Die Zukunft des Erinnerns

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Am 25. und 26. Januar kamen Expertinnen und Experten aus Theorie und Praxis auf der malerischen Insel Mainau am Bodensee für die Tagung „Entgrenzte Erinnerung – Positionen und Projekte zur medialen und digitalen Erinnerungskultur aus Wissenschaft und Gedenkstättenarbeit” zusammen. Zwei Tage lang tauschten sich über 80 Kolleginnen und Kollegen aus Wissenschaft, Gedenkstättenarbeit und Politik über neue Entwicklungen, pädagogische und technologische Herausforderungen und über die praktischen Implikationen der Digitalisierung der Erinnerungskultur und -arbeit aus.

Tagungsprogramm

Prof. Dr. Anne-Berenike Rothstein und Dr. Stefanie Pilzweger-Steiner organisierten und leiteten die Tagung. Prof. Dr. Aleida Assmann sprach eines der Grußworte, in dem sie am Beispiel der VHS-Kassette erläuterte, dass moderne Techniken zwar immer Zukunft versprächen, dies aber nicht immer einzulösen vermögen und daher kontinuierlich auf ihre Relevanz, Aktualität und Sinnhaftigkeit hin geprüft werden müssten. Die verschiedenen Tagungsvorträge spannten ein weites Netz: von praktischen Erfahrungen im Einsatz neuer digitaler Angebote in Gedenkstätten über die Frage nach der Rolle der Zeitzeugenschaft im medialen Umbruch der Erinnerungskulturen bis zu gedächtnissoziologischen und medienwissenschaftlichen Überlegungen zur digitalen Erinnerung. Nicht alle Beiträge können hier vorgestellt werden, stattdessen sollen jene Themen beleuchtet werden, die für die Arbeit und das Selbstverständnis der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz besonders relevant oder zukunftsweisend sind. Am Ende des Beitrags befindet sich eine Linksammlung zu weiteren Projekten.

Stephanie Billib stellte die bereits 2012 entwickelte Tablet Application der Gedenkstätte Bergen-Belsen vor. Sie war Antwort auf die enttäuschte Erwartung vieler Besucher, auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Baracken und andere Relikte der Lagerstruktur vorzufinden. Die Besucher konnten mit dem leeren Gelände wenig anfangen und sich die historischen Bedingungen nur schlecht vorstellen. Insbesondere geführte Gruppen können nun mit einem Tablet, auf dem sich mehrere Karten und 3D-Rekonstruktionen, eine Virtual-Reality-Ansicht und eine Augmented-Reality-Ansicht sowie kontextualisierende Quellen und Informationen befinden, das Lagergelände explorativ erkunden. Dies käme bei den Gruppen nicht nur gut an, die Bewegung helfe auch dabei, das gelernte besser zu erinnern. Auch zeigten die erhobenen Daten, dass bei dieser Art der Begehung größere Teile des Geländes erschlossen würden als bei den klassischen Führungen. Die Anwendung wird technisch weiterentwickelt und soll bald auch für Einzelbesucher voll nutzbar sein.

Karen Jungblut stellt den virtuellen Zeitzeugen Pinchas Gutter vor.

Mehrere Sektionen der Tagung widmeten sich dem Thema „Zeitzeugenschaft“. Ein besonderes Highlight war der Vortrag von Karen Jungblut, die das Projekt „New Dimensions in Testimony“ der USC Shoah Foundation vorstellte. Für dieses Projekt wurden Interviews mit bisher 19 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen geführt, die so gefilmt und verarbeitet wurden, dass sie in 3D (der Begriff „Hologramm“ ist technisch nicht korrekt, wird aber häufig genutzt) gezeigt werden können. Das wirklich Innovative ist aber, dass man der virtuellen Video-Installation Fragen stellen kann, auf die man prompt Antworten erhält. So entsteht ein virtueller Dialog zwischen Publikum und virtualisierter Zeitzeugin.

Da dieses Projekt eher nach Science-Fiction als nach Realität klingt, hatte Karen Jungblut einen der virtuellen Zeitzeugen mitgebracht. In 2D auf die Leinwand projiziert, trafen wir Pinchas Gutter, einen Überlebenden des Vernichtungslagers Majdanek. Nachdem die erste Scheu überwunden war, wurden ihm vom Publikum viele Fragen gestellt: Wie heißen Sie? Sind Sie echt bzw. leben Sie? Was halten Sie von diesem Projekt? Wie gehen Sie mit Holocaust-Leugnern um? Was ist Ihre schlimmste Erinnerung?

