#Antisemitismus: Werkstattausstellung "Skandal oder Normalität?"

Seit Januar 2023 entsteht in unserem Flur im 1. Stock nach und nach eine Ausstellung zum Thema Antisemitismus seit 1945: Jeden Monat erinnern wir mit einem Plakat an einen antisemitisch motivierten Angriff aus den vergangenen sieben Jahrzehnten. Auf diese Weise werden sowohl die Kontinuität von Judenhass in Deutschland als auch die verschiedenen Erscheinungsformen von Antisemitismus deutlich.

© GHWK Berlin
Ein Einblick in die Ausstellung "Skandal oder Normalität?" in unserem ersten Obergeschoss

 

Kürzlich hat der Bundesverband RIAS (Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V.) seinen Jahresbericht zu antisemitischen Vorfällen in Deutschland 2022 vorgestellt. Obwohl die Zahlen im Vergleich zum Vorjahr leicht zurückgegangen sind, gibt es keinen Grund zu glauben, dass wir gesellschaftlich auf einem guten Weg wären: Die niedrigere Zahl der gemeldeten Vorfälle ist allein mit dem Ende der pandemischen Lage zu erklären, die 2020 und insbesondere 2021 zu einem massiven Anstieg von antisemitischen Vorfällen im Kontext von gegenwärtigen Verschwörungserzählungen geführt hatte. Im Jahr 2022 ist die Zahl gewaltförmiger Angriffe auf Jüdinnen und Juden sogar gestiegen: neun Fälle von extremer, potentiell tödlicher Gewalt und 56 körperliche Angriffe wurden verzeichnet.

Unsere Ausstellung stellt im Titel die Frage: „Skandal oder Normalität?“ Wie geht die Gesellschaft mit dieser Form von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit um? Werden antisemitische Taten skandalisiert – oder hat man sich in Deutschland bereits daran gewöhnt, dass Jüdinnen und Juden polizeilich geschützt werden müssen? Zu jedem der in Form von Zeitungsmeldungen vorgestellten Ereignisse aus der deutschen Nachkriegsgeschichte haben wir Interviews mit Betroffenen, Zeug*innen oder Expert*innen geführt, die den historischen Fakten eine weitere Perspektive hinzufügen. Die Inhalte haben wir auf Twitter, Instagram und Tiktok geteilt und geschaut, wie unsere Follower*innen auf diese Posts reagieren. Ein Rückblick:

#NS-Ideologie #Sekundärer Antisemitismus #2010er Jahre

Im Januar haben wir an den Brandanschlag auf das „Haus der Demokratie“ im Januar 2010 in Zossen erinnert. Damals wurde gerade eine Ausstellung über „Jüdisches Leben in Zossen“ gezeigt. Als die Feuerwehr anrückte, traf sie johlende Neonazis an, die sich vor dem Feuer fotografierten.

Jörg Wanke, der lange Zeit Sprecher der Bürgerinitiative „Zossen zeigt Gesicht“ war, erzählte uns, dass die Auseinandersetzung mit dem rechtsextremistischen Täterumfeld schon im November 2008 begonnen hatte. Damals wurde der erste Stolperstein der Stadt verlegt, ausgerechnet vor einem Internet-Café, das von einem bekannten Rechtsextremisten als Szenetreff betrieben wurde. Die gewaltbereiten Neonazis der Gruppierung „Freie Kräfte Fläming“, darunter bekannte Holocaust-Leugner, versuchten nicht nur, die Gedenkaktion zu verhindern, sondern störten in der Folge auch wiederholt weitere Gedenkveranstaltungen u. a. mit Fackelaufmärschen. Daraufhin gründete sich die Bürgerinitiative „Zossen zeigt Gesicht“. Sie veranstaltete Info-Abende, Feste und Konzerte. Im September 2009 eröffnete sie das „Haus der Demokratie“ als Treffpunkt für Engagierte.

Das Gebäude wurde von Anfang an angegriffen, beschmiert und beschädigt. Und nur vier Monate nach der Eröffnung geschah dann der Anschlag: Das Haus brannte vollständig aus. Ein 16-Jähriger gestand die Tat, das Verfahren gegen ihn wurde eingestellt. Der Internet-Café-Besitzer wurde 2011 als Anstifter zu drei Jahren und acht Monaten verurteilt.

Wanke erzählte, dass die Rechtsextremisten einige Unterstützer*innen der Bürger-Initiative damals massiv einzuschüchtern versuchten. Sie erhielten Morddrohungen, es kam zu Schmierereien und Zerstörungen an ihren Wohnorten, Wanke selbst war davon betroffen. Von der Stadt Zossen gab es keine Hilfe: Die Bürgermeisterin hielt die Engagierten für linke Provokateure und fürchtete durch deren öffentlichkeitswirksame Aktionen um den Ruf der Stadt. Sie sorgte sogar dafür, dass ihnen keine neue Immobilie zu Verfügung gestellt wurde.

Wanke zog aus heutiger Perspektive trotzdem ein positives Resümee: Die Rechten dominierten heute nicht mehr die Atmosphäre in der Stadt. Und er ist sich sicher, dass die damals Engagierten auch heute wieder bereitstünden, sollte das nötig sein.

