„Diener des Dritten Reichs“ und „erbitterter Gegner Hitlers“? – Alexander von Falkenhausen, der Mord an den belgischen Juden und die frühe Holocaustforschung
Der ehemalige deutsche Militärbefehlshaber in Belgien und Nordfrankreich gilt als „Mann des Widerstands“. Schon früh wurde allerdings auf seine Beteiligung an der Verfolgung und Deportation der jüdischen Bevölkerung Belgiens hingewiesen. Anlässlich des 80. Jahrestages des Anschlages vom 20. Juli 1944 erinnern wir daran.
Ein Jahr nach dem Erscheinen des Bandes „Das Dritte Reich und die Juden“ veröffentlichten Joseph Wulf und Léon Poliakov 1956 eine weitere Quellensammlung. „Das Dritte Reich und seine Diener“ widmete sich der Beteiligung von Justiz, Wehrmacht und Auswärtigem Amt an der Verfolgung der europäischen Jüdinnen und Juden. In der Einleitung konstatierten die Autoren, dass „[…] der gesamte ‚Gotha‘ der deutschen Diplomatie auf diese oder jene Art über die Judenfrage orientiert“ war. Der „Gotha“ war ein Verzeichnis adliger Familien, aus denen viele Diplomaten und Generäle stammten. Viele seien, „ob Antisemiten oder nicht – mit Hitlers Judenpolitik keineswegs einverstanden“ gewesen. Und dennoch:
“Dank ihrer Beflissenheit rollten die einzelnen Akte der ungeheuerlichsten Tragödie unseres Jahrhunderts, von der Rassengesetzgebung bis zum industrialisierten Massenmord, reibungslos und ohne jegliche Panne ab.”
Als Beispiel aus der Wehrmacht wählten die Autoren Alexander Freiherr von Falkenhausen, der von 1940 bis 1944 deutscher Militärbefehlshaber in Belgien und Nordfrankreich gewesen war und, wie sie schrieben, „im Rufe steht, einer der anständigsten deutschen Generale gewesen zu sein“. Allerdings: Als belgische Richter im Herbst 1940 gegen die ersten antijüdischen Verordnungen protestierten, gab der Baron das Schreiben zu den Akten und kommentierte handschriftlich: „Sie ahnen nicht, dass wir noch viel zu milde waren!“1
Poliakov und Wulf kommentierten diese Marginalie:
“[…] der General selbst wusste besser Bescheid über die grausame Behandlung, der die Juden im Osten seit 1940 ausgesetzt waren. Im Vergleich damit mussten die von ihm verkündeten Anordnungen wie ein harmloser Scherz wirken. ‚Dass wir noch viel zu milde waren …‘; denn sicher war er seiner inneren Überzeugung nach gegen Mord an Frauen und Kindern eingestellt. Als Offizier altpreußischer Tradition stand er dem braunen Usurpator und dessen Horden nicht vorbehaltlos gegenüber und bremste deshalb in seinem Machtbereich die judenfeindliche Politik; selbstverständlich ohne jemals dabei einen ernsten Konflikt zu riskieren. Wie andere mussten auch die belgischen Juden dann den Weg nach Auschwitz antreten. Die schüchternen Abschwächungsversuche des Generals genügten jedoch anscheinend, das eigene Gewissen völlig zu beruhigen, so dass er von ‚Milde‘ sprechen durfte.”
Militärbefehlshaber in Belgien und Nordfrankreich
Wer war Falkenhausen? Als Absolvent der Kadettenanstalt in Berlin-Lichterfelde war er im Ersten Weltkrieg mit dem Orden „Pour le mérite“ ausgezeichnet worden und leitete in den späten 1920er Jahren die Infanterieschule in Dresden, bevor er 1930 in den Ruhestand versetzt wurde. In der Weimarer Republik Mitglied des Veteranenverbandes „Stahlhelm“ und der Deutschnationalen Volkspartei, DNVP, trat er nach 1933 weder der NSDAP noch anderen nationalsozialistischen Organisationen bei. Mitte 1934 wurde er Militärberater des chinesischen Generals Chiang Kai-shek, bis er im Zuge der deutsch-japanischen Annäherung 1938 nach Deutschland zurückgerufen wurde. Mit Kriegsbeginn reaktiviert, war er seit Mai 1940 Militärbefehlshaber im besetzten Belgien und Nordfrankreich.2
Tatsächlich bemühte sich die Militärverwaltung unter Falkenhausen in einigen Fällen, von Berlin angeordnete Maßnahmen zugunsten der belgischen Bevölkerung abzumildern. Zudem widersetzte sie sich erfolgreich den Versuchen Himmlers, einen Höheren SS- und Polizeiführer einzusetzen. Hintergrund war wohl weniger eine grundsätzliche Ablehnung des Regimes als vielmehr die Verteidigung gegen die Einmischung anderer Instanzen sowie besatzungspolitische Erwägungen: Von Berlin geforderte Maßnahmen gefährdeten vielfach die auf einem Interessenausgleich zwischen Besatzern und Besetzten beruhende Zusammenarbeit mit einheimischen Behörden und Kollaborateur*innen. Gleichzeitig nutzte die Militärverwaltung die Drohung mit der SS, um Druck auf belgische Verhandlungspartner*innen auszuüben und sich selbst als das geringere Übel zu präsentieren.
Gerade in der „Judenpolitik“ waren die Gegensätze zwischen dem Militärbefehlshaber und der SS allerdings geringer, als der General es nach dem Krieg zugeben wollte. Sämtliche antijüdischen Verordnungen, ob es sich um die Entlassung von Beamt*innen, den Ausschluss jüdischer Schüler*innen oder die Einführung des gelben Sterns handelte, waren von Falkenhausen unterzeichnet worden. Gegen die Einführung der „Judensterne“ hatte die Militärverwaltung allerdings Bedenken geäußert, da sie zurecht davon ausging, dass die Brandmarkung der jüdischen Bevölkerung von einem Großteil der Öffentlichkeit abgelehnt werden würde.3
Auch der Deportation stimmte Falkenhausen zu, wenngleich belgische Staatsbürger*innen zunächst davon ausgenommen wurden; dieses Zugeständnis fiel dem Reichssicherheitshauptamt nicht schwer, da es weniger als 10% der in Belgien lebenden Jüdinnen und Juden betraf. Im Juli 1943 fiel auch diese Einschränkung und jüdische Belgier*innen, die sich in Sicherheit gewiegt hatten, wurden nun ebenfalls verschleppt.4 Zwischen dem 4. August 1942 und dem 31. Juli 1944 wurden mehr als 25.000 Jüdinnen und Juden und 350 Rom*nja aus Belgien und Nordfrankreich deportiert. Die meisten von ihnen wurden in Auschwitz-Birkenau ermordet. Abgesehen vom letzten Transport geschahen alle Deportationen unter Falkenhausens Verantwortung.
Dass der Mord an den Jüdinnen und Juden für den General auch nach dem Krieg keine wesentliche Rolle spielte, zeigt auch die Bewertung der Haupttäter in seinen Memoiren. Auch bei der Polizei habe es „anständige Leute“ gegeben, so „bei der Gestapo den braven bayrischen Kriminaldirektor Straub und beim Sicherheitsdienst Herrn Ehlers“.5 Franz Straub hatte die Gestapo in Brüssel geleitet, Ernst Ehlers war als Beauftragter des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD unmittelbar mit der Verfolgung der Jüdinnen und Juden betraut.