Wir bekamen mal kurze, mal lange Antworten. Nur auf die Frage, ob er Charlie Chaplin möge, hatte Gutter nichts zu erwidern. „Why don’t you ask me a different question?“ In Vorbereitung auf die insgesamt sieben Tage dauernden Filmaufnahmen mit Pinchas Gutter hatte die USC Shoah Foundation einen Katalog von über 1.500 häufig gestellten Fragen erstellt. Die virtuelle oder artifizielle Kommunikation funktioniert dadurch immerhin so gut, dass laut Karen Jungblut amerikanische Schulklassen, die mit Pinchas Gutter „gesprochen“ haben, ihren Eltern danach erzählten, sie hätten mit einem Holocaustüberlebenden über Skype telefoniert.

Jenseits aller Faszination mit dieser neuen Technologie wirft sie allerdings eine Vielzahl sowohl ethischer als auch theoretischer Fragen auf: So war es zum Beispiel sehr befremdlich, dass Frau Jungblut Pinchas Gutter mit nur einem Klick mitten im Satz unterbrechen konnte, wenn seine Antwort am Thema vorbeiging oder den zeitlichen Rahmen ihres Vortrags sprengte. Auf der anderen Seite startete sie am Ende ihrer Präsentation das Programm erneut, damit wir uns bei Pinchas Gutter verabschieden konnten. Hier zeigte sich die Diskrepanz zwischen dem Umgang mit einer technischen Maschine und mit einem Menschen, besonders mit einem Überlebenden des Holocaust. Welche Implikationen wird diese Diskrepanz auf die „Aura der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen“ haben? Auch stellt sich die Frage, ob die Definitionen von kommunikativem vs. kulturellem Gedächtnis und von Zeitgeschichte vs. Geschichte neu überdacht werden müssen, wenn über den Tod der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen hinaus mit ihnen dialogisch kommuniziert werden kann. Aleida Assmann verneinte dies und schlug stattdessen vor, von den virtuellen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen lieber als „Ewigkeitszeuginnen und Ewigkeitszeugen“ zu sprechen.

Herausforderungen und Chancen der Transformation digitaler Erinnerungskulturen

Auch die inhaltliche und pädagogische „Halbwertszeit“ der virtuellen Überlebenden wurde angezweifelt. Sobald sich der Referenzrahmen und die Lebensrealität der Fragenden zu sehr von heute unterscheiden, seien die aufgenommenen Antworten nicht mehr anschlussfähig. Darüber hinaus wurde auf die Gefahr von Manipulation und Instrumentalisierung hingewiesen: Da Zeitzeuginnen und Zeitzeugen im allgemeinen eine gesteigerte Glaubwürdigkeit zugestanden wird, sei zu überlegen, was passiere, wenn ihren virtuellen Vertreterinnen und Vertretern geschichtsverfälschende Antworten programmiert werden würden oder auch nur dieser Eindruck entstehe.

Auch stellt sich die Frage, ob der dialogische Umgang überhaupt so wichtig ist. Prof. Dr. Christiane Bertram konnte in ihrer empirischen Studie zeigen, dass Schülerinnen und Schüler mehr historische Sachkompetenzen erwerben, wenn sie mit Videoaufnahmen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen arbeiten, als bei einem Besuch der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen im Klassenzimmer. Auch sei das Risiko der Über-Identifikation und Überwältigung bei persönlichen Begegnungen größer. Allerdings basiert ihre Studie auf der Arbeit mit DDR-Zeitzeuginnen und -zeugen und sie untersuchte auch nicht, welche Auswirkungen die Begegnungen auf die Fähigkeit zur Empathie und die Einsicht in humanitäre Prinzipien haben.

Dr. Iris Groschek: Wie können Social-Media-Kanäle in angebrachter Form von Gedenkstätten genutzt werden?

