Die Geschichte der Familie Chotzen

Ein neues pädagogisches Projekt, gefördert durch die Bundeszentrale für politische Bildung

Familiengeschichten aus der Zeit des Nationalsozialismus zu rekonstruieren und zu vergegenwärtigen, ermöglicht einen individuellen Zugang zur Geschichte. Manche Familien dokumentierten ihr Leben sehr ausführlich, was eine Rekonstruktion erst ermöglicht. Einen besonderen Einblick in das Leben zur Zeit des NS-Regimes bietet die Geschichte der Familie Chotzen.

Josef und Elsa Chotzen 1936 (Foto: GHWK Berlin)
Josef und Elsa Chotzen 1936 (Foto: GHWK Berlin)

Josef Chotzen wurde im Jahre 1883 in Oberglogau (heutiges Polen) als zweitjüngster Sohn eines Rabbiners geboren. In Cottbus lernte er Elsa Chotzen (geborene Arndt) kennen, die 1887 als Tochter evangelischer Eltern geboren wurde. Im Jahre 1907 kam ihr erster Sohn Joseph („Eppi“) zur Welt und auch die Eheschließung konnte, nach langem Widerstand beider Familien, im Jahre 1914 nachgeholt werden – gleichzeitig konvertierte Elsa zum Judentum. Im selben Jahr ließ sich Josef Chotzen als Kaufmann mit einem Wäschegeschäft in Berlin nieder, in welchem seine Frau Elsa mitarbeitete. Anfangs wohnte die Familie in Berlin-Pankow und zog schließlich in die Johannisberger Straße 3 nach Berlin-Wilmersdorf. Im Laufe der nächsten sechs Jahre kamen Hugo-Kurt (1915; „Bubi“), Erich (1917) und Ullrich Joachim (1920; „Ulli“) auf die Welt – somit war die sechsköpfige Familie komplett.

Foto: GHWK Berlin, Mert Akyüz
Foto: GHWK Berlin, Mert Akyüz

Das Haus der Familie Chotzen in der Johannisberger Straße 3 heute. Familienfotos zeigen die Söhne und die Eltern Elsa und Josef beim Posieren an diesem Fenster.

Vor 1933 führte die Familie im schon damals bürgerlichen Berlin-Wilmersdorf ein relativ sorgenfreies Leben. Die vier Brüder wuchsen in der Johannisberger Straße auf und waren dort beliebte Spiel- und Sportkameraden. Sie waren Mitglieder im örtlichen Sportverein „Berliner Sport-Verein 1892“ und genossen dort als talentierte Sportler großes Ansehen unter den Kameraden. Von den diskriminierenden Gesetzen, die von den Nationalsozialisten ab 1933 gegen Jüdinnen und Juden erlassen wurde, waren die Brüder aufgrund ihrer evangelischen Großeltern vorerst nicht betroffen und konnten zum Beispiel weiterhin in ihrem Sportverein den verschiedensten Sportarten nachgehen.  

Foto: GHWK Berlin
Die Chotzen-Brüder waren als verlässliche, sportlich begabte junge Männer in ihrem Sportverein beliebt und wurden zunächst nicht antisemitisch diskriminiert oder aus dem Verein ausgeschlossen. Von links: Ulli, Erich, unbekannt, Bubi Chotzen im Trikot des „Berliner Sport-Vereins 1892“ im Jahr 1927. (Foto: GHWK Berlin)

Doch auch in der Johannisberger Straße machte sich der wachsende Einfluss des nationalsozialistischen Regimes bemerkbar. Hakenkreuzfahnen waren keine Seltenheit mehr und auch die Stimmung zwischen den Nachbar*innen und der Familie Chotzen spannte sich mehr und mehr an. Die Wenigsten sprachen noch mit der Familie und Alltägliches, wie zum Beispiel der Einkauf oder der Weg zur Arbeit, war von Provokationen und Schikane geprägt.

