Ein Bild vom Boykott?

"Macht euch ein eigenes Bild!" oder "Bildung ist wichtig!", heißt es oft. "Hast du Bilder gemacht?", werden wir gefragt, wenn wir aus dem Urlaub kommen – und eines haben alle drei Sätze gemeinsam: Das Bild.

Das zeigt, von welcher Wichtigkeit Bilder sind – ob im Alltag, im Urlaub oder in der Schule. Vor allem in der pädagogischen Vermittlungsarbeit wird von Bildquellen intensiv Gebrauch gemacht und das nicht ohne Grund. Denn durch jene Quellen wird der Bildungsarbeit ermöglicht, die Ereignisse eines bestimmten Zeitabschnittes zu veranschaulichen. So fungiert das Bild, die Quelle, als eine Art Brücke in die Vergangenheit, was nicht nur die Neugier der Lernenden wecken kann, sondern die Lernenden direkt mit dem jeweiligen Ereignis konfrontiert.

Auch in der neuen Dauerausstellung unserer Gedenk- und Bildungsstätte sind Bilder wirkmächtig. Vor einem Foto des sogenannten Boykotts jüdischer Geschäfte bleiben viele Schüler*innen stehen.

Das angesprochene Bild in der Dauerausstellung des Hauses der Wannsee-Konferenz (Foto: GHWK Berlin)

Das Bild wurde vom Berliner Kameramann Hans Schaller am 1. April 1933 geschossen und ist als Teil einer Inszenierung zu sehen. Eine lächelnde Frau wird von einem freundlichen SA-Mann offenbar scherzhaft vom Besuch eines Geschäfts abgehalten. Mit diesen und anderen Bildern wollte der Berliner Gauleiter und Propagandaminister Josef Goebbels die SA, die die Bevölkerung wochenlang terrorisiert hatte, als disziplinierte Hilfspolizei präsentieren. Abseits der Fotos kam es in Berlin an diesem Sonnabend häufig zu Gewalttaten. 

Auf dieser Fotografie ist der Eingangsbereich von „Degginger Kayserstrümpfe“, am Kurfürstendamm 220 in Berlin, abgebildet. Hierbei handelte es sich um ein Damenmodengeschäft, das vom jüdischen Ehepaar Anna und Fritz Degginger geführt wurde. In Folge der öffentlichen Ächtung zog es kurze Zeit später in die Meinekestraße um.

Wenn heute nach Fotografien vom 1. April 1933 recherchiert wird, fällt auf, dass viele Aufnahmen große Ähnlichkeiten aufweisen – das ist kein Wunder, weil seinerzeit viele Fotografen im Auftrag der fast gleichgeschalteten Presse arbeiteten. Nur sehr wenige Fotos sind von den betroffenen Jüdinnen und Juden überliefert.

Die Bedeutung und Relevanz der Presse ist nicht mit der von heute zu vergleichen. War es der Bevölkerung damals fast nur möglich, sich über die Presse ein Bild zu machen, so hat es die heutige Bevölkerung deutlich leichter. Nicht nur werden Fotos und Bilder aufgrund der in den Smartphones eingebauten Kameras inflationär genutzt und verbreitet, sondern es spielt „Social Media“ in der Verbreitung von Bild- und Videomaterial eine sehr große Rolle. Es entstehen viele individuelle Aufnahmen, welche überall veröffentlicht werden können. Aus diesen Gründen ist eine einfache Inszenierung, wie oben genannt, heutzutage sehr schwer umzusetzen. Viele Leute verfügen über gute und handliche Aufnahmegeräte, mit denen sie Inszenierungen, somit Verzerrungen der Realität, aufdecken und zügig verbreiten können. Wie wäre die Presse in der Zeit des Nationalsozialismus mit dem sogenannten "Judenboykott" umgegangen, wenn die breite Bevölkerung über Aufnahmegeräte verfügt hätte?

Ein Bild vom Laden aus Familienbesitz (Foto: GHWK Berlin)
© GHWK Berlin
Ein Bild vom Laden aus Familienbesitz (Foto: GHWK Berlin)

Im nächsten Beitrag werden wir die Geschichte des Fotos sowie die Geschichte der Familie Degginger weiterverfolgen.

Autor: Mert Akyüz, FSJ Kultur, Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz