"Antisemitismus muss sozial geächtet werden."
Zum Fachtag am 10. Mai 2023 unter dem Titel "Mit Algorithmen (ge)denken?" haben wir Vertreter*innen der verschiedenen Berufsgruppen, mit denen wir Fortbildungsseminare veranstalten, zum Austausch eingeladen. Mit dabei war auch Winfrid Wenzel, Antisemitismusbeauftragter der Berliner Polizei, den wir vorab zum Interview getroffen haben.
Seit 2019 gibt es bei der Polizei Berlin das Amt des Antisemitismusbeauftragten, das in Personalunion vom Leiter der Zentralstelle für Prävention im Landeskriminalamt (LKA) Berlin ausgeübt wird. Bundesweit war es die erste derartige Stelle bei einer Polizeibehörde. Seit Mai 2022 hat Winfrid Wenzel (55) das Amt inne. Zuvor bekleidete er unterschiedliche Positionen, so war er unter anderem Leiter des Brand- und stellvertretender Leiter des Morddezernates sowie Pressesprecher des Polizeipräsidiums. Vor seiner Laufbahn bei der Polizei hat er vier Semester Geschichtswissenschaften und Politik studiert. Das Gespräch fand am 17. April 2023 in seinem Amtssitz am Columbiadamm statt.
Herr Wenzel, was sind Ihre Aufgaben als Antisemitismusbeauftragter der Polizei Berlin?
Ich bin die zentrale Ansprechperson der Behörde für alle Fragen im Zusammenhang mit Antisemitismus, und zwar sowohl nach außen als auch nach innen. Ich beantworte Presseanfragen und stehe der Politik zur Verfügung, aber auch der jüdischen Community in ihrer ganzen Vielfalt. Innerhalb der Polizei ist der Antisemitismusbeauftragte für Fortbildungen verantwortlich. Es ist wichtig, ein Bewusstsein sowohl für das politische Geschehen zu vermitteln als auch für religiöse Zusammenhänge zu sensibilisieren. Das sind Dinge, die auch polizeilich und polizeitaktisch relevant werden können. Zum Beispiel ist es für die Einordnung von Gefährdungslagen wichtig zu wissen, welche Bedeutung Jom Kippur hat. Politische Grundkenntnisse sind für die gesamte Bandbreite polizeilicher Arbeit, auch für Einsatzkräfte auf der Straße, relevant. Das hat sich beispielweise bei den israelfeindlichen Demonstrationen am 8. April gezeigt.
Wie werden antisemitische Straftaten erfasst?
Antisemitische Straftaten werden im sogenannten PMK-Modus erfasst, also als politisch motivierte Kriminalität. Diese Taten werden unmittelbar nach der Erfassung an den kriminalpolizeilichen Meldedienst weitergegeben, der bundesweit einheitliche statistische Kriterien verwendet, um eine Vergleichbarkeit zwischen den 16 Bundesländern herzustellen. Die Fälle werden nach bestimmten Ober- und Unterthemen geordnet. Die vier großen Cluster sind Gewaltdelikte, Propagandadelikte, Terrorismus und sonstige Delikte. "Terrorismus" ist selbsterklärend und betrifft Straftaten, die nach §129 oder §129a Strafgesetzbuch verfolgt werden. Bei "Gewaltdelikten" geht es um Tötungen, Raub, schwerer Körperverletzung und Sexualdelikte. "Propagandadelikte" sind vor allem im Internet ein enormes Phänomen geworden, auch befeuert durch Corona, gemeint ist die Verbreitung von antisemitischen Narrativen und Verschwörungsideologien. "Sonstige Delikte" können kleinere Sachbeschädigungen, Beleidigungen oder ähnliches sein.
Es kann also passieren, dass sich ein Fall aus drei oder vier verschiedenen Straftatbeständen zusammensetzt. Plakatives Beispiel: Wenn eine Täterin oder ein Täter ein Hakenkreuz an eine Synagoge sprüht und den Rabbiner als "dreckigen Juden" beschimpft, dann ergibt das eine Verknüpfung aus Sachbeschädigung, möglicher Volksverhetzung und Beleidigung.
