"Was bedeutet Wannsee für…?"
Schon der Name des Berliner Ortsteils ist für manche Menschen eine Chiffre für den Mord an den europäischen Jüdinnen und Juden. Andere bemerken beim Besuch der Gedenkstätte zuerst die Schönheit der Parkanlage. Eine neue Sonderausstellung in Haus und Garten macht verschiedene Perspektiven auf diesen Ort sichtbar.
Als Beitrag zu unserem Jahresthema 2024 rund um “Perspektivenvielfalt” haben wir eine Werkstattausstellung entwickelt, die seit Juli auf dem gesamten Gelände der Gedenk- und Bildungsstätte zu sehen ist: In unterschiedlichen Formaten – auf “Kundenstoppern”, großen Tafeln am Rondell vor der Villa, einer Wandtapete im ersten Stock sowie Postern und Aufklebern in der Dauerausstellung – zeigen wir Kommentierungen zum Haus und seiner sich über Jahrzehnte erstreckenden Geschichte. Zur Orientierung dient eine Übersichtskarte, die auf einem Faltblatt im Taschenformat auch zum Mitnehmen zur Verfügung steht:
Die von vielen Besucher*innen erlebte Ambivalenz des Ortes wird in den 26 Stationen der Ausstellung besonders deutlich: Eine Nachbarin erzählte uns, dass sie den Garten regelmäßig besucht, weil sie hier Ruhe finde. Sie wisse um die Geschichte der Wannsee-Konferenz, könne beim Aufenthalt auf dem Gelände aber dennoch entspannen (8). Für Fahrradtourist*innen, die eine Tour entlang des Wannsees unternehmen, ist die Gedenk- und Bildungsstätte ein idealer Platz für eine Rast: kein Eintritt, frei zugängliche Sanitärräume und Bänke direkt am Wasser (12). Und auch für unseren Facility Manager Karsten Krüger, der lange Jahre als Gärtner gearbeitet hat, steht “Wannsee” vor allem für den denkmalgeschützten Garten mit seiner artenreichen Bepflanzung. Er freut sich, wenn Besucher*innen den Aufenthalt dort genießen (11).
Neben diesen Perspektiven finden sich aber auch Hinweise auf eine ganz andere Wahrnehmung und Bedeutung: So musste der 14-jährige Alfred Silberstein ab Sommer 1942 in diesem Garten Zwangsarbeit verrichten, bevor er im Jahr darauf nach Auschwitz verschleppt wurde (9). Nach dem Krieg wurde die Villa als Schullandheim genutzt. Viele Neuköllner Kinder haben Klassenausflüge hierher unternommen und erinnern sich ans Schwimmen, Segeln und Fußball spielen. Ihnen wurde erst Jahrzehnte später klar, dass sie sich im Haus der Wannsee-Konferenz erholt und amüsiert hatten (7). Um diese Bedeutung wusste die israelische Künstlerin Inbar Chotzen sehr genau, als sie das erste Mal den Weg vom Tor zum Haus ging: Sie hätte Gänsehaut gehabt, berichtet sie, wollte aber unbedingt den Nachlass ihrer Familie sehen, den unsere Joseph Wulf Bibliothek verwahrt (24). Für die Überlebende Batsheva Dagan war “Wannsee” ihr persönlicher Schicksalsort:
“Dies ist der Ort, an dem die Ermordung der europäischen Juden geplant wurde, die sogenannte ‚Endlösung‘. Durch diesen Ort habe ich meine Familie verloren. Dies ist der Ort, der wie kaum ein anderer Ort Auswirkungen auf mein Leben hat. Das ist alles, was ich sagen kann.”
In der Dauerausstellung fungieren die neuen Aufkleber und Poster auch als Ergänzung der Präsentation. Im Konferenzraum ist nun auch die während der Besprechung 1942 anwesende Sekretärin Ingeburg Werlemann sichtbar. Das Prinzip unserer “Erzählhaltung” war, Perspektiven weder als richtig oder falsch einzuordnen oder gar aus der eigenen Einschätzung als Gedenk- und Bildungsstätte zu bewerten. Daher haben wir ausschließlich Werlemanns eigene Aussagen aus Nachkriegsprozessen genutzt: Sie behauptete, sich nicht an die Inhalte der “Wannsee-Konferenz” zu erinnern – nicht einmal daran, “ob Judenangelegenheiten besprochen wurden”: “Von der Besprechung weiß ich selbst nur noch, daß mein Versuch, stenographische Aufzeichnungen zu machen, mißglückte, weil viel durcheinander gesprochen wurde.” (17)
Die Themen Rassismus und Antiziganismus, die in unserer Ausstellung bisher unterrepräsentiert sind, werden jetzt in einer Kommentierung der gezeigten Objekte sichtbar, was durchaus als kritisches Hinterfragen unserer eigenen Arbeit verstanden werden darf: Reicht es, antisemitische und rassistische Karikaturen als solche zu benennen und einzuordnen – oder sollten wir sie besser gar nicht zeigen?
Die Inhalte der von Jennifer Heidtke, Ruth Preusse und David Zolldan erarbeiteten Ausstellung wurden im Vorfeld mit den Kolleg*innen des Hauses diskutiert und haben bereits zu intensivem Austausch über unser Selbstverständnis und unsere Rolle in der Gesellschaft geführt. Besonders trifft das auf die Einführungstafel und die Präsentation am Rondell zu, da es hier vor allem um Politik und Gegenwartsbezüge geht. Gleich mehrfach geht es um die Recherchen des Netzwerks Correctiv, zum Beispiel im Text zu Perspektiven der “Zivilgesellschaft” (4):
“Nach der Veröffentlichung der Correctiv-Recherche und Umfragerekorden für rechtsextreme Positionen finden seit Januar 2024 bundesweit Demonstrationen von Hunderttausenden gegen Rechtsruck, völkisches Denken und die AfD statt. Online und vor Ort sind häufig historische Vergleiche zu hören. Neben Vergleichen mit der ‘Wannsee-Konferenz’ werden auch der ‘Madagaskar-Plan’ oder die ‘Nürnberger Gesetze’ genannt. Durch die Teilnahme von CDU-Mitgliedern am ‘Potsdamer Treffen’ wurde die Nähe von Konservatismus und extremen Rechten als Wegbereiterin des Faschismus hinterfragt.”
Wie zu erwarten war, gibt es zur Angemessenheit dieser Vergleiche ganz unterschiedliche Meinungen – sowohl unter den Mitarbeitenden des Hauses als auch von den Besuchenden. Ergänzungen und Kommentierung von Perspektiven sind erwünscht: Wenden Sie sich gerne an perspektiven[at]ghwk.de!
Autorin:
Dr. Ruth Preusse
Abteilung Kommunikation und Öffentlichkeit / wissenschaftliche Mitarbeiterin, Projektsteuerung
(030) 2179986-42