Gregor Sander liest aus Franz Werfel

„Stern der Ungeborenen“

Franz Werfel, 1940 (Foto: Carl van Vechten. Library of Congress, Prints & Photographs Division, Carl Van Vechten Collection, LC-USZ62-42512)

Während es Anna Seghers gelang, aktuelle Ereignisse unmittelbar in Literatur umzusetzen, suchte der in Prag geborene deutsch-jüdische Schriftsteller Franz Werfel in seinem Roman „Stern der Ungeborenen“ erkennbar eine angemessene Form für seinen Blick auf das Weltgeschehen.

Im ersten Kapitel, das Gregor Sander lesen wird, beschreibt Werfel die Schwierigkeiten des Schreibprozesses selbst und seine Entscheidung, sich nicht den „Verfolgten“, „Gefolterten“ und „zu Tode Getroffenen“ der Gegenwart zuzuwenden, sondern eine Traum-Reise in die Zukunft in 100.000 Jahren zu unternehmen. Begonnen hatte er mit diesem letzten Werk im Frühjahr 1943 im amerikanischen Exil. Er beendete es zwei Tage vor seinem Tod, es erschien posthum: Der 55-Jährige starb am 24. August 1945 an einem Herzleiden. 

Verglichen mit seinen anderen Romanen und Erzählungen, mit denen er ab den 1920er Jahren zum Bestsellerautor wurde, ist „Stern der Ungeborenen“ inhaltlich deutlich weniger ausgereift und schwerer, möglicherweise sogar langweilig zu lesen. Ausgewählt haben wir ihn, weil Werfel in diesem ersten Kapitel so anschaulich die Schwierigkeiten erkennen lässt, die er beim Schreiben, beim Fassen des Themas und beim Finden der Sprache hatte – aber muss ein Künstler nicht auch scheitern dürfen angesichts dieses Menschheitsverbrechens? Hören Sie selbst! 

Deutlich zur Lektüre empfehlen möchten wir Werfels Roman, der von den Nationalsozialisten verbrannt wurde: „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ über den Völkermord an den Armeniern. Außerdem natürlich „Das Lied von Bernadette“, dessen Entstehungsgeschichte die etwas kitschige katholische Frömmigkeit, mit der Werfel Zeit seines Lebens liebäugelte, erträglich macht: Auf der Flucht vor den Deutschen aus Südfrankreich nach Spanien hielten sich Franz Werfel und seine Frau Alma Mahler-Werfel zeitweise im Wallfahrtsort Lourdes auf. Werfel soll dort gelobt haben, ein Buch über die Marienerscheinungen zu schreiben, sollte er überleben. Der Roman über Bernadette Soubirous wurde ein großer Erfolg und 1943 in den USA verfilmt.

Gregor Sanders liest aus Franz Werfel:
„Stern der Ungeborenen“

Gregor Sander

Gregor Sander (Foto: Patrick Voigt)

wurde 1968 in Schwerin geboren und lebt in Berlin. Für seine Romane und Erzählungen wurde er mehrfach ausgezeichnet. Sein Roman-Debüt „Abwesend“ war für den Deutschen Buchpreis nominiert, „Was gewesen wäre“ wurde prominent besetzt für das Kino verfilmt. Im Herbst 2019 erschien sein aktueller Roman „Alles richtig gemacht“.