Welche Rolle spielen Delikte, die im Internet begangen werden?
Das Internet ist für uns ein wichtiges Thema. Schon allein quantitativ, da etwa 50% der antisemitischen Straftaten im Internet stattfinden, aber auch deswegen, weil die Ermittlungsarbeit im Internet an faktische Grenzen stößt. Das ist für die Polizei durchaus ernüchternd. Das deutsche Strafgesetzbuch stellt Dinge unter Strafe, die im Ausland, etwa in den USA, nicht strafbar sind. Shoah-Leugnung ist in vielen Ländern nicht strafbar, so dass viele Telemedia-Betreiber sich nicht in der Lage sehen, uns Nutzerdaten zur Verfügung zu stellen. Straftaten, die nach deutschem Recht klar strafbar sind, können also durch die fehlende Unterstützung der Social-Media-Anbieter nicht verfolgt werden. Das ist ein Problem, für das wir noch keine Lösung haben.
Wie hoch ist die Aufklärungsquote in den verschiedenen Tatfeldern? Wie oft können Täterinnen und Täter identifiziert werden?
Im Internet ist es tatsächlich schwierig, und es kommt hinzu, dass sich die Taten – anders als etwa bei Fahrraddiebstählen – häufig nicht direkt mit Berlin verknüpfen lassen. Zur Veranschaulichung: Wenn hier in Berlin eine Bürgerin die Polizei über antisemitische Volksverhetzung auf Social Media informiert und die ersten Ermittlungen führen dazu, dass die Staatsanwaltschaft Stuttgart zuständig ist, dann geht das in die baden-württembergische Statistik ein und Berlin erfährt davon nichts, oder allenfalls zufällig. Das ist ein Beispiel für die Probleme bei der statistischen Erfassung. Insgesamt werden in den letzten Jahren 40-50% der antisemitischen Taten aufgeklärt. 2022 wurden beispielsweise von 380 Taten 181 aufgeklärt. Gerade für die Zeit der Corona-Pandemie hatten wir einen hohen Anteil von identifizierten Tatverdächtigen im Rahmen der vielfältigen, teilweise verschwörungsideologischen Veranstaltungen. Dabei war die Zusammenarbeit mit der Generalstaatsanwaltschaft ebenso wie mit externen Organisationen wie der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) sehr zielführend, vor allem, was die Bewertung und Einschätzung bestimmter Äußerungen als antisemitisch anging. Das markanteste Beispiel war das Tragen gelber Sterne mit der Aufschrift „Ungeimpft“, das von der Staatsanwaltschaft als klarer Fall von Holocaustverharmlosung eingestuft wurde. So wurde auch für die Einsatzkräfte auf den Versammlungen Handlungssicherheit hergestellt, so dass regelmäßig der Anfangsverdacht einer Straftat angenommen werden konnte. Hier war greifbar, wie wichtig das enge Netzwerk und der Austausch mit der Staatsanwaltschaft ist.
Man hört immer wieder von antisemitischen und rassistischen Chatgruppen auch innerhalb der Polizei. Wie ist das Vorgehen in diesen Fällen?
Es gibt dann zum einen unmittelbar Vorermittlungen im dienstrechtlichen Sinne, das heißt, es wird untersucht, ob ein Fehlverhalten im beamtenrechtlichen Sinne vorliegt. Beamtinnen und Beamte müssen ja berechtigterweise eine ganz breite Palette von Erfordernissen erfüllen: Verfassungstreue, Rechtstaatlichkeit, Anerkennung der freiheitlich demokratischen Grundordnung, Neutralitätsgebot und und und. Insbesondere bei Auszubildenden und Studierenden kann diese Untersuchung auch schnell zu der Frage führen, ob wir rechtlich eine Möglichkeit haben, uns von der Beamtin, dem Beamten zu trennen. Das ist ganz klar die Linie der Behördenleitung: Bei extremistischen Auffälligkeiten, bei Fehlverhalten, bei Zweifeln an der Rechtsstaatlichkeit einzelner Beamtinnen und Beamter oder von Gruppen erfolgt die Kündigung. Das ist der eine Teil, der restriktiv passiert. Der zweite Teil ist die strafprozessuale Bewertung. Das heißt, es werden Ermittlungsverfahren eingeleitet, die federführend im LKA bearbeitet und der Staatsanwaltschaft übermittelt werden. Da knüpft sich die Frage an, ob es neben der dienstrechtlichen Würdigung auch noch eine strafrechtliche geben wird im Sinne von Geld- oder Freiheitsstrafe.
