im Westen ist die Vergangenheit dunkel, aus der Gespenster kommen, böse Gespenster, die eigentlich mit einem Schweigegebot belegt sind. Im Osten erwächst aus der Vergangenheit eine positive Verpflichtung. Die jeweilige Erinnerung erfordert ihre jeweilige Übermalung. Doch wie erreicht man nach 1945 das Publikum mit dem, was unmittelbare Vergangenheit ist?
In den politischen und kulturellen Debatten der unmittelbaren Nachkriegszeit spielte die sogenannte Kammer der Kunstschaffenden eine große, wenn auch nur kurze Rolle. Und mit ihr die Kulturbünde. In Berlin nahm die Kammer Anfang Juni 1945 ihren Sitz in der Schlüterstraße 45, in jenem Haus, in dem der Reichsfilmintendant Hans Hinkel und Vizepräsident der Reichskulturkammer seinen Sitz gehabt hatte. Ihr angegliedert war auch eine Filmkammer, in der, wie der Historiker und Publizist Wolfgang Schivelbusch befindet, „noch mehr Illusionen als an den anderen Orten“ produziert wurden.2 Dass trotz vieler hochfliegender Pläne in den Kammern ein lebendiger Austausch über das zukünftige Kulturleben in Deutschland stattfand, dass eben die von vielen, vor allem amerikanischen Autoren vermerkte depressive Grundstimmung der Deutschen, die sie in Reiseberichten festhielten, nur ein Teil der Wahrheit war, wird durch die geradezu dynamische Aufbruchsstimmung in der Kulturszene konterkariert. Die Schriftstellerin und Widerstandskämpferin Ruth Andreas-Friedrich etwa hielt am 10. Juli 1945 in einem Tagebuch-Eintrag fest, die Kammer sei “das Brennglas des Berliner Kulturlebens.”3
“In der Kammer”, so Andreas-Friedrich gleichentags,
“hat sich ein ‚Gremium zur Rehabilitierung von Nationalsozialisten‘ gebildet. Ein regelrechter Gerichtshof mit Beisitzer und Vorsitzendem, der die Böcke von den Schafen scheidet und ehemalige Nazis aus den verantwortlichen Kulturstellen ausmerzen soll. Wer aber wird hier wen ausmerzen? Wer in der Welt ist objektiv genug, über sieben Millionen Pg.s ein salomonisches Urteil zu fällen?”
Doch schon bald löste sich dieses wegen Kompetenzstreitigkeiten mit dem Berliner Magistrat wieder auf, nur drei Fälle, so Andreas-Friedrich am 25. Juli ironisch, habe es klären können: “Drei oder fünf. Es können auch sieben gewesen sein. Wenn es in diesem Tempo weitergeht, werden Enkel und Urenkel den letzten Pg.s ihre Bereinigungsurkunden auf die Grabhügel legen.”4
Der Schriftsteller Erich Kästner, dessen Bücher von den Nationalsozialisten verbrannt worden waren und der dennoch unter Pseudonym das Drehbuch für den von Josef von Báky inszenierten Ufa-Renommierfilm “Münchhausen” (1942/43) schreiben durfte, setzte sich kurz vor Kriegsende ab und gesellte sich zum Team um den Regisseur Harald Braun, der von März bis Juni 1945 im abgelegenen Mayrhofen im Zillertal mit den Dreharbeiten zu dem Ufa-Film “Das gestohlene Gesicht” begann, einem Film, der nie Film werden sollte, sondern nur die Flucht der Beteiligten aus dem Kriegsalltag kaschierte.5 Kästner notierte am 8. Mai 1945 – durchaus indifferent – in seinem Tagebuch, die “Antinazis sind infolge Übung gegen Phrasen empfindlicher geworden als alle übrigen Menschen. Gegen Phrasen, auch wenn sie von Nichtfaschisten gesprochen werden und übers Meer erklingen.” Sah er in den Emigranten, mit deren Rückkehr er wohl rechnete, eine Gefahr? Stellte er seine Haltung während des Nationalsozialismus so unbewusst in Frage? Jedenfalls fand Kästner schnell Anschluss an den Zirkel jener amerikanischen Kulturoffiziere, die von München aus agierten. In persona stellte er eine Kontinuität dar, die nicht angezweifelt, sondern eher willkommen geheißen, wenn nicht hofiert wurde.
