Text vergrößern
Text invertieren
◄  Zurück Weiter  ►
x

Brief von Joseph Wulf

Video Gebärdensprache

Audio-Text

Als Joseph Wulf im August 1974 an seinen Sohn David schreibt, ist die Verzweiflung kaum zu überlesen:

„Ich habe hier 18 Bücher über das Dritte Reich veröffentlicht und das alles hatte keine Wirkung. Du kannst Dich bei den Deutschen tot dokumentieren, es kann in Bonn die demokratischste Regierung sein – und die Massenmörder gehen frei herum, haben ihr Häuschen und züchten Blumen.“

Wulf, in Krakau aufgewachsen und vor dem Zweiten Weltkrieg zum Rabbiner ausgebildet, hatte Ausschwitz-Birkenau überlebt und konnte kurz vor Kriegsende bei einem Todesmarsch fliehen. Ab den 1950er-Jahren begann er in der jungen Bundesrepublik, umfassend über den Holocaust zu informieren, vor allem durch seine Bücher. 1966 wollte er dieser Arbeit einen neuen Rahmen geben und rief zusammen mit Freunden und Kollegen den Verein „Internationales Dokumentationszentrum“ ins Leben. Dessen Ziel war es, ein Forschungs- und Dokumentationszentrum über den Nationalsozialismus und seine Folgewirkungen in dieser Villa einzurichten. Es sollten möglichst viele Dokumente über die NS-Zeit und ihre Folgeerscheinungen zusammengetragen werden, vor allem von jenen Gerichtsprozessen, die erst in den späten 1950er-Jahren begannen.

Doch von mehreren Seiten kam teils heftiger Widerspruch: Der Berliner Senat verteidigte sein Schullandheim, das der Bezirk Neukölln seit 1952 hier in der Villa betrieb. Teile der Presse und einige Organisationen griffen dieses Argument auf, doch wurde im Zuge der öffentlichen Auseinandersetzung immer deutlicher, dass vor allem die Erinnerung an die NS-Verbrechen schlicht nicht gewollt war. So befürchtete der Sozialdemokrat und Berliner Bürgermeister Klaus Schütz, dass das Haus zu einer „makaberen Kultstätte“ werden könnte, während die Zeitung „Christ und Welt“ von einem „Denkmal der Schande“ sprach.

Joseph Wulf sah angesichts der vielen Widerstände letztlich sein Lebenswerk gescheitert. Die Eröffnung der Gedenkstätte im Jahre 1992 erlebte er nicht mehr: 1974 – zwei Monate, nachdem er seinem Sohn die eingangs erwähnten Zeilen geschrieben hatte – nahm sich Joseph Wulf das Leben.