Gibt es auch Fortbildungen, die dieses Themenfeld gezielt adressieren?
Natürlich. Wie dann genau vorgegangen wird, hängt allerdings von der konkreten Konstellation ab: Handelt es sich um eine feste Dienststelle, die dahingehend auffällig geworden ist, oder ist es ein Klassenverbund an der Polizeiakademie, der sich vielleicht erst vor vier, fünf Wochen neu gefunden hat – da sind die Ansätze natürlich unterschiedlich. Einerseits geht es dann darum, das Thema im direkten Austausch mit den Vorgesetzten aufzugreifen. Zum anderen gibt es Fortbildungen, die von der Polizeiakademie oder von uns als LKA-Prävention gezielt angeboten werden. Da geht es um Werte und Haltung, um Medienkompetenz. Wir wollen ein Bewusstsein schaffen, welche Verantwortung, welche Vorbildfunktion, welche besondere Rolle die Polizei in der Gesellschaft hat. Es gibt einfach eine ganz andere Erwartungshaltung, die wir an uns selber stellen und die von außen an uns herangetragen wird als beispielsweise bei einem Bäckereifachverkäufer, das ist einfach die Besonderheit der Situation.
Es gibt Fortbildungsmodule zu Hasskriminalität, Extremismusprävention und Deradikalisierung, aber auch vergleichsweise niedrigschwellige Angebote wie die bei uns im Präventionsbereich entwickelte Handlungsempfehlung zum diskriminierungssensiblen Sprachgebrauch. Wenn in einer Dienststelle beispielweise beobachtet wird, dass die Sprache, die Kommunikation von Kolleginnen und Kollegen nicht im nötigen Maße als respektvoll, empathisch, zeitgemäß wahrgenommen wird, wenden sie sich an uns. Das hat sich in meiner Wahrnehmung innerpolizeilich enorm verändert und verbessert: Das Bewusstsein, welche enorme Bedeutung die Kommunikation für unseren Beruf hat, und wie sehr wir auch gefragt sind, uns der gesellschaftlichen Entwicklung schlichtweg anzupassen, weil Dinge, die vor 10, 15 Jahren noch normaler Sprachgebrauch gewesen sind, heute aus guten Gründen wirklich nicht mehr funktionieren können.
Hat sich durch die Einrichtung der Stelle des Bundesbeauftragten für jüdisches Leben und den Kampf gegen den Antisemitismus etwas verändert?
Wovon ich felsenfest überzeugt bin, ist, dass mit der Einrichtung von Antisemitismusbeauftragten ein Bewusstsein für die Relevanz des Themas geschaffen wurde. Sie sind ein wichtiges Signal dafür, dass Antisemitismus sozial geächtet werden muss. Es handelt sich um ein Phänomen mit vielen hundert Jahren trauriger Tradition. Heute gibt es aber, anders als noch vor 10 oder 15 Jahren, gesellschaftlich einen Konsens darüber, dass sich Antisemitismus nicht im Bagatellbereich abspielt. Es handelt sich um Hasskriminalität, weil nicht nur einzelne Menschen attackiert werden, sondern einzelne Menschen stellvertretend zum Opfer gemacht werden, um andere zu erschrecken, zu verunsichern, zu gefährden. Deswegen ist die Einrichtung des Bundesbeauftragten ein starkes Signal gewesen, dass so etwas vom Rechtsstaat nicht geduldet wird.
Herr Wenzel, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führten Dr. Jakob Müller, Abteilung Bildung & Forschung, und Dr. Ruth Preusse, Abteilung Kommunikation & Öffentlichkeit