Auch innerhalb der Sportvereine intensivierten sich die diskriminierenden Maßnahmen. Vermutlich im Herbst oder Winter 1937, ein genaues Datum ist nicht bekannt, wurden die Brüder aufgrund ihrer jüdischen Abstammung ausgeschlossen. Infolge dessen mussten sie sich der „Jüdischen Sportgemeinschaft 1933“ anschließen, um sich weiterhin sportlich betätigen zu können.

Nach den Novemberpogromen im Jahre 1938, bei denen auch ein Fenster der Familie Chotzen mit einem Backstein eingeschlagen wurde, nahmen die Repressionen zu. Im Zuge der „Arisierung“ und Enteignung der Geschäfte wurden viele Jüdinnen und Juden zunächst arbeitslos und anschließend zur Zwangsarbeit verpflichtet. So mussten auch die Männer der Familie Chotzen einer Vielzahl von körperlich belastenden Tätigkeiten nachgehen: zum Beispiel bei Müllabfuhr, Kartoffel- und Rübenernte, Schneeschippen und Brunnenbau. Nicht selten hatten sie gesundheitliche Probleme, denn sie wurden zum Beispiel auch für Arbeiten in einer Munitions- und Waffenfabrik und einer Sandstrahlbläserei eingesetzt.

Nicht nur beruflich, sondern auch sozial nahmen die Repressionen zu. Die nationalsozialistischen Rassegesetze definierten die Brüder Chotzen als „Geltungsjuden“, da sie aus einer „arisch-jüdischen Mischehe“ stammten und der jüdischen Gemeinde angehörten. Somit fielen sie unter den Geltungsbereich der diskriminierenden Gesetze, die ihre Teilhabe am öffentlichen Leben stark einschränkten und mussten ab 1941 den gelben „Judenstern“ tragen. Das Privatleben der Brüder wurde somit auf jüdische Vereine und Freundeskreise begrenzt. Hier lernten Bubi, Erich und Ulli ihre zukünftigen Frauen kennen, die sie im November bzw. Dezember 1941 heirateten.

Erich (hinten, dritter von links) und Bubi (hinten, fünfter von links) in der Handballmannschaft der „Jüdischen Sportgemeinschaft 1933“ im Jahr 1938. (Foto: GHWK Berlin)
Erich (hinten, dritter von links) und Bubi (hinten, fünfter von links) in der Handballmannschaft der „Jüdischen Sportgemeinschaft 1933“ im Jahr 1938. (Foto: GHWK Berlin)
Bubi Chotzen musste bei der Berliner Müllabfuhr Zwangsarbeit leisten, Mai 1940 (Foto: GHWK Berlin)
Bubi Chotzen musste bei der Berliner Müllabfuhr Zwangsarbeit leisten, Mai 1940 (Foto: GHWK Berlin)
Elsa und Josef Chotzen (links), Ilse Schwarz und Erich (Mitte) mit Ilses Mutter Käthe Schwarz am Hochzeitstag 7. November 1941. (Foto: GHWK Berlin)
Elsa und Josef Chotzen (links), Ilse Schwarz und Erich (Mitte) mit Ilses Mutter Käthe Schwarz am Hochzeitstag 7. November 1941. (Foto: GHWK Berlin)

Doch das familiäre Glück hielt nicht lange. Ab Oktober 1941 begannen die Deportationen aus Berlin in die nationalsozialistischen Vernichtungslager in Osteuropa. Erichs Schwiegermutter Käthe Schwarz wurde am 19. Januar 1942 nach Riga deportiert ‒ Erich und seine Ehefrau Ilse meldeten sich freiwillig, um sie auf „Transport“ zu begleiten. Wenige Tage später, am 27. Januar 1942, starb Josef Chotzen an den Folgen der Zwangsarbeit und der schlechten medizinischen Versorgung. Durch die Hilfe zweier Soldaten gelang es Ilse Chotzen, aus Riga Briefkontakt zu ihrer Familie aufzunehmen. In einem der Briefe schildert sie auch, dass Erich bereits im März 1942 in Riga gestorben sei. Kurz darauf erhielt die Familie Chotzen auch von Ilse keine Nachrichten mehr. Sie wurde nach dem Krieg mit dem Datum 31. Dezember 1942 für tot erklärt.