Ein weiteres Thema war die Präsenz von Gedenkstätten auf den verschiedenen Social-Media-Kanälen. In ihrem Beitrag „Zwischen #weremember und #yolocaust“ stellte Dr. Iris Groschek von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme vor, in welchen Formen die Besucherinnen und Besucher ihre Eindrücke von Gedenkstätten in den sozialen Medien teilen. Sie betonte, dass es sich zum Beispiel bei Instagram nicht um eine „hippe, digitale Spielwiese“ handle. Vielmehr teilten die Benutzer hier ihre Wahrnehmung des Gedenkstättenbesuchs, was wiederum aktive Partizipation an der Erinnerungskultur sei und gesellschaftliche Kommunikation ermögliche. Über die Nutzung der Social-Media-Plattformen im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit sagte sie: „Gedenkstätten müssen auch dort präsent sein, wo die Menschen täglich sind.“ Es wäre jedoch wichtig zu definieren, welche Kanäle mit jeweils welchen Inhalten und Vermittlungszielen bespielt würden.

Wäre es nicht sinnvoll, wenn sich die Gedenkstätten gemeinsam Gedanken über angemessene und zielorientierte Social-Media-Strategien machen würden, die sich sowohl an unserem Bildungsauftrag und den besonderen Anforderungen unserer Thematik als auch an den gesellschaftlichen Gegebenheiten orientieren? Laut Dr. Groschek hätte dies eigentlich schon vor 5 Jahren geschehen müssen, da wir nun der rasanten technischen Entwicklung und den Trends der verschiedenen Social-Media-Kanäle nur noch hinterherlaufen könnten.

Ein weiterer Vortrag, der besonders visuell überzeugte und inspirierte, kam von Dr. Marc Grellert, der sich seit den 1990-er Jahren mit der virtuellen Rekonstruktion von zerstörten Synagogen beschäftigt. Anhand diesen Projekts konnte er den rasanten technischen Fortschritt der letzten 30 Jahre beschreiben und die fast futuristisch anmutenden Möglichkeiten von heute erklären. Die von ihm präsentierten, täuschend realistisch-virtuellen Rekonstruktionen basieren sowohl auf historischen Quellen als auch auf den Erinnerungen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Sie können durch „rapid prototyping“ innerhalb nur eines Tages in Gips, Metall oder Glas als Modell gedruckt werden oder sogar in VR-Installationen durchschritten werden. Bereits seit 2010 konnte eine der zerstörten Frankfurter Synagogen durch fest installierte 3D-Fernrohre so zurück in das Stadtbild geholt werden. Dr. Grellert sieht die Zukunft vor allem in der Mixed- und der Augmented-Reality. Gleichzeitig mahnte er aber auch an, dass diese neuen Medien nicht nur für ihren Selbstzweck eingesetzt werden sollten, sondern nur dort, wo sie in Ausstellungen einen identifizierbaren Mehrwehrt hätten.

Seinen Abschluss fand die Tagung bei einer Soirée im Goldbacher Stollen, der seinerzeit von KZ-Häftlingen als unterirdische Rüstungsproduktionsstätte in den Berg getrieben werden musste. Hier zeigten Studentinnen und Studenten der Universität Konstanz digitale Kunstinstallationen, die sich mit dem Thema Erinnerung und Zeugenschaft beschäftigten. Obwohl dieser Ausklang gelungen war, fehlte – zumindest mir – eine resümierende Abschlussdiskussion. Hier hätte es die Möglichkeit gegeben, gemeinsam zu definieren, was wir genau unter „Digitalisierung“ beziehungsweise einer „digitalen Erinnerungskultur“ verstehen und welche Implikationen dies für unsere Arbeit hat und haben wird. Diese Frage wurde zwar in jedem Vortrag angerissen, erschien daher jedoch umso komplexer und ungreifbarer. Eine klarer umrissene Definition wäre nicht nur für die Orientierung der Gedenkstätten, sondern auch für die Weiterentwicklung der theoretischen Untersuchungen der Forschung von Vorteil.

Ungeachtet dieses kleinen Wermutstropfens war „Entgrenzte Erinnerung“ eine ausgesprochen gelungene, produktive und inspirierende Tagung, die viel Raum für kollegialen Austausch und Vernetzung bot. Sicherlich werden wir die geistigen Früchte dieser zwei Tage am Bodensee in den kommenden Jahren ernten können.

Der Versuch eines Fazits