Der Holocaust - kein ausgeforschtes Thema

Vor einiger Zeit unterhielt ich mich mit einem Kommilitonen über ein Seminar zum Thema „Holocaust auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion“, das wir an unserer Universität Greifswald belegen konnten. Als ich ihn fragte, weshalb er es nicht gewählt hatte, meinte er: „Den Holocaust hatte ich schon so oft in der Schule als Thema, da weiß ich schon alles.“ Mit diesem Satz im Kopf begann ich mein Praktikum bei Dr. Christoph Kreutzmüller in der Bildungsabteilung der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin und beschäftigte mich dort intensiv mit Akten von deportierten Jüdinnen und Juden. Genau an diesem Beispiel will ich im Folgenden zeigen, dass der Holocaust zwar intensiv erforscht, aber auf gar keinen Fall ausgeforscht ist.

Im September 1934 beschäftigte sich das hessische Amtsgericht mit dem Fall der Jüdin Dorothea Hirschfeldt. Geboren wurde sie am 21. August 1934 in Frankfurt a.M. als uneheliches Kind des Kaufmanns Werner Friedländer aus Berlin und der minderjährigen Johanna Hildegard Hirschfeldt. Die Vormundschaft wurde an die Mutter des Erzeugers Mathilde Friedländer, geboren am 13. August 1882 in Posen als Mathilde Tomski1, übergeben. Diese lebte in Berlin-Charlottenburg, weshalb der Fall 1938 in die Zuständigkeit des Amtsgerichts Charlottenburg fiel.

Am 23. Dezember 1938 findet sich ein Dokument, in dem festgehalten wird, dass die Abfindungssumme von 4.000 Reichsmark vom Kindesvater gezahlt worden ist. Zudem sei die leibliche Mutter an einen unbekannten Ort verschwunden und das Kind werde nun von der Großmutter aufgezogen. Es folgen einige Dokumente aus dem Jahr 1939, in denen Mathilde Friedländer offiziell die Vormundschaft beim Amtsgericht Charlottenburg beantragt und diese auch erhält. Folgend sind hauptsächlich Vermögenserklärungen über ein Sparkonto bei der Sparkasse Berlin erhalten, mit denen Mathilde Friedländer legitimieren musste, wofür sie das Geld ihrer Enkelin ausgab.

Briefumschlag vom 12. März 1943 (Landesarchiv Berlin Rep. 342 – 05,3624. Foto: Gina Knaus)
Briefumschlag vom 12. März 1943 (Landesarchiv Berlin Rep. 342 – 05,3624. Foto: Gina Knaus)

Am 12. März 1943 endet die Akte mit einem Dokument, in dem eine Justizangestellte dem Einwohnermeldeamt Berlin Charlottenburg mitteilt, dass Mathilde Friedländer und Dorothea Hirschfeldt zusammen am 2. Juni 1942 oder später ausgewandert sind2. Der Gedanke ist naheliegend, dass die beiden nicht ausgewandert sind, sondern deportiert wurden.

Das Bundesarchiv Berlin bietet die Möglichkeit im Gedenkbuch "Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945" explizit nach Namen zu suchen. Ebenso ist das in der Datenbank von Yad Vashem möglich. Schwierig ist, dass dabei in der Recherche unterschiedliche Ergebnisse herauskamen: In der Datenbank Yad Vashems ist zu finden, dass Mathilde Friedländer und Dorothea Hirschfeldt am 14. April 1942 aus Berlin ins Warschauer Ghetto deportiert wurden3. Im Gedenkbuch und im Bundesarchiv wurde jedoch vermerkt, dass sie erst am 13. Juni 1942 aus Berlin nach Sobibor deportiert wurden4. Da kamen sie allerdings nicht an, denn der Deportationszug machte einen Zwischenstopp in Majdanek, wo sie zur Zwangsarbeit bestimmt wurden, während die meisten restlichen Insassen ins Vernichtungslager Sobibor kamen. Hier sei anzumerken, dass in der aktuellen Forschung diskutiert wird, ob Sobibor überhaupt als Lager bezeichnet werden kann, da es dort keine Unterbringungsmöglichkeiten für Deportierte gab, sondern die Menschen direkt nach der Ankunft ermordet wurden. In Majdanek starben die beiden dann nach Angaben des Gedenkbuchs und des Bundesarchivs. Ihre Leichen sind nicht identifiziert worden und auch ihr genaues Todesdatum ist unbekannt. Sie gelten damit, wie viele andere, als verschollen5. Ein weiterer Beitrag in der Datenbank von Yad Vashem zu den beiden bestätigt diese Daten auch noch einmal. Was mit den leiblichen Eltern passiert ist, ist nicht bekannt und lässt sich auch mit gegebenen Möglichkeiten nicht rekonstruieren.

Da das Gedenkbuch und das Bundesarchiv zu den Deportationsinformationen zusätzlich noch die richtigen Geburtsdaten von Mathilde Friedländer und Dorothea Hirschfeldt und die letzte richtige Anschrift angeben, werden ihre Daten eher stimmen als die der Datenbank Yad Vashems.

An diesem Beispiel lässt sich sehr gut darlegen, dass die Thematik Holocaust bei weitem nicht ausgeforscht ist. Einzelschicksale wie die eben dargestellten zeigen, wie schwierig es noch immer ist, bestimmte Sachverhalte zu rekonstruieren. Die Forschungsgrundlagen und -fragen zu bestimmten Themenkomplexen ändern sich ständig und sind somit ein dynamisches System. Zukünftigen Lehrerinnen und Lehrern sollte bewusst sein, dass eben diese Dynamik des Themas Holocaust auch im Unterricht thematisiert werden und Unterrichtsinhalte dementsprechend immer wieder angepasst werden müssen. 

 

Literatur- und Quellennachweis

1 www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/1840679/ und www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/1737976/
2 siehe Landesarchiv Berlin Rep. 342 – 05,3624
3 siehe Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer
4 www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/1840679/ und www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/1737976/
5 Ebd.