Im Sommer 1943 wurden Bubi und Ullrich zusammen mit ihren Frauen Lisa (geborene Scheurenberg) und Ruth (geborene Cohn) nach Theresienstadt deportiert. Auf dem Weg nach Theresienstadt schrieben die zwei Ehepaare Postkarten, in welchen sie von der ruhigen Zugfahrt erzählten – vermutlich auch um ihre in Berlin verbliebene Mutter zu beruhigen. Während ihrer Zeit in Theresienstadt konnten die Ehepaare und die ebenfalls deportierten Familienangehörigen der Ehefrauen durch Postkartenverkehr den Kontakt zu Eppi und Elsa Chotzen aufrechterhalten. Diese versorgten ihre Familienangehörigen beinahe täglich mit Päckchen, welche auch Schmuggelware wie Zigaretten o.Ä. enthielten, mit denen im Ghetto gehandelt werden konnte. Eppi und Elsa scheuten in Berlin keine Mühen, um trotz der schlechten Versorgungslage Lebensmittel und Bekleidung für die Deportierten zu besorgen. Insgesamt sind 368 Postkarten aus Theresienstadt erhalten geblieben.

Am 21. August 1943 bestätigte Ulli mit dieser Postkarte den Empfang eines Päckchens von seiner Mutter. (GHWK Berlin)
Am 21. August 1943 bestätigte Ulli mit dieser Postkarte den Empfang eines Päckchens von seiner Mutter. (GHWK Berlin)
Vorderseite der Postkarte vom 21. August 1943 (GHWK Berlin)
Vorderseite der Postkarte vom 21. August 1943 (GHWK Berlin)

Nach zwei Jahren im Ghetto Theresienstadt wurden die Ehepaare in unterschiedliche Konzentrationslager deportiert und ermordet. Lisa starb 1944 in KZ Bergen-Belsen. Die Brüder Bubi und Ullrich starben 1945 im KZ Dachau. Nur Ruth Weinstein überlebt und kehrte nach dem Krieg zur Familie Chotzen nach Berlin zurück, bevor sie 1946 in die USA auswanderte. Eppi und Elsa Chotzen lebten weiter in Berlin, wo Elsa 1982 starb. Eppi schrieb die Geschichte seiner Familie auf und überließ sie zusammen mit den Postkarten aus Theresienstadt und weiteren Dokumenten und Fotografien der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz. Er starb 1992.

Stolpersteine für die ermordeten Familienmitglieder in der Johannisberger Straße 3 (Foto: GHWK Berlin, Mert Akyüz)
Stolpersteine für die ermordeten Familienmitglieder in der Johannisberger Straße 3 (Foto: GHWK Berlin, Mert Akyüz)

Dank einer Projektförderung der Bundeszentrale für Politische Bildung kann die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz nun im Rahmen des Projektes „Geschichte der Familie Chotzen“ im Laufe des Jahres 2021 diesen vor allem in seinem Umfang einzigartigen Nachlass digitalisieren, erfassen und weiter erforschen, um daraus ein vertiefendes Bildungsangebot zu entwickeln. Anhand des Nachlasses der Familie Chotzen lassen sich eine Vielzahl relevanter Themen der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik aufzeigen: darunter Fremd- und Eigendefinition, Sport im Nationalsozialismus, Arisierung und Zwangsarbeit, Deportation, (Über-)Leben im Ghetto Theresienstadt, Kommunikationswege und -möglichkeiten, der „rassenrechtliche“ Status von „Mischlingen“ und „Geltungsjuden“ sowie die Nachkriegszeit und die Bemühungen Elsa Chotzens um „Wiedergutmachung“. Die Möglichkeit, diese komplexen historischen Zusammenhänge anhand einer individualisierten Familiengeschichte thematisieren zu können, stellt den hohen pädagogischen Wert des Nachlasses und seine Relevanz weit über den lokalen Berliner Raum hinaus dar.

Mert Akyüz (Freiwilliges Soziales Jahr Kultur, GHWK) und Svea Hammerle (freie Mitarbeiterin, GHWK), 2. März 2021