Teile des per Zoom geführten Interviews zeigen wir auch auf unserem TikTok-Kanal. Dort sind zu Beginn alle Kommentare sehr freundlich:

??? ???? vielen dank für die infos! ????

#Eliminatorischer Antisemitismus #1970er Jahre

Im Februar haben wir mit Charlotte Knobloch, der Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, über den Brandanschlag auf das Jüdische Gemeindezentrum in München gesprochen, bei dem am 13. Februar 1970 sieben Menschen starben, darunter Überlebende der Shoa. Sie erinnert sich noch ganz genau an Moment als der Anruf kam, da sie den siebten Geburtstag ihrer Tochter feierte:

„Es war ein Schlag ins Gesicht, weil ich viele Betroffene und auch die, die umgekommen sind, sehr gut kannte. Das waren Überlebende, die gedacht haben, dass sie endlich ein Heim gefunden haben, wo sie sich ihren Lebensabend gut vorstellen können - und dann ist das passiert.“

Viele Gemeindemitglieder verließen danach Deutschland: „Plötzlich hatte man diese Bilder vom 9. November 1938 im Kopf, als jüdische Einrichtungen gebrannt haben. Viele haben dann gedacht, wenn ich kann, geh ich weg aus diesem Land, das halte ich nicht aus.“  

Täter*innen wurden nicht ermittelt. Knobloch mache der Polizei allerdings keinen Vorwurf: „Die Polizei hat alles getan, um Licht in dieses Dunkel zu bringen, aber ohne Erfolg. Man denkt, jemanden mit einem Benzin-Kanister, der muss doch gesehen worden sein, aber es hat keiner gesehen.“ Sie hoffe weiter auf Aufklärung: „Man liest manchmal, dass noch viele Jahre danach eine Tat aufgeklärt wird. Es wäre für mich schon wichtig, dass man den oder diejenigen findet. Nicht, dass man immer über das Thema spricht, es aber nicht zu Ende bringen kann.“

Die Zusammenarbeit mit den Behörden sei gegenwärtig gut – und notwendig: „Ich sehe manchmal vor unserer Synagoge komische Leute, die extra herkommen, um ihre Wut und ihren Judenhass zu zeigen. Wir sind sehr froh, dass die Polizei und unsere Sicherheitsleute sehr gut geschult sind und solche Dinge gleich erkennen.“

Heute sei zum Glück auch die Öffentlichkeit bereit, sich mit diesen Themen zu beschäftigen: „Ich hoffe sehr, dass das ein bisschen Einwirkung hat auf den Judenhass, den wir zu spüren bekommen.“

Im zweiten Monat unseres analogen und digitalen Ausstellungsprojektes löst ein Kommentar bei TikTok ein Reaktionsvideo unsererseits aus. Ein*e User*in schreibt unter das Video, in dem Charlotte Knobloch über die Sicherheitslage der Münchener Jüdischen Gemeinde spricht: „Kurze Zusammenfassung: Es gab keinen Anschlag mehr.“ Doch tatsächlich ist die Liste an Übergriffen und antisemitischen Beleidigungen gegenüber Jüdinnen und Juden in München lang. 2003 war sogar ein Bombenattentat auf die Synagoge geplant, der zum Glück verhindert werden konnte. Wir klären also per Videoclip darüber auf. Die Aussage es gebe „immer noch Antisemitismus“ triggert eine*n andere*n User*in: „Warum "immernoch"? Man hat 2015 in Größenordnungen Antisemiten ins Land geholt, "immernoch" ergibt keinen Sinn.“

#Linker Antisemitismus #AS+DDR #1950er Jahre

Am Beispiel des Urteils gegen Paul Merker wurde im März Antisemitismus in der DDR thematisiert. Paul Merker (1894-1969), der seit 1920 KPD-Mitglied war und während der Weimarer Republik verschiedene politische Ämter bekleidet hatte, ging 1933 erst in den Untergrund und dann ins Exil. 1942 gelang es ihm, aus Frankreich nach Mexiko zu fliehen. Nach dem Krieg ging er in die Sowjetisch Besetzte Zone (SBZ), um sich wieder politisch zu engagieren.
Während des Krieges hatte er sich für die Entschädigung jüdischer Opfer des Nationalsozialismus ausgesprochen. Das wiederum wurde ihm Anfang der 1950er Jahre in der DDR als staatsfeindliche Gesinnung ausgelegt. Das Gericht argumentierte, er vertrete „zionistische Positionen“. Im Urteil hieß es:

„Um sich einen Rückhalt in der Emigration [in Mexiko] zu schaffen, stützte er sich nicht auf die politische, sondern auf die rassische Emigration. Hierbei suchte er, insbesondere Anschluss an emigrierte kapitalistische jüdische Kreise zu finden. Er forderte die ausnahmslose Entschädigung aller aus Deutschland emigrierten Juden, unabhängig davon, ob sie nach Deutschland zurückkehren wollten und unabhängig davon, ob sie aus großkapitalistischen oder anderen Kreisen stammten. Weiter vertrat er aus diesem Grunde zionistische Tendenzen, indem er das Recht der nach Deutschland zurückkehrenden Juden auf Anerkennung als nationale Minderheit und die Schaffung eines jüdischen Nationalstaates propagierte.“

Der Tod Stalins bewahrte Merker letztlich vor einer langen Haftstrafe. Er wurde 1956 aus dem Gefängnis entlassen und rehabilitiert.

