Queer sein im Militär

Foto: Hatje Cantz Verlag/ Sammlung Martin Dammann
Aus der Sammlung Martin Dammann.
Foto: Hatje Cantz Verlag/
Martin Dammann, Soldier Studies. Cross-Dressing in der Wehrmacht, Berlin 2019, Sammlung Martin Dammann.

Der Begriff queer ist eine Sammelbezeichnung für sexuelle Orientierungen, die nicht heterosexuell sind, sowie unterschiedliche Geschlechtsidentitäten. Im Gegensatz zu anderen Begriffen wie homosexuell oder bisexuell bei sexuellen Orientierungen und trans- oder intergeschlechtlich bei Geschlechtsidentitäten gibt es für queer keine einheitliche Definition.

Queer war zunächst eine beleidigende Bezeichnung. Mittlerweile wird diese als positive Selbstbezeichnung queerer Menschen verwendet, die sich diesen Begriff angeeignet haben.

Queer sein hat es immer in der Gesellschaft gegeben. Homosexualität unter Männern war lange Zeit eine Straftat. Auch im Militär galt zumeist: Solange diese nicht offen ausgesprochen wurde (und dementsprechend auch nicht offen gelebt werden konnte), gab es keine Verfolgung.

Paragraf 175

Der §175, der sexuellen Beziehungen zwischen Männern unter Strafe stellt, wurde 1871 in das Strafgesetzbuch des Deutschen Reiches aufgenommen. Sexuelle Beziehungen wurden darin als sittenwidrig angesehen. Dies galt nicht für Frauen. Von 1871 bis 1935 gab es nur wenige Verurteilungen, da tatsächlicher Geschlechtsverkehr bewiesen werden musste. Es war also kein Verbrechen, sich als homosexuell zu bezeichnen.

Magnus Hirschfeld, ein deutscher Arzt und Sexualforscher, setzte sich in der Weimarer Republik für die Abschaffung von §175 ein. Er stützte seine Argumentation auf seine wissenschaftlichen Forschungen und vertrat die Auffassung, dass gleichgeschlechtliche Anziehung angeboren sei und daher entkriminalisiert werden sollte. 

In den ersten Jahren des NS-Regimes änderte sich zunächst wenig bei der Anwendung von §175, dennoch überfielen Nazis Szene-Bars und griffen queere Personen an. Im Juni 1935 verschärften und erweiterten sie §175. Etwa 100.000 Männer wurden auf Grundlage dieses Paragrafen verhaftet, die Hälfte zu Gefängnis- oder Konzentrationslagerstrafen verurteilt. Im KZ wurden die Häftlinge mit dem Rosa Winkel gekennzeichnet. Lesbische Frauen wurden als „Asoziale“ verfolgt und mit dem Schwarzen Winkel gekennzeichnet.

Von Grzegorz Wysocki - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3895666
Verurteilungen nach §175.
Legende: 1 – Deutsches Kaiserreich; 2 – Weimarer Republik; 3 – Nationalsozialismus; 4 – Bundesrepublik Deutschland

Der "Röhm-Skandal" und die Konsequenzen

National Archives, https://catalog.archives.gov/id/162122137
Ernst Röhm in seiner Uniform als Hauptmann, wahrscheinlich am 1. April 1924 in München während des Prozesses zum Hitlerputsch, Fotograf unbekannt, National Archives

Es gab queere Deutsche, die die nationalsozialistische Ideologie unterstützten und aktive Mitglieder des Regimes waren. Prominentes Beispiel ist Ernst Röhm, Chef der Sturmabteilung (SA). Er war ein Veteran des Ersten Weltkriegs und gehörte zu den Gründern der NSDAP. Er ist dem engen Kreis Hitlers zuzuordnen und unterstützte diesen bei der Organisation des gescheiterten Hitlerputsch 1923. 

Röhm wurde 1931 auf Hitlers Wunsch Chef der SA und entwickelte den Ehrgeiz, die Reichswehr zu verdrängen. 1933 wurde er zum Reichsleiter ernannt. Röhms "Bisexualität" – so seine Eigendefinition - war ein offenes Geheimnis. Hitler erließ im Februar 1931 eine Direktive, die besagte, dass das Sexualleben der SA-Führer Privatsache sei. 

Während der “Nacht der langen Messer” ließ die NS-Führung unter Adolf Hitler Führungskräfte der SA ermorden, darunter Ernst Röhm. Die SS wurde eine selbstständige Organisation. Heinrich Himmler drohte, dass SS-Männer aufgrund möglicher homosexueller Handlungen öffentlich lächerlich gemacht, vor Gericht für schuldig befunden, ins Gefängnis und Konzentrationslager gebracht und bei einem "Fluchtversuch" erschossen werden würden.

