Der Schoß ist fruchtbar noch...
1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa und die nationalsozialistische Herrschaft. Versteckt hinter bürgerlichen Fassaden lebte nationalsozialistisches Gedankengut in den Köpfen aber weiter. Ein Beispiel für diese ideologischen Kontinuitäten ist die Geschichte der Familie Groß.
Die Wurzeln der Familie Groß liegen im heutigen Polen. Laut der Ahnentafel wurde Ernst Groß im Jahr 1800 in Kanitzkamp (heute: Kanice) in Pommern geboren. Bei einer Volkszählung von 1910 lebten in Kanitzkamp 28 Einwohner, heute sind es drei. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts zog die Familie nach Schubin (heute: Szubin) um, wo 1911 Egon Groß geboren wurde. Nach Ende des Ersten Weltkriegs folgte der Umzug nach Berlin.
Egons Vater Walter war Justizoberinspektor und später politischer Leiter der NSDAP. Egon Groß absolvierte in Berlin die Schule und studierte anschließend Architektur an der Technischen Hochschule in Berlin-Charlottenburg. Er sah den Aufstieg der Nationalsozialisten positiv, identifizierte sich mit ihrer Ideologie und war Mitglied der NSDAP. 1939 nahm er freiwillig als Leutnant der Infanterie am deutschen Überfall auf Polen teil. Aus diesem Kriegseinsatz brachte er acht Farbdias mit, die die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz in der Online-Ausstellung „Stumme Zeugnisse 1939“ präsentiert.
Die folgenden Jahre diente er bei unterschiedlichen Wehrmachtseinheiten an der „Ostfront“. 1944 wurde er bei einer Minenexplosion verletzt und kam in das Reservelazarett in Königshütte (heute: Chorzów) in Schlesien. Hier lebte die Familie von Hans Mathea, mit dem er bereits in Polen 1939 gekämpft hatte. Während seines Lazarettaufenthalts lernte Egon Groß die Schwester von Hans, Maria Mathea, kennen. Im Juli 1944 verlobten sich die beiden, am 7. Oktober fand die Hochzeit in Königshütte statt. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Sowjetische Armee bereits die Weichsel erreicht.
Im Frühjahr 1945 floh die Familie Mathea vor der vorrückenden sowjetischen Armee in Richtung Berlin. Egon Groß wurde im Harz in Kriegsgefangenschaft genommen, aus der er Ende November 1945 entlassen wurde. Ab Dezember des Jahres lebten die Eheleute Groß getrennt in diversen Auffanglagern, gemeinsam dann ab Mai 1946 in Oldenburg, wo im August 1946 ihr Sohn Claus geboren wurde.
“Dieses Motto durchzog sich durch Vaters ganzes Leben: Er konnte die Niederlage nicht verkraften.”
Im Nachkriegsdeutschland baute sich die Familie ein bürgerliches Leben auf. Egon Groß konnte wieder als Architekt in Oldenburg arbeiten. Im Entnazifizierungsverfahren 1948 wurde er in die Kategorie V als „entlastet“ eingestuft, da er „den Nationalsozialismus, abgesehen von den pflichtgemäßen Beiträgen, nicht unterstützt“ habe. Doch seine nationalsozialistischen Überzeugungen hatte Egon Groß mit Ende des Deutschen Reichs und der NS-Herrschaft keinesfalls aufgegeben.
Ende der 1940er Jahre plante er zunächst, über die sogenannten „Rattenlinien“ nach Argentinien auszuwandern. Diesen Weg wählten viele NS-Täter, um der Strafverfolgung durch die Alliierten zu entgehen. Durch die Unterstützung von „alten Kameraden“, aber auch des Vatikans, konnten sie mit falschen Papieren ausgestattet werden und nach Südamerika übersiedeln. Egon Groß vermutete, dass die Auswanderung leichter wäre, wenn er sich als Pole statt als Deutscher ausgeben könne und ließ sich sein „Polentum“ von einem befreundeten Kaufmann bestätigen. Aufgrund des gesundheitlichen Zustands seiner Frau Maria, musste die Familie die Auswanderungspläne allerdings aufgeben.