Was sagt die Geschichte um Merker über den Antisemitismus in der frühen DDR aus? Wir haben mit Annetta Kahane, Gründerin der Amadeu Antonio Stiftung, darüber gesprochen:

„Als diese antisemitische Verfolgungswelle in der DDR losging, war es relativ willkürlich, wen es getroffen hat. Im Freundeskreis meiner Eltern traf es einige, andere nicht. Verhört wurden sie von Menschen, die früher Nazis waren. Das ist nicht verwunderlich, weil auch die DDR-Gesellschaft eine Post-NS-Gesellschaft war, von denen nur die allerwenigsten Widerstandskämpfer waren. Also alle die, die dann tatkräftig mitgemacht haben an dieser Verfolgungswelle, konnten ihren alten, tief verinnerlichten Antisemitismus wieder rausholen.

Die Atmosphäre Anfang der 1950er Jahre, als Paul Merker und einige andere sich bemüht haben, das Thema Entschädigungen für jüdische Opfer auf dem Territorium der DDR anzugehen, war einfach antisemitisch. Sie wurden diffamiert als Knechte des Zionismus. Im Grunde konnten sich die Juden in der DDR davon nie erholen, es hätte ja einer Aufarbeitung bedurft. Das Gegenteil ist passiert: Der Stalinismus, das Erbe des Nationalsozialismus und die Shoah wurden verdrängt, verleugnet. Bis heute prägt das die ostdeutsche Gesellschaft, weil diese drei Dinge nie offen ausgesprochen und aufgearbeitet wurden.

Seit vielen Jahre ist die Ausstellung „Das hat’s bei uns nicht gegeben. AS in der DDR“ in Deutschland unterwegs: „Unsere Idee war, das überhaupt zu thematisieren. Meistens war die Abwehr wahnsinnig groß, aber es gibt auch Einträge ins Gästebuch: ‚Da haben wir gar nicht so drüber nachgedacht.‘ Der Kampf gegen Rechtsextremismus ist sinnlos, wenn man nicht auch über das spricht, worauf er beruht, nämlich auf dem unverdauten Faschismus, Judenhass, Rassismus und all dem Zeug. Die Erinnerungskultur fehlt. Das Ergebnis ist diese Hemmungslosigkeit, das Fehlen jeglicher Scham.“

Bei Twitter erreichten unsere Tweets zum Thema Antisemitismus in der DDR bislang die meisten Likes: 165 ❤

#NS-Ideologie #Antisemitismus #1940er Jahre

Im April haben wir an einen Skandal während der Nachkriegsprozesse gegen den Regisseur Veit Harlan erinnert. Er war 1949 wegen seines Hetzfilms „JUD SÜSS“ angeklagt worden. Seine Verteidigungsstrategie vor Gericht erklärte Prof. Bill Niven von der Nottingham Trent University so:

„Er hat zuerst argumentiert, dass er gezwungen wurde, den Film zu drehen – Goebbels hätte ihn sonst in ein KZ gebracht. Zudem habe er versucht, den Antisemitismus im Drehbuch abzuschwächen und Stellen reinzubringen, die man als philosemitisch interpretieren könnte. Aber leider hätte Goebbels verlangt, dass diese Szenen wieder entfernt werden. Außerdem könne er gar kein Antisemit sein, schließlich sei er in erster Ehe mit einer jüdischen Frau verheiratet gewesen und hätte vielen Juden geholfen während des Dritten Reichs, was übrigens auch stimmt.“

Das Gericht sprach Harlan frei: Es sei nicht zu beweisen, dass der Film antisemitische Auswirkungen habe. Der Prozess ging in Revision. Während der zweiten Verhandlung im April 1950 kam es dann zum antisemitischen Skandal, als die Journalistin Karena Niehoff ihre Aussage tätigte: „Sie war damals die Sekretärin von Ludwig Metzger gewesen, der das erste Drehbuch zu JUD SÜSS geschrieben hat. Niehoff war im Widerstand aktiv gewesen, hatte auch einen jüdischen Hintergrund, und sie hat dann ausgesagt im Prozess, dass das erste Drehbuch von Metzger nicht so antisemitisch war wie das, was Harlan geliefert hat. Das kam nicht gut an, nicht bei Harlan und auch nicht bei seinen Unterstützern.“

Nach einem Tumult musste der Gerichtssaal geräumt werden, Niehoff wurde von einer Zuschauerin als „Judensau“ beschimpft.

Niven beschrieb die Reaktion hierauf wie folgt: „Das Erstaunlichste war, wie der Bürgermeister von Hamburg darauf reagiert hat. Statt Niehoff zu verteidigen, hat er gesagt, dass diese Zwischenrufer