“Eine ‘neue’ Kultur zu schaffen”, das wäre, so Brewster S. Chamberlin, Historiker und Mitarbeiter des United States Holocaust Memorial Museum in Washington, mehr als
“schwierig gewesen: Zahlreiche Künstler wurden wegen ihrer Verbindung zum Nationalsozialismus bei den Verfahren zur Erteilung von Arbeitsgenehmigungen abgelehnt; diejenigen Künstler, die am ehesten eine Arbeitserlaubnis erhielten, gehörten der älteren Generation an: ihr Ruf und ihr Stil stammten aus der Zeit vor 1933; die jüngeren und vielleicht originellen Talente der jungen Generation waren von der offiziellen Nazi-Kulturpolitik frustriert und brauchten Zeit, sich der neuen Situation anzupassen.”
Doch nicht nur das. Diese Jüngeren waren ästhetisch geprägt vom Kino des ‚Dritten Reichs‘, waren ohne Verbindung zu filmischen Entwicklungen außerhalb Deutschlands gewesen, manche von ihnen hatten ihr filmisches Handwerk auch bei denen gelernt, die sich dem Regime eilfertig, fügsam oder notgedrungen angedient hatten. Geistig frei waren also auch sie nicht.
Für die amerikanische Besatzungszone lagen im Mai 1945 bereits zuvor ausgearbeitete Pläne zum Neuaufbau des Kulturlebens vor. Während des Krieges lag die Verantwortung hierfür beim “Office of War Information” (OWI), nach der deutschen Kapitulation übernahm die “Information Control Division” (ICD) die Aufgabe, die praktische Ausführung jedoch lag bei den “District Information Services Control Commands” (DISCC), bis die ICD im Dezember 1945 dem “Office of Military Government of Germany (United States)” (OMGUS) unterstellt wurde. Deren Aufgabe war die Wiederherstellung freier deutscher Medien, ob in Presse, Rundfunk, Theater oder Film.6 Somit fiel auch die “Entnazifizierung” in ihre Verantwortung. Hierfür gab es die sogenannte “Counter Intelligence”, die in persönlichen “screenings”, auch mit Hilfe eines detaillierten Fragebogens die politische Haltung derjenigen prüfte, die sich um eine Lizenz bewarben. Verhört und begutachtet wurden auch jene Personen, die sich für eine lizenzunabhängige Tätigkeit im Film – etwa im technisch-handwerklichen Bereich – bewarben. Die Kandidaten wurden klassifiziert, es gab weiße (unbelastet), graue (ohne enge Verbindung zur NSDAP) und schwarze Listen (ehemalige NS-Funktionsträger, Parteimitglied seit 1938, also nicht geeignet), die zum Teil schon während des Krieges von den Supreme Headquarters zusammengestellt worden waren und nun von der OMGUS fortgeführt wurden.

Der im Juli 1946 aus dem amerikanischen Exil als Filmoffizier nach Deutschland zurückgekehrte Produzent Erich Pommer, in der Weimarer Republik die prägende Persönlichkeit der Filmindustrie, verwies in einem Brief aus dem Herbst 1946 an seine Frau Gertrud und seinen Sohn John, der selbst im Filmbusiness tätig war, darauf, dass er “jeden Filmschaffenden durch eine Kette von Securities, Intelligence Abteilungen durchzusteuern” habe, “ehe Du ihn beschaeftigen kannst. Im Augenblick sind fast alle meine Key Leute in Tempelhof noch ungeklaert. Dies bedeutet Conferencen eine nach einander. Das heisst Zeit und nocheinmal Zeit.”7 Und in einem anderen Brief, etwas früher verfasst, berichtete er,
“es flattern taeglich dutzende von Jammerbriefen auf meinen Tisch von frueher grossen und auch kleinen Leuten in der Filmindustrie. Kleinen Leuten helfe ich, wie immer ich kann, wenn sie es verdienen. Den grossen aber nur wenn sie es verdienen. Ich bin hierbei in der Lage auf eine Sammlung sehr sorgfaeltiger Intelligenzberichte zurueckzugreifen. Unser Prinzip ist nun in einigen Grenzfaellen fruehre Entscheidungen zu revidieren, wenn wir herausfinden, dass man in dem einen oder anderen Falle missinformiert war.”