So blieb die Familie in Deutschland und zog 1957 nach Stuttgart um. Hier war Egon Groß als Stadtbaudirektor und Leiter des Hochbauamtes tätig, baute Schulen, Feuerwachen und Krankenhäuser im südwestdeutschen Raum. Sein Sohn Claus besuchte in Stuttgart die Schule und legte sein Abitur am Karlsgymnasium ab. Doch hinter der bürgerlichen Fassade war das Familienleben von Konflikten geprägt. Egon war gegenüber seiner Frau und seinem Sohn gewalttätig. Die nationalsozialistischen Einstellungen des Vaters zeigten sich deutlich in der Erziehung des Sohnes.
“Durch Duldung und, wie sich viel später herausstellte, durch Sponsoring meines Vaters wurde ich mit 12 Jahren Mitglied im ‚Wandervogel‘, einer Tradition der bündischen Jugendbewegung der dreißiger Jahre, die das komplette Führerpersonal aus der ehemaligen Hitlerjugend rekrutierte. Es gab Heimabende, Fähnleinführer, Scharführer, man grüßte sich mit ‚Heil‘, sang Lieder aus dem ‚Zupfgeigenhansl‘, dem bündischen Liederbuch der 30er Jahre.”
In den Nachkriegsjahrzehnten pflegte Egon Groß weiterhin enge Kontakte zu seinen ehemaligen Weggefährten und Gesinnungsgenossen. Er war Mitglied der „Stillen Hilfe“, einer Hilfsorganisation für Kriegsgefangene und Internierte, die viele NS-Täter unterstütze, und mehreren neonazistischen und rechtsextremen Parteien, darunter die Sozialistische Reichspartei (SRP), die Deutsche Volksunion (DVU) und die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD). Von den zwei letzteren erhielt er alljährlich die goldene Spendernadel.
“Neben den schwadronierenden Tischmonologen des Vaters waren es die sonntäglichen ‚Führerstunden‘ mit Hitlers Reden auf Schallplatten, die eine wichtige Fähigkeit begründeten: Ohren auf Durchzug stellen und sich wegträumen.”
Egon Groß war freundschaftlich mit dem Stuttgarter Zahnarzt Willy Frank verbunden. Frank war von 1943 bis 1944 als Zahnarzt im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz tätig. In dieser Zeit war er an der Selektion von mehr als 6.000 jüdischen Häftlingen beteiligt. Als er von 1963 bis 1965 dafür im 1. Frankfurter Auschwitzprozess angeklagt wurde, sammelte Egon Groß Geld für seine Verteidigung. Frank wurde zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt.
“Viele Seilschaften der NS-Zeit überlebten im Verborgenen. Man unterstützte sich im Verborgenen.”
Engen Kontakt pflegte Egon Groß auch zu dem Industriellen Fritz Ries, der sich während des Nationalsozialismus durch die Arisierung jüdischer Betriebe vor allem im besetzten Polen und durch die Ausbeutung von Zwangsarbeiter*innen massiv bereichert hatte. Seine Tätigkeit konnte er nach 1945 ungebrochen weiterführen und wurde in der frühen Bundesrepublik zu einem angesehenen Unternehmer mit einflussreichen politischen Kontakten.
So kam es, dass Fritz Ries im Sommer 1967 ein Gartenfest in Frankenthal in der Pfalz veranstaltete, zu dem sowohl ehemalige Funktionäre des Nationalsozialismus als auch aktuelle Vertreter der politischen Eliten eingeladen waren. Anlass war die Entlassung Albert Speers aus dem Kriegsverbrechergefängnis in Spandau.
Albert Speer war Architekt, enger Vertrauter Hitlers und ab 1942 Reichsminister für Bewaffnung und Munition. In dieser Funktion war er mitverantwortlich für die Ausbeutung von sieben Millionen Zwangsarbeiter*innen, darunter auch KZ-Häftlinge, und beteiligt am Betrieb und Ausbau der Konzentrationslager. Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess wurde er wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 20 Jahren Haft verurteilt.
“Die Fotos dieser ‚Wiedersehensfeier‘ habe ich selber mit meiner Retina aufgenommen, die ich als frisch gebackener Abiturient geschenkt bekommen hatte. Viel ist mir von dem denkwürdigen Tage nicht mehr erinnerlich. Auffallend war ein Durchzucken der rechten Arme bei so manchen eintreffenden Festgästen.”