Falkenhausen und der Widerstand
Falkenhausen hatte Kontakt zum Militärwiderstand, welche Rolle er hier spielte, ist allerdings nicht klar. In einigen Papieren wurde er als Kandidat für einen Regierungsposten nach dem Umsturz gehandelt. Innerhalb der Verschwörer*innen gab es jedoch auch Vorbehalte gegen den General. Ulrich von Hassell notierte Anfang 1943, Falkenhausen werde „vielfach abgelehnt, weil er sich am terroristischen Regime beteiligt hatte“. Kritisiert wurde auch sein ausschweifender Lebensstil. Hassell selbst war der Ansicht, dass „die Zahl der Brauchbaren zu gering“ sei, um auf jemanden wie Falkenhausen zu verzichten.6
Falkenhausen wurde kurz vor dem Anschlag vom 20. Juli 1944 durch einen Reichskommissar ersetzt. Da er mit vielen der Verschwörer*innen in Kontakt gestanden hatte, wurde er bis Kriegsende als Verdächtiger von der Gestapo inhaftiert. Die Gestapo stufte ihn jedoch lediglich als Mitwisser ein, was erklärt, warum keine Anklage gegen ihn erhoben wurde.7
Nach dem Krieg wurde er von den Alliierten interniert und 1948 an Belgien ausgeliefert, wo ihm gemeinsam mit seinem ehemaligen Verwaltungschef Eggert Reeder der Prozess gemacht wurde.
Die Beteiligung an der Verfolgung und Ermordung der Jüdinnen und Juden spielte nur eine untergeordnete Rolle. Das belgische Gericht ging davon aus, dass der Befehl zur Deportation direkt vom Reichssicherheitshauptamt (RSHA) in Berlin gekommen sei. Allerdings, so das Urteil, wusste Falkenhausen, was mit den Jüdinnen und Juden in Deutschland passiert war, auch wenn er möglicherweise keine Kenntnis vom Massenmord in Osteuropa gehabt habe. Der General habe also davon ausgehen müssen, dass die von ihm angeordnete Registrierung, Konzentration und Kennzeichnung der Vorbereitung von Massenverhaftungen diente, wie sie dann ab 1942 stattfanden.8
Wegen seiner Verantwortung für Geiselerschießungen, die Deportation von Zwangsarbeiter*innen und die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung in Belgien wurde Falkenhausen 1951 zu zwölf Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Unter Anrechnung früherer Haftzeiten wurden er und Reeder allerdings bereits einige Tage später nach Deutschland abgeschoben. Der Fall war zu einem Politikum geworden. Inhaftierung und Verurteilung Falkenhausens hatten in Westdeutschland für Entrüstung gesorgt. Marion Gräfin Dönhoff porträtierte ihn in „Die Zeit“ als Widerstandskämpfer, der bereits 1933 ein „erbitterte[r] Gegner Hitlers“ gewesen sei; eine Darstellung, die schon angesichts der Mitgliedschaft in der mit der NSDAP koalierenden DNVP bezweifelt werden kann.
Tatsächlich verteidigte Falkenhausen, anders als die meisten ehemaligen Generäle, nach dem Krieg den Versuch, das Regime mit Gewalt zu stürzen. Sein Motiv war jedoch nicht die Empörung über die Verbrechen an den Jüdinnen und Juden oder den von Deutschland begonnen Krieg. Der Antisemitismus war ebenso wie der Versuch, Deutschland kriegsfähig zu machen, ein verbindendes Element zwischen Deutschnationalen und Nationalsozialisten. Was Falkenhausen umtrieb, war die Sorge um die Zukunft Deutschlands angesichts der sich abzeichnenden Niederlage.
Der Holocaust und der 20. Juli nach dem Krieg
Im gleichen Jahr wie „Das Dritte Reich und seine Diener“ erschien eine deutsche Übersetzung von Gerald Reitlingers 1953 erschienenem Buch „The Final Solution“, der ersten Gesamtdarstellung des Mordes an den europäischen Jüdinnen und Juden. Der britische Historiker hatte Falkenhausens vorzeitige Freilassung als „‘Alice in Wonderland‘ justice“ bezeichnet und geschrieben, dass diese nichts an der Tatsache ändere, dass Falkenhausen und Reeder „die Juden aus ihren Heimen rissen, ihr Vermögen beschlagnahmten und keinen ernsten Versuch machten, das Schicksal in Erfahrung zu bringen, das diesen unschuldigen Menschen drohte, die durch ihre Hände gegangen waren“.9 Die deutsche Übersetzung erschien im Berliner Colloquium-Verlag und wurde von der Bundeszentrale für Heimatdienst, der späteren Bundeszentrale für politische Bildung, durch die garantierte Abnahme eines Teils der Auflage unterstützt.
