Foto und Notizbuch Andrée Geulens

Auf dem Foto, das sich auch in unserer Ausstellung befindet, ist eine junge Frau zu sehen, die ernst in die Kamera blickt. Im Hintergrund zwei deutsche Soldaten. Das Foto stammt aus der Zeit der Besatzung Belgiens, um 1943. Vermutlich wurde es von einem Straßenfotografen in Brüssel gemacht, so Laurence Schram von der Gedenkstätte „Kazerne Dossin“. Solche Fotografen machten ungefragt Aufnahmen von Passanten und versuchten dann die Schnappschüsse zu verkaufen.

Andrée Geulen während der Besatzung Belgiens. Quelle: Sammlung Geulen, Kazerne Dossin

Andrée Geulen gehörte dem „Komitee für die Verteidigung der Juden“ (Comité de Défense des Juifs – CDJ) an. Ihre Aufgabe war es, Kinder bei ihren Eltern abzuholen und in Verstecken unterzubringen, die vom Komitee organisiert worden waren.

In unserer Ausstellung zeigen wir eine Seite aus einem Notizbuch das Geulen, gemeinsam mit den Widerstandskämpferinnen Ida Sterno und Claire Murdoch benutzte. In diesem stehen die Namen von 1079 Kindern, welche das Komitee versuchte zu verstecken. 

In sechs Spalten sind Familien- und Vornamen, Geburtsdaten, Alter, Wohnadresse sowie Bemerkungen (frz. „Observations“) eingetragen. Die Namen von erfolgreich untergebrachten Kindern wurden durchgestrichen. Diejenigen, die nicht versteckt werden konnten, wurden in vielen Fällen ermordet. Die achtjährige Hilda Fefer (vorletzter Name auf der Seite) wurde am 19. April 1943 mit dem 20. Transport von Mecheln nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Sie wurde vermutlich unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet.1 

 

Das Notizbuch mit den Namen von Kindern, deren Rettung das CDJ plante. Quelle: Sammlung Geulen, Kazerne Dossin

Die Eintragungen unter den jeweiligen Buchstaben erfolgte chronologisch nicht alphabetisch. Auf der abgebildeten Seite folgt auf die Namen „Frucht“ und „Fryc“, der Name „Fajn“. 

Die Adressen befinden sich alle in Brüssel, die meisten im Zentrum. In drei Fällen („Molenb.[eek]“, „Schaerbeek“ und „Laek[en]“) ist der Stadtteil ergänzt. Unter dem Punkt „Bemerkungen“ finden sich unerschiedliche Angaben. Bei den Geschwistern Henriette und Jeanne Frucht (vier und acht Jahre alt) steht „alleine mit dem Vater DRINGEND“ („seuls avec le père URGENT“). Ansonsten Informationen zur Abholung, z.B. „Zu Hause nach sechs Uhr“ („A la maison après 6 heures“) bei Joseph und David Flaks. Bei mehreren Kindern gibt es Angaben zu den Unkosten der Unterbringung. Bei Jacques, Herta und Yvonne Frucht steht beispielsweise „2000 Francs für die 3 Kinder 5 Monate im Voraus“ („2.000 frs pour les 3 enf. 5 mois d’avance“). Bei Sophie und Ester Fi[unleserlich] steht lediglich die Bemerkung „zahlend“ („payant“). Laut dem Historiker Lucien Steinberg wurden monatlich etwa 500 belgische Franken pro Kind gezahlt. Ein Betrag, der kaum die Unkosten deckte und selbstverständlich in keinem Verhältnis zum eingegangen Risiko stand. Der Großteil der Kosten wurde vom amerikanischen JOINT und von der belgischen Exilregierung getragen.2