Auch die Familie Groß war zu diesem Fest eingeladen. Marie Groß saß als Tischdame zur Linken Speers, Egon Groß am gleichen Tisch gegenüber. Ebenfalls geladen war Franz Josef Strauß, der damalige Bundesminister der Finanzen (CDU) und spätere bayerischer Ministerpräsident, und seine Frau Marianne. Die Bilder, die Claus Groß selbst aufnahm, zeigen alle Anwesenden in gelöster Stimmung bei Alkohol und Zigaretten im Garten sitzend. Skrupel, mit einem verurteilten Hauptkriegsverbrecher ein zu seinen Ehren veranstaltetes Sommerfest zu besuchen, scheint es nicht gegeben zu haben.
“Erst der Auschwitzprozess hat mir und meinen Altersgenossen langsam die Augen geöffnet. Da begann die Emanzipation. Definition aus dem Lateinischen: ‚die Entlassung des Sohnes aus der väterlichen Gewalt.‘”
Um sich der gewalttätigen familiären Situation und der nationalsozialistischen Indoktrination des Vaters zu entziehen, flüchtete sich Claus Groß schon in jungen Jahren in die humanistische Bildung und in die Kunst. Mit Beginn der Studienzeit konnte er sich schließlich von seiner Familie emanzipieren. 1967 zog er nach Berlin und studierte zunächst wie sein Vater Architektur an der Technischen Hochschule Berlin, bevor er für ein Jurastudium an die Freie Universität wechselte. Ab 1970 studierte er dann Geschichte, Kunstgeschichte, Germanistik, Philosophie und Politik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.
Sein Vater Egon hielt bis zum Ende seines Lebens an seiner nationalsozialistischen Ideologie fest. Selbst im Altersheim war er aggressiv und fremdenfeindlich, randalierte und attackierte ausländisches Personal. Als Marie Groß 1995 an Magenkrebs starb, gestaltete er für sie einen Grabstein, der offen den Nationalsozialismus verherrlichte.
“Und bei der Herstellung des Grabsteins glaubte mein Vater auch hier dominant sein zu müssen. Die Daten meiner Mutter, Geburts- und Todesjahr, wurden umrahmt von einer großen Rune für ein Sonnenrad als Symbol für ein Hakenkreuz und den Großbuchstaben MGAH (miles gloriosus adolfi hitleri = latinisiert: der ruhmreiche Soldat Adolf Hitlers.) Das war für mich und meine beiden Kinder das Signal. Das verschwindet. Mein Vater hat bis heute keinen Grabstein.”
Nach dem Tod der Mutter brach Claus Groß endgültig den Kontakt zu seinem Vater ab. Heute ist er als Historiker, Privatdozent und Publizist in Berlin tätig. Oft arbeitet er als Cicerone und leitet seit seiner Studienzeit wissenschaftliche Exkursionen und Studienreisen in insgesamt 34 Ländern und über 294 Städten – ganz im Sinne des Alexander von Humboldt: „Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die der Leute, welche die Welt nie angeschaut haben.“
“Durch das ganze Leben meines Vaters, bis zu seinem Tod 2002, klebte sein Nationalsozialismus als dicker Faden von intellektuellem Unrat in dieser Familie.”
Die Auseinandersetzung mit seiner Familiengeschichte begleitet ihn bis heute. Die Kontinuität nationalsozialistischer Ideologien hinter den Fassaden bürgerlicher Existenzen in der Nachkriegszeit und frühen Bundesrepublik ist kein Geheimnis mehr. Aber es wird nur selten nach dem Preis gefragt, den die nachgeborenen Generationen für dessen Aufarbeitung und Verarbeitung zahlen.
“Wie ich es geschafft habe, die Traumata aus meiner Kindheit angenommen zu haben? Meine Antwort: durch die Kunst. Die Beschäftigung mit ihr hat mich reich gemacht. Und das habe ich durch meine Lehrtätigkeit und meine Exkursionen erhalten, weil ich es weitergeben konnte. Bietet denn nicht die Kunst und nur diese, die Chance, die Diskrepanzen des Lebens erträglicher zu machen, mit sich und seinen Erfahrungen leben zu lernen? Und Lernen bedeutet immer auch Verhaltensänderung aus Einsicht.”