Falkenhausen und sein ehemaliger Verwaltungschef Reeder müssen von dieser Unterstützung durch die Bundeszentrale erfahren haben, denn sie wandten sich noch vor Erscheinen des Buches an den Staatsekretär im Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, Franz Thedieck. Dieser hatte unter Falkenhausen und Reeder bis 1943 als Oberkriegsverwaltungsrat in Brüssel gedient, konnte allerdings gegen die Publikation nichts ausrichten. Der damalige Leiter der Bundeszentrale antwortete dem Staatsekretär, dass „die Frage des Antisemitismus zu den Aufgaben meiner Dienststelle gehört“ und wies darauf hin, dass es sich bei Reitlingers Werk um „das bisher bedeutendste Buch im Ausland“ handle.10
Dass Poliakov und Wulf sich dafür entschieden, Falkenhausen auch in ihrer Quellenedition besonders hervorzuheben, hatte also vermutlich einen aktuellen Hintergrund. Der General gehörte nicht nur dem militärischen Widerstand an, sondern war auch ein Täter in der arbeitsteiligen Organisation des Mordes an den europäischen Jüdinnen und Juden sowie den Rom*nja. In der jungen Bundesrepublik war dies eine unbequeme Wahrheit, da nicht nur viele Generäle der ein Jahr zuvor gegründeten Bundeswehr, sondern auch die meisten Diplomaten, Richter und Staatssekretäre ihre Karrieren im Nationalsozialismus begonnen hatten. Die Erzählung von den dem Regime ablehnend gegenüberstehenden Funktionseliten, die nur aus Verantwortungsbewusstsein auf ihren Posten geblieben waren, war für diese Gesellschaft konstitutiv. Die noch bis Anfang der 1950er Jahre als Verräter geschmähten Putschisten vom 20. Juli 1944 avancierten zum Gründungsmythos des „anderen Deutschlands“. Am 20. Juli 1954, anlässlich des zehnten Jahrestages, fand erstmals eine Gedenkveranstaltung unter Teilnahme der Spitzen des Staates im Bendlerblock statt. Der Mythos des 20. Juli bemäntelte die unbequeme Wahrheit, dass die Nationalsozialist*innen mit und durch die Deutschnationalen an die Macht gekommen waren. Zahlreiche Verschwörer*innen hatten sich wie Falkenhausen an den Verbrechen beteiligt oder diese zumindest als ein notwendiges Übel akzeptiert, das mit der Allianz mit dem Nationalsozialismus einherging. Anlässlich des 80. Jahrestages muss gefragt werden, wie diese Verstrickung in die Erinnerung an den Putschversuch integriert werden kann.
Autor:
Dr. Jakob Müller
Abteilung Bildung und Forschung / wissenschaftlicher Mitarbeiter
(030) 2179986-26
Léon Poliakov/Joseph Wulf, Das Dritte Reich und seine Diener, Frankfurt 1983 [EA: Berlin, 1956], S. X-XII.
↩Ausführlicher: Jakob Müller, Kriegsverbrecher und „Mann des Widerstands“. Alexander von Falkenhausens Erinnerungen und der Mord an den Juden in Belgien – Ein Beitrag zur Täterforschung, in: Sebastian Bischoff u.a. (Hg.), Belgien, Deutschland und die ‚Anderen‘. Bilder, Diskurse und Praktiken von Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung, Münster 2024, S. 189-204.
↩Falkenhausen hatte sich gegen die Festnahme belgische Juden mit dem Argument ausgesprochen, dass diese untertauchen und damit den Widerstand stärken würden. Meinen (Fn. 3), S. 79.
↩Ulrich von Hassell, Die Hassell-Tagebücher 1938–1944. Aufzeichnungen vom Andern Deutschland. Berlin 1988, Aufzeichnung vom 22.1.1943, 345.
↩Linda von Keyserlingk-Rehbein, Nur eine „ganz kleine Clique“? Die NS-Ermittlungen über das Netzwerk vom 20. Juli 1944. Berlin 2018, S. 125-130, 536-530.
↩Gerald Reitlinger, Die Endlösung. Hitlers Versuch der Ausrottung der Juden Europas 1939–1945, Berlin 1956, S. 391.
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