Dass die Beurteilungen der Registranden auch nach subjektiven Kriterien entschieden wurden, lag auf der Hand. Wollte man eine funktionierende westdeutsche Filmindustrie aufbauen, so kam man nicht darum herum, auch zweifelhafte Fälle durchzuwinken, allein weil ihre professionelle Befähigung benötigt wurde. So wurden mitunter auch Nutznießer und offensichtliche Opportunisten akzeptiert. In seiner Studie zum “Neuaufbau der westdeutschen Filmwirtschaft” schreibt der Publizist Johannes Hauser:
“Die 'Entnazifizierung' des Kultur-/Medienbereiches war, insbesondere in der frühen Phase der Besetzung, durch Widersprüche in den Entscheidungsprozessen geprägt, da verschiedene Stellen der amerikanischen Besatzungsbehörden an dem Entscheidungsprozeß beteiligt waren.”
Im Verlauf des Jahres 1946 übertrugen die Amerikaner mehr und mehr den Deutschen die Entnazifizierung, was die Gefahr einschloss, nachsichtigere Prüfungen durchgehen zu lassen, wenn die Alliierten auch ein Mitspracherecht behielten und bei der Besetzung von Führungspositionen die Entscheidungsgewalt.
“Hinsichtlich belasteter Personen aus Führungspositionen der deutschen Filmwirtschaft hielt die amerikanische Militärregierung ihre restriktive Einstellung länger aufrecht als bezüglich der Filmkünstler. Bereits an den ersten mit amerikanischer Lizenz hergestellten deutschen Spielfilmen durften Schauspieler und Regisseure mitwirken, die in den 'Listen' als belastet, verboten oder unerwünscht galten.”
Die amerikanische Filmpolitik zeigte eine gewisse Unbestimmtheit, auch, weil im Hintergrund Hollywood und dessen Produzenten Einfluss in eigenem Interesse zu nehmen suchten. Kontinuitäten waren also eine Folge alliierter, vor allem amerikanischer Realpolitik. Doch in “ihren moralisch-pädagogischen Grundsätzen” unterschied diese sich “kaum von der russischen: Der neue deutsche Film sollte Medium der Umerziehung sein. Unterschiedlich waren dagegen die Vorstellungen, welche Form der wirtschaftlichen Organisation er haben sollte.”8 Pommer selbst befand, dass die britischen Behörden ähnlich vorgingen wie die Amerikaner, wenn auch sehr viel realistischer, die Franzosen hingegen kleinteiliger und zurückhaltender. Den Vorteil einer Zentralisierung, wie im sowjetischen Sektor betrieben, erkannte er wohl, doch verbot sich für ihn eine solche Praxis. Allerdings warnte er, dass die Amerikaner allzu idealistisch vorgingen.9
Pommers Agieren in dieser Grauzone von offiziellen Vorgaben und persönlichem Urteil (auch befangenem Vorurteil) bei der Entnazifizierung und der Vergabe von Filmlizenzen wurde auch missfällig beurteilt. So kritisierten etwa der ebenfalls in die USA emigrierte Regisseur William (Wilhelm) Dieterle und dessen Frau Charlotte ihn deutlich, nicht nur ihm persönlich gegenüber. Nach ihrer Rückkehr von einer Deutschlandreise in die USA konfrontierten sie Pommers Frau mit ihren Vorwürfen. Und fragten, warum ihr Mann, “sich mit so vielen bekannten Nazis umgibt”. Beispielhaft erwähnen sie den ehemaligen Produktionsleiter Eberhard Klagemann, vor 1933 von Pommer beschäftigt, von diesem auch nach 1945 noch geschätzt. Zusammen mit der Schauspielerin Jenny Jugo, der er auch privat verbunden war, hatte er als Produzent ab 1933 Lustspielfilme gedreht. Jugo wurde hofiert, galt “bis Kriegsbeginn” als “die engste Schauspielerbekannte von Goebbels und Hitler”.10 Zudem fragten die Dieterles voller Unverständnis, warum Pommer “Nazis wie Jenny Jugo überhaupt in sein Büro” lasse? “Warum will er sie überhaupt engagieren statt mit jüngeren Schauspielerinnen zu arbeiten, deren Vergangenheit unbelastet ist? Warum holt er keine Leute aus den USA zurück? Da sind viele, die gerne gehen würden, Kortner zum Beispiel, und es liebten zurückzukehren.” Sie, so Getrud Pommer an ihren Mann, habe versucht zu erklären, warum er Klagemann brauche und dass Kortner Österreicher sei und deshalb nicht in Deutschland arbeiten könne.11
Dringlich forderten die Dieterles auch Auskunft darüber, warum Pommer den Schauspieler Emil Jannings und dessen Frau Gussy Holl in Strobl am Wolfgangsee besucht habe. Bereits im August 1946 hatte er von diesem Treffen in einem Brief anschaulich berichtet:
“Es war hoechst melodramatisch. Beide vergossen abwechslungsweise plenty of Krokodilstraenen und erinnerten mich wieder und immer wieder an unsere alte Freundschaft. Helfen wird es ihnen nichts. Sie haben 'high priority on the Black List'. Um ehrlich zu sein. Ich war nicht besonders geruehrt und fuehle kein allzu grosses Mitleid mit ihnen. Sie leben im gewohnten Luxus mit Dienerschaft und allen Trimmings. Sie können dankbar sein, dass man ihnen selbst dies erlaubt. Natürlich ist das Gefuehl, nun zur Untaetigkeit verurteilt zu sein, ein fruchtbares für Emil. Es ist wahrscheinlich die grausamste Strafe, die man ihm erteilen konnte. Es geschieht ihm aber recht. Ihr seht, ich habe hier mit allem Elend um uns herum gelernt, hart zu bleiben. Ist zugegeben, dass dies schon ein schoenes Resultat meines Aufenthaltes ist.”
Dem Vorwurf, zu nachgiebig zu sein, den auch Frau und Sohn erhoben, begegnete Pommer mit dem Argument,
“dass es hier eine Menge Menschen gibt, die durch die Nazi-Zeit kompromittiert sind, und es ist selbstverstaendlich, dass sie heute dafür die Konsequenzen tragen muessen. Es gibt aber hier viel mehr Menschen, denen man glauben kann, dass sie sich so wuerdevoll wie nur moeglich benommen haben. Die Verhaeltnisse waren manchmal staerker als ihr Wille. Das ganze Entnazifizierungsproblem ist so kompliziert, dass es schwer ist, sich darueber brieflich auseinanderzusetzen. Hinzukommt, dass beinahe jeder Fall verschieden ist. Auf alle Faelle kann es mit Hollywood-Aussichten (ich meine hiermit nicht Euch, sondern viele andere dort) nicht geloest werden und in vielen Faellen müssen hier sogar Kompromisse geschlossen werden, da sonst einfach der Aufbau, der hier beabsichtigt ist, nicht stattfinden könnte.”
Mehrfach hatte er schon betont, dass nicht er allein entscheide,
“sondern die 'Intelligence Information Control', ob jemand ein Nazi ist oder nicht. Klagemann wurde zugelassen nach sehr intensiven Befragungen. Weder Jugo noch Jannings werden zugelassen für eine lange Zeit zurückzukommen, vielleicht niemals. Beide könnten sofort für die Russen arbeiten, die nicht mit unseren strikten Regeln konform gehen. Mit uns haben sie keine Chance. Soweit es meine Reise an den Wolfgangsee betrifft. Ich habe Euch über die Umstände geschrieben und ich sah Jannings nach einer sorgfältigen Konsultation durch Col. Rodgers, der mit mir bei ihm war.”