Der Umgang der Wehrmacht und SS mit queeren Soldaten*

Es gab kein Militärgesetz zur Bestrafung von Homosexualität. Soldaten wurden nach dem Zivilrecht und dem §175 verfolgt. Zwischen September 1939 und Juli 1944 wurden ca. 7.000 Soldaten verurteilt. 

In einer im Januar 1942 von Hermann Göring erlassenen Richtlinie wurden die Gerichte aufgefordert, zwischen zwei Szenarien für Soldaten zu unterscheiden. Entweder handelte es sich um diejenigen, die "homosexuelles Verhalten" an den Tag legten, dann wurden sie ins Gefängnis oder Konzentrationslager verschleppt und aus der Armee ausgeschlossen; oder sie waren "verführt" worden, dann konnten sie in der Regel nach ihrer Verurteilung wieder in die Armee eingegliedert werden. 

Adolf Hitler und Heinrich Himmler waren davon besessen, die Wehrmacht, die Polizei und die SS von Homosexualität "unbelastet" zu halten. Richter durften Soldaten, Polizisten und SS-Männer zum Tode verurteilen.

Kriminalstatistik der Wehrmacht,
in: Günter Grau and Claudia Schoppmann, Homosexualität in der NS-Zeit. Dokumente einer Diskriminierung und Verfolgung, Frankfurt am Main 2004, S. 210.

Bericht von Johann-Rudolf Braehler

Quelle: Boden|Spuren, https://bodenspuren.nghm-uos.de/items/show/9.
Strafgefangenenlager der Justizverwaltung III Brual-Rhede, 01.07.1939
Quelle: Boden|Spuren

Johann-Rudolf Brähler, geboren 1914, wuchs in einer katholischen Ordensfamilie auf. Er entschied sich, in ein Kloster einzutreten. 1938 verließ er den Orden und wurde nach dem Überfall auf Polen in die Wehrmacht eingezogen, wo er bis September 1943 diente. Im Radfahr-Aufklärungs-Schwadron wurde er 1941 Unteroffizier und mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse sowie dem silbernen Sturmabzeichen für Tapferkeit ausgezeichnet. 

Brähler wurde verhaftet, nach §175 verurteilt und in das Emslandlager III Brual-Rhede eingewiesen. Dieses Lager wurde ab 1940 für die Inhaftierung von Personen genutzt, die von Militärgerichten verurteilt worden waren. Dort musste er schwere Arbeit verrichten und wurde schlecht versorgt. Zum Ende des Krieges erhielten die ehemaligen Soldaten, darunter Braehler, Uniformen und Waffen zurück und wurden zum Kampf aufgefordert. Mit einer kleinen Gruppe gelang es Brähler, zu der Familie eines Mitgefangenen zurückzukehren und bis zum Waffenstillstand Unterschlupf zu finden.

Die Rückkehr ins zivile Leben nach dem Krieg war für Johann-Rudolf Braehler schwer. Aufgrund seines Strafregisters hatte er Schwierigkeiten, eine Arbeit zu finden. In dem Versuch, seine Sexualität zu vergessen, heiratete er eine Frau und bekam zwei Kinder. Nach der Scheidung fand er einen Lebenspartner.

“Im Schwadron gab es auch zwei Männer, von denen ich wusste, dass sie homosexuell waren. Sie wussten es auch von mir. Aber es kam jedoch nie zu sexuellen Kontakten. Erst als 1942 zwei Soldaten zum Schwadron dazu kamen, begann ich mit ihnen eine intime Freundschaft. Ich konnte mir dummerweise auch überhaupt nicht vorstellen, dass man mich als bewährten Frontkämpfer verfolgen würde. Vielleicht wäre es auch so gewesen, wenn mein alter Schwadronschef nicht gefallen wäre und ein neuer, ein überzeugter Nationalsozialist, ehemaliger Lehrer an der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt Bensberg, an seine Stelle getreten wäre. Ursprünglich sollte ich neuer Spieß werden. Plötzlich kam das Gerücht auf, ich hätte mich gleichgeschlechtlich mit Kameraden abgegeben. Bruno, der eine Freund, wurde durch Strafexerzieren so mürbe gemacht, dass er alles gestand. Mein anderer Freund wurde zu Hause verhaftet und unter Arrest gestellt. Bruno und ich wurden unter Bewachung ins Gefängnis nach Kassel gebracht. Das Urteil lautete zwei Jahre Zuchthaus für mich und je ein Jahr Gefängnis für meine beiden Freunde. Im Lager Brual-Rhede III auf der Baracke waren meine übrigen Mitgefangene vorwiegend „kriminelle“ Soldaten, Fahnenflüchtlinge und eben Homosexuelle. Nach und nach erfuhr ich, wer außer mir in unserer Baracke auch noch schwul war. Wir haben es möglichst vermieden, miteinander in Kontakt zu kommen, um bloß nicht aufzufallen. Manchmal haben wir sonntags, wenn wir nicht arbeiten mussten, miteinander gesprochen.”

