Erinnern

Nach der Befreiung im Jahr 1945 finden sich die wenigen Überlebenden am Rande des Abgrunds wieder: Sechs Millionen Jüdinnen und Juden wurden ermordet. Die Lebenswelten und das kulturelle Umfeld der Überlebenden waren zerstört. Sie sahen sich mit den Schrecken der Vernichtung konfrontiert. In dieser Situation fühlen sich die Angehörigen der ersten Generation der Holocaustforschung zum Handeln aufgerufen. Sie fragen sich, wie sie der Ermordeten gedenken können. Gibt es einen angemessenen Weg, um an die ungezählten Toten und die ausgelöschten Gemeinschaften zu erinnern, ihnen ihre Namen und ihre Würde wiederzugeben?

© United States Holocaust Memorial Museum, Alice Lev
In einem DP-Lager in Frankfurt-Zeilsheim halten jüdische Flüchtlinge eine Andacht für die Opfer des Holocaust ab. Religion und Gedenken an den Holocaust sind zentrale Aspekte der Gemeinschaft. Das Lager besteht von 1945 bis 1948, mehr als 3000 jüdische Menschen leben dort.

Das unbegreifliche Geschehen zwingt die frühen Forscherinnen und Forscher dazu, sich auf die greifbaren Dinge zu fokussieren. Unter Lebensgefahr gerettete Artefakte sind Ausgangspunkt für unterschiedliche Formen von Erinnerung. Darunter befinden sich Gebets- und Liederbücher, Instrumente, Fotografien und Tagebücher. Solche persönlichen Gegenstände bilden die Grundlage einer sich langsam entwickelnden Erinnerungskultur. Einige Überlebende beginnen, ihre Erinnerungen niederzuschreiben. So entstehen Erzählungen und Deutungen über die Vergangenheit. Hinzu kommen provisorische Gedenkstätten: In vielen Lagern für Überlebende (Displaced Persons, DP-Camps) werden behelfsmäßige Altäre erbaut, um die sich Gebetskreise sammeln, die das Kaddisch, das jüdische Totengebet, sprechen. Mancherorts überdauern diese Denkmale die DP-Lager.


Darüber hinaus verspüren einige der frühen Forschenden das Bedürfnis, ihremWürde im Angesicht von Zerstörung und Entmenschlichung zu behaupten. Über die gemeinsame Arbeit des Forschens bildet sich eine über nationale Grenzen hinausgehende Gemeinschaft. Sie entstand auch als eine Erwiderung auf die empfundene Gleichgültigkeit und Feindseligkeit der Welt. Die Erinnerung an jene, die getötet wurden, wirkt als Mahnung gegen das Schweigen.

© Ursula Böhme
Solidaritätskundgebung von ehemaligen Lagerinsassen für den Staat Israel, Paris, 1948. Joseph Wulf steht links auf dem Balkon.

Jüdinnen und Juden aus ganz Europa haben während und nach dem Holocaust Erinnerungen dokumentiert, aufbewahrt und geteilt, um das Gedächtnis an eine beinahe ausgelöschte Welt zu erhalten. Darauf beruht das heutige Gedenken an den Holocaust. Es findet seinen öffentlichen Ausdruck in Mahnmalen, Gedenkorten und Dokumentationszentren, aber auch in Filmen und Literatur.

Das erste von zwei Ehrenmalen zum Gedenken an den Aufstand im Warschauer Ghetto. Die Steinplatte wird 1946 in Warschau eingeweiht, die Inschrift ist auf Polnisch, Hebräisch und Jiddisch: „Für die, die in einem beispiellosen und heldenhaften Kampf um Würde und Freiheit des jüdischen Volks, für ein freies Polen und für die Befreiung der Menschheit fielen – polnische Juden.
 

Das Mémorial de la Shoah in Paris ist die bedeutendste Gedenk- und Erinnerungseinrichtung in Frankreich. Es besteht aus einem Museum und dem Centre de documentation Juive Contemporaine (Zentrum für zeitgenössische jüdische Dokumentation). Es wurde 1943 von Isaac Schneersohn, Léon Poliakov und anderen gegründet, um die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Frankreichs zu dokumentieren, Erinnerungen zu bewahren und die Strafverfolgung von Tatbeteiligten zu ermöglichen. Mit dem 2005 eröffneten Museum und dem aus der Sammlung hervorgegangenen Archiv ist das Mémorial de la Shoah bis heute ein Zentrum für die Auseinandersetzung mit dem Holocaust.

© Archiv der Gedenkstätte Auschwitz
Der Eingang zum Museum der Gedenkstätte Auschwitz, 1948.

Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau
Der Begriff Auschwitz steht heute stellvertretend für das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte. In Auschwitz wurden etwa 1,2 Millionen Menschen ermordet. Die polnische Regierung lässt auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslagers bereits am 2. Juli 1947 ein Museum und eine Gedenkstätte einrichten, die schon im ersten Jahr von über 170 000 Personen besucht werden. Bis heute kamen mehr als 45 Millionen Menschen aus aller Welt in die Gedenkstätte. 1979 wird dieser Tatort des Holocaust zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt. Die Besucherzahlen steigen jährlich an.

© dpa/picture alliance/Ilia Yefimovich, 101508276
Jedes Jahr zum Yom HaShoah heulen in ganz Israel um zehn Uhr Sirenen, das Leben kommt für zwei Minuten zum Stillstand.

Holocaust-Gedenktage
Im Dezember 1948 findet in Israel der erste Holocaust-Gedenktag statt. Initiiert von dem Oberrabbinat Israels und Mitgliedern ehemaliger jüdischer Gemeinden aus Europa, wird im April 1952 der Yom HaShoah von Premierminister David Ben Gurion als nationaler Trauertag festgesetzt. Später gedenken auch andere Länder an unterschiedlichen Tagen des Holocaust. Mit dem International Holocaust Remembrance Day gibt es seit 2005 einen einheitlichen internationalen Gedenktag: Am 27. Januar, dem Jahrestag der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee, finden weltweit Gedenkveranstaltungen statt.

© The Bidder Auctions
Das Yizkor-Buch über die jüdische Bevölkerung der polnischen Stadt Wołkowysk (heute in Belarus), 1949. Es rekonstruiert die Geschichte der jüdischen Gemeinschaft der Stadt bis zur Ermordung fast all ihrer Mitglieder im Holocaust aus Berichten von Überlebenden.

Yizkor-Bücher
Yizkor (Erinnerung) werden Bücher genannt, die insbesondere an die vernichteten jüdischen Gemeinden Osteuropas erinnern. Sie bilden eine Sammlung an Erinnerungen derer, die der Vernichtung entkamen, und rekonstruieren so die jüdische Geschichte Osteuropas vor dem Holocaust. Sie beinhalten außerdem oft Tagebucheinträge, Gedichte und Briefe sowie Todeslisten. Bereits 1943 erscheint in New York ein Yizkor-Buch, das der jüdischen Bevölkerung von Łódź gewidmet ist. Später verfassen Komitees von Überlebenden Yizkor-Bücher in Jiddisch oder Hebräisch.