Und berichtete weiterhin, dass zuvor in Tempelhof einige früher führende Ufa-Leute rausgeworfen worden seien, weil sie den Standards nicht entsprochen hätten. Er, so betonte er, beschäftige niemanden, der nicht von der “Intelligence” zugelassen worden sei. Aber er brauche eben auch Leute mit professioneller Erfahrung, da es sonst mit dem Neuaufbau einer Filmwirtschaft nicht klappen würde. Klagemann halte er zwar für einen Opportunisten, doch habe der sich, nach seinem Eindruck, so gut es ging, von Goebbels ferngehalten; dessen berufliche Fähigkeiten würden einfach benötigt. Bei Jannings und Jugo liege der Fall anders, sie seien gesperrt – jedenfalls für die amerikanische Zone.12
Erste Lizenzen befürwortete Pommer u.a. für den Regisseur Karl-Heinz Stroux, der vor 1933 vor allem als Theaterregisseur hervorgetreten war und auf der sogenannten “Gottbegnadeten-Liste (Führerliste)” der wichtigsten Künstler des NS-Staates geführt wurde. Nach 1945 reüssierte er schnell erneut an westdeutschen Bühnen. Doch inszenierte er unmittelbar nach dem Krieg nur zwei Filme: “Der große Mandarin” (1949) mit Paul Wegener und “Begegnung mit Werther” (ebenfalls 1949) mit Horst Caspar und Heidemarie Hatheyer in den Hauptrollen, beide prominente Protagonisten im nationalsozialistischen Film. Als Produzent zeichnete Georg Fiebiger, der in den 1940er-Jahren Produktionsleiter der Bavaria gewesen war und mit der von den Amerikanern lizensierten Wiesbadener Nova-Film einen, wenn auch kurzlebigen Neuanfang wagen konnte. Eine Arbeitserlaubnis erhielt auch Josef von Báky, der ab 1933 erfolgreich mit Unterhaltungsfilmen hervortrat. 1947 drehte er den Kriegsheimkehrerfilm “…und über uns der Himmel” mit Hans Albers und 1949 mit Fritz Kortner das Remigrantendrama “Der Ruf”. Pommer unterstützte auch Harald Braun, vor 1945 hervorgetreten mit Melodramen, die er weitgehend von propagandistischen Einflüsterungen freihalten konnte und der 1947 mit “Zwischen gestern und morgen” den ersten in der amerikanischen Zone lizensierten Spielfilm inszenierte, in dem auch das Thema der Remigration verhandelt wird.13 Auch dem Kameramann Günther Rittau, der in der Weimarer Republik mit Pommer als Produzent Filme von Fritz Lang, Joe May und auch Josef von Sternbergs “Der blaue Engel” als verantwortlicher “Operateur” fotografiert und 1941 den antibritischen Kriegsfilm “U-Boote westwärts!” als Regisseur realisierte hatte, vertraute Pommer. Rittau wandte sich nach 1945 als Regisseur dem Liebes- und Heimatfilm zu und verwirklichte 1960 den von der Bundeswehr finanzierten Kurz-Dokumentarfilm “Spionage”, der die Gefahren der Geheimdiensttätigkeiten des “Warschauer Pakts” aufdecken sollte. Pommer verantwortete es, dass Luise Ullrich, Heidemarie Hatheyer, Angela Salloker und Will Dohm, alle belastet durch die Mitwirkung an nationalsozialistischen Propagandafilmen, für Synchronisationen hinzugezogen werden durften.
In einem Memorandum vom 23. August 1947 an den in Berlin ansässigen amerikanischen Filmoffizier Carl Winston erläuterte Pommer den Konflikt der Entnazifizierung: “Ein gutes Ensemble aus Nicht-Nazis ist schwierig zu versammeln, und Sie wissen, was Schauspieler für einen Film bedeuten können. Und wenn einer der nur wenigen brauchbaren Regisseure Geschwüre verursacht – eine berufliche Krankheit –, dann ist der Film einfach hin.” Und weiter:
“Sie müssen sich daran erinnern, dass praktisch alle von diesen Leuten ‚Künstler‘ sind – in Anführungszeichen gesetzt – und ‚Genies‘ – auch in Anführungszeichen gesetzt – und so nicht nur praktisch, sondern auch vom Temperament her Probleme verursachen. Egoismus, Neid, Ehrgeiz, Hysterie – und Angst – all das muss man aus ihnen rausboxen, ohne Wunden zu hinterlassen. Kein leichter Job für die wenigen unterernährten, schüchternen Produzenten, die wir überhaupt ausgraben konnten.”
Der Filmpublizist Hans Peter Kochenrath veröffentlichte 1966 – in einer kritischen Retrospektive des Nachkriegsfilms in der Bundesrepublik – eine Tabelle mit mehr als einhundert Namen von Drehbuchautoren und Regisseuren, die bereits im Nationalsozialismus tätig gewesen waren und erneut nach 1945. Er beklagte:
“Während in den anderen Künsten versucht wurde, die Barbarei der NS-Kunst zu eliminieren und neu zu beginnen, trat der Film ungeniert das Erbe jener dunklen Zeit an. In Westdeutschland gab es lediglich in den ersten Jahren nach 1945 einige wenige gutgemeinte Versuche, 'die Vergangenheit zu bewältigen', die Gegenwart zu bewältigen ist nie versucht worden.”