Übrigens finden sich auch die Namen des späteren Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland Paul Spiegel und seiner Schwester Rosa im Notizbuch. Beide sind nicht durchgestrichen. Die elfjährige Rosa Spiegel wurde auf der Straße verhaftet und am 17. Oktober im Sammellager Mecheln registriert. Am 24. Oktober 1942 wurde sie mit dem XIV. Transport von Mecheln nach Auschwitz-Birkenau deportiert und ermordet. Paul wurde daraufhin für einige Zeit bei einer Brüsseler Familie untergebracht, die jüdische Kinder gegen Geld versteckte. Weil er dort sehr schlecht behandelt wurde, – die Kinder durften nicht nach draußen, bekamen wenig zu essen – brachte seine Mutter ihn nach einiger Zeit auf einem Bauernhof unter.3 Beide Verstecke wurden wahrscheinlich nicht vom CDJ organisiert, welches strikte Geheimhaltungsregeln hatte, so dass die Eltern in der Regel nicht wussten, wo ihre Kinder untergebracht waren, und nur über das CDJ mit ihnen kommunizieren konnten.

 

Hintergrund

Ausschnitt aus dem Notizbuch mit den Namen von Paul und Rosa Spiegel. Quelle: Sammlung Geulen, Kazerne Dossin

Das CDJ gehörte zur Widerstandsorganisation Front de l’Indépendance/Onafhankelijkheidsfront (FI/OF), die von Kommunisten gegründet worden war, aber als überparteiliche Dachorganisation des belgischen bewaffneten und unbewaffneten Widerstandes fungieren sollte. Die Initiative eine Organisation innerhalb der FI zu gründen, die sich ausschließlich dem Schutz der Juden widmen sollte, ging von dem Kommunisten Hertz („Ghert“) Jospa und dem Rechtszionisten Chaim Perelman aus. Beide waren Juden, so wie die große Mehrheit der Mitglieder des CDJ. Das CDJ half auch Erwachsenen beim Untertauchen, obwohl der Schwerpunkt auf der Hilfe für Kinder lag. Das Untertauchen jüdischer Kinder wurde in Zusammenarbeit mit der Vorsitzenden des Nationalen Kinderhilfswerks (Œuvre nationale de l´Enfance / Nationaal Werk voor Kinderwelzijn) Yvonne Nèvejean organisiert. Die meisten, der etwa 2.200 vom CDJ versteckten Kinder kamen in katholischen Einrichtungen unter. 

Daneben wurde versucht die Juden in Belgien mit Flugschriften und Zeitungen auf Französisch, Niederländisch und Jiddisch über den Charakter der Deportationen aufzuklären. Im Frühjahr 1943 wurde Victor Martin vom FI nach Deutschland geschickt, um dem Schicksal der Deportierten nachzugehen. In Oberschlesien gelang es ihm mit Hilfe französischer Arbeiter Informationen über die Massenvernichtung zu sammeln. Nach seiner Rückkehr im Mai 1943 unterrichtete er FI und CDJ.4 Aus den Reihen des CDJ wurden auch vereinzelte bewaffnete Aktionen unternommen. Jüdische Partisanen ermordeten am 29. August 1942 Robert Holzinger, der im belgischen Judenrat (AJB/JVB) für den „Arbeitseinsatz“ zuständig war und u.a. die Opfer aufrief sich zur Deportation zu melden. Am 19. April 1943 griffen dem CDJ nahestehende Partisanen den XX. Transport nach Auschwitz an und ermöglichten so mehr als 200 Deportierten die Flucht.5

Mehr zum CDJ erzählt unsere Kollegin Dorien Styven aus der belgischen Gedenkstätte „Kazerne Dossin“ in unserem englischsprachigen Podcast „Wannsee. Looking at the International Dimension of the Holocaust“, welchen Sie hier anhören können! 

 

Ward Adriaens u.a. (Hrsg.), Mecheln – Auschwitz, 1942-1944, Brussel 2009, S. 93.

Lucien Steinberg, Le Comité de défense des Juifs en Belgique, 1942-1944, Bruxelles 1973, S. 106; Im Anhang findet sich eine detaillierte Auflistung der Einnahmen und Ausgaben des CDJ während des Kriegs. 

Paul Spiegel, Wieder zu Hause. Erinnerungen, München 2001, S. 50-64.

Rudi van Doorslaer u.a. (Hrsg), Gewillig België, Brussel 2007, S. 688. 

Marion Schreiber, Stille Rebellen, Der Überfall auf den 20. Deportationszug nach Auschwitz, Berlin 2000.