Gekürzter Bericht von Johann-Rudolf Braehler, Stümke, Hans-Georg; Finkler, Rudi: Rosa Winkel, Rosa Listen. Homosexuelle und „Gesundes Volksempfinden“ von Auschwitz bis heute, Hamburg 1981, S. 316-324.

Cross-Dressing in der Wehrmacht

: Martin Dammann, Soldier Studies. Cross-Dressing in der Wehrmacht, Berlin 2019, Sammlung Martin Dammann.
Unbekannter Fotograf, Westfront. Unterschrift einer Bildserie: "Ostern 1940 b. 6. / A.R. 23 in Emmelbaum/Eifel“.
Martin Dammann, Soldier Studies. Cross-Dressing in der Wehrmacht, Berlin 2019, Sammlung Martin Dammann.

Cross-Dressing wird oft mit queeren Praktiken wie Drag in Verbindung gebracht. Soldaten, die in der nationalsozialistischen Ideologie als Inbegriff der Männlichkeit galten, praktizierten Cross-Dressing.

Es gibt viele Fotografien von Cross-Dressing aus dem Zweiten Weltkrieg. Auf der einen Seite wurde Homosexualität streng vom Regime verurteilt und sanktioniert, auf der anderen Seiten wurden offenbar queere Praktiken offen unter Angehörigen der Wehrmacht ausgelebt.

Kurzfilm: Cross-Dressing among Nazi-era German Wehrmacht soldiers, Deutsche Welle

Selbst-Aneignung des Rosa Winkels nach 1945

Berlin, Foto: Rolf Fischer/Schwules Museum
Aktivist*innen auf dem ersten Christopher Street Day in der BRD 1979 halten ein rosa Dreieck mit der Aufschrift „Ersatzlose Streichung des §175“ hoch.
Berlin, Foto: Rolf Fischer/Schwules Museum

Der Rosa Winkel wurde 1938 eingeführt, um Häftlinge als "Homosexuelle" zu kennzeichnen. Männer, die nach dem §175 in KZs eingewiesen wurden, waren in der Regel bereits mehrfach von der NS-Justiz verurteilt worden. Das Leben der "Rosa Winkel" im Konzentrationslager war besonders schwierig, da sie in der Lagerhierarchie oft weit unten standen und Misshandlungen von Wachen und anderen Häftlingen erlitten. 

Die Verfolgung schwuler Männer endete nicht mit dem Ende des Krieges. Der §175 wurde nicht abgeschafft. In der Bundesrepublik wurde er beibehalten, in der DDR zuerst die gesetzliche Regelung von 1871 übernommen. Die DDR schaffte den Paragrafen 1968 ab. In einigen Fällen wurden Männer, die aus Konzentrationslagern befreit wurden, später erneut in Haft genommen. Sie erhielten auch keine Entschädigung.

Nach Jahren der Ausgrenzung und Diskriminierung waren die 1970er Jahre geprägt von einer Bewegung für die Rechte von Homosexuellen in der Bundesrepublik. Sie eignete sich den Rosa Winkel an, der zu einem Symbol des Engagements für die sozialen Rechte und als Zeichen der Solidarität wurde. Der §175 wurde erst 1994 abgeschafft.

Umgang mit queeren Angehörigen der Bundeswehr

Quelle: https://www.queerbw.de/
Logo von QueerBw.
Quelle: https://www.queerbw.de/

Bis 1969 mussten Angehörige der Bundeswehr, die nach §175 verurteilt wurden, mit Disziplinarmaßnahmen wie der Herabsetzung ihres Dienstgrades oder ihrer Entlassung rechnen. Sie wurden auch dazu gedrängt, ihre Entlassung einzureichen.

Anfang der 2000er Jahre erkannte der Deutsche Bundestag die Verfolgung von Homosexuellen durch den deutschen Staat an. Im Jahr 2021 verabschiedete der Bundestag ein Gesetz, das allen queeren Soldaten, die diskriminiert und belästigt wurden, eine Entschädigung zusichert. Die Benachteiligung von Angehörigen der Bundeswehr aufgrund ihrer sexuellen Identität oder Orientierung ist untersagt. Queere Soldat*innen sind in der Bundeswehr rechtlich gleichgestellt und dürfen offen und frei dienen.

2002 gründete sich der Arbeitskreis Homosexueller Angehöriger der Bundeswehr. 2020 in QueerBw umbenannt, setzt sich der Verein als Interessensvertretung für queere Angehörige der Bundeswehr ein. Ihr Motto spiegelt ihre Werte wider: "Vielfalt macht uns stark".