Mit Beginn des Kalten Kriegs schliefen die Entnazifizierungen nahezu ein und so konnten schleichend auch jene Personen in der Filmproduktion Fuß fassen, die nach den alten Kategorisierungen eigentlich als belastet galten. Die “Anti-Hitler-Koalition” zerbrach.
Für das Kinopublikum war die Welt bald wieder in Ordnung.
“Am glücklichsten die Männer von der Filmkritik. Täglich singen sie ihr Loblied der Viersektorenstadt Berlin. Wo in der Welt, so fragen sie, gibt es einen zweiten Punkt, an dem die Spitzenfilme der führenden Länder sich ein Stelldichein geben? Wir schwimmen in Celluloid. Vorgestern sahen wir einen großartigen politischen Dokumentarfilm aus der Sowjetunion, gestern die muntere Gespenstergeschichte aus England, heute hat uns ein Meisterwerk René Clairs erschüttert, für morgen steht ein Monstre-Revuefilm aus den USA bevor. Und bald werden neue deutsche Erzeugnisse sich präsentieren, Filme der rührigen DEFA, die mit russischer Lizenz arbeitet und einen gewaltigen Apparat aufgebaut hat; das Studio 45, das britische Lizenz besitzt; der Objectiv-Film-Gesellschaft, die mit amerikanischer, der Herold-AG, die mit französischer Erlaubnis tätig ist. Sie alle drehen in Berlin. In Babelsberg, in Johannisthal, in Tempelhof. Im Freien, in allen Straßen, auf allen Plätzen. Am liebsten im abgeholzten Tiergarten und am verödeten Potsdamer Platz. Und dazwischen sehen wir die neuen Filme aus Italien, Österreich, aus der Schweiz. Wir sind das Filmparadies! Hoch leben die Sektoren!”
So jubelte 1948 der Kulturjournalist Hans Borgelt.
Durchgesetzt hatte sich in der Filmbranche eine Selbstentschuldungspose, die der wegen seiner Teilnahme am Attentat auf Walther Rathenau, den Reichsaußenminister der Weimarer Republik, verurteilte Schriftsteller und im NS-Film mit antidemokratischen und auch antisemitischen Stoffen hervorgetretene Drehbuchautor Ernst von Salomon in seiner 1951 erschienenen Autobiografie “Der Fragebogen” mit überheblicher Lässigkeit in die Welt gesetzt hatte:
“Ach, es waren nicht Gesetzestafeln, die ehernen, nicht war es das dichte Netz der Verordnungen und Rundschreiben, über das kleine Land geworfen, nicht das teuflische Geflecht der Sprachregelung, der Geistregelung, der Kunstregelung war es, es war der grüne Stift! Der grüne Stift des Ministers fuhr in jede Planung, in jedes Drehbuch, er werkte hin und her, mit bestürzender Geschicklichkeit, jede Ausflucht witternd – und auf seinen Spuren blieb nichts als Verwirrung, Verdrehung, Umkehrung des eigentlichen Sinns. Um den grünen Stift herum rankte sich der große und verzweifelte Kampf um die Frage, ob der Erfolg oder die Erfüllung den Sinn unseres Tuns bestimme; der Protektor war der Exponent des Erfolges, und dies war Triumph und Schwäche dieses Mannes zugleich.”
Die Frage nach den Kontinuitäten, ob personell oder kulturell, in allen gesellschaftlichen Bereichen, auch in den Bezirken des Films, setzt eine Antwort voraus auf die Schlüsselfrage, die sich nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur stellte: Wie und ob es den Deutschen gelang (oder gelungen ist), aus der durch den Vernichtungskrieg und die Shoah selbstverschuldeten physischen Zerstörung und moralischen Diskreditierung herauszufinden. Dass nach dem Ende der Diktatur über den Krieg nicht mehr viel geredet wurde, ist das Eine. Dass aber das Beschweigen Ausdruck davon ist, unter das Geschehene möglichst lautlos einen Schlussstrich zu ziehen, ist das Andere. Und es verdeutlicht, dass die zerstörerischen Folgen des Regimes – der Genozid, der “totale Krieg” und die rechtswidrigen Rekrutierungen Unbeteiligter zur Zwangsarbeit – die Grenzen jedweder Moral überschritten hatte, sehr wohl in den Köpfen der Deutschen präsent waren. In Filmen, gemacht von Produzenten, Autoren und Regisseuren, Angehörigen des technischen Stabs, besetzt mit Schauspielerinnen und Schauspielern, die in ihrer Mehrzahl auch zwischen 1933 und 1945 in der reichsdeutschen Filmindustrie tätig gewesen waren, ist der Einfluss der vergangenen Ereignisse auf das Leben der “einfachen” Menschen dargestellt und gespiegelt. Sozusagen in doppelter Perspektive – einer personellen und ästhetischen Kontinuität. Mithin: Die von Hitler und seinen willfährigen Paladinen betriebene “Verachtung der zivilisierten Welt” war sowohl Vorbedingung als auch Hindernis für diesen notwendigen Neuanfang.
Wolfgang Jacobsen ist Filmhistoriker und Autor zahlreicher Publikationen. Er leitete in der Stiftung Deutsche Kinemathek viele Jahre lang die Abteilung Publikationen und Forschung und organisierte die filmhistorischen Retrospektiven und Hommagen der Berlinale.
Insgesamt acht Filme wurden zwischen dem 8. und 14. März 1944 von der Zensur noch freigegeben, aber nicht mehr aufgeführt. Sechs dieser Filme, sogenannte „Überläufer“, erlebten ihre Premiere nach dem Krieg – auch dies eine ästhetische Kontinuität.
↩Wolfgang Schivelbusch: Vor dem Vorhang. Das geistige Berlin 1945-1948. München, Wien: Carl Hanser 1995, S. 204.
↩Ruth Andreas-Friedrich: Schauplatz Berlin. Tagebuchaufzeichnungen 1945 bis 1948. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 80.
↩Vgl. Rolf Aurich: Filmpausen. In: Rolf Aurich, Wolfgang Jacobsen (Hg.): Harald Braun. Literatur-Film-Glaube. München: edition text + kritik 2014, S. 122-145.
↩Zu den organisatorischen Strukturen vgl. Brewster S. Chamberlin: Kultur auf Trümmern. Berliner Berichte der amerikanischen Information Control Section Juli – Dezember 1945. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1979. Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Nr. 39, S. 11 ff.
↩Erich Pommer an Gertrud und John Pommer, 5. Oktober 1946. Nachlass Erich Pommer, 4.3-97/02-2, Pommer, Gertrude/ Pommer, Erich 26/41, 1946/47. In: 4.3-1999702, Pommer, E., 25/41, Deutsche Kinemathek, Berlin. Schreibweise wie im Original.
↩Vgl. Erich Pommer an Carl Winston, 23. August 1947. 5-seitiges Memorandum. Nachlass Erich Pommer, 4.3 – 97/02- 3 (Pommer, Erich), Deutsche Kinemathek, Berlin.
↩Felix Moeller: „Ich bin ein Künstler und sonst nichts“. Filmstars im Propagandaeinsatz. In: Hans Sarkowicz (Hg.): Hitlers Künstler. Die Kultur im Dienst des Nationalsozialismus. Frankfurt a.M., Leipzig: Insel 2004, S. 135-175, hier S. 141.
↩Gertrud Pommer an Erich Pommer, 15. Dezember 1948. Nachlass Erich Pommer, 4.3-97/02 Pommer, Gertrud, 15 /1946-48. In: 4.3-199702, Pommer, E. 27/41, Deutsche Kinemathek, Berlin. Übersetzung aus dem Englischen vom Autor.
↩Vgl. Erich Pommer an Gertrud und John Pommer, 25. Dezember 1946. Nachlass Erich Pommer, ebd. Übersetzung aus dem Englischen vom Autor.
↩Zu Harald Braun vgl. Rolf Aurich, Wolfgang Jacobsen (Hg.): Harald Braun, a.a.O.; darin der Aufsatz “Der Weg von der Wahrheit zur Wirklichkeit, die Suche danach” von Olaf Möller, S. 9-62, besonders zu “Zwischen gestern und morgen”, S. 30-35; eine andere Position zum Film vertritt Heike Klapdor: Mit anderen Augen. Exil und Film. München: edition text + kritik 2021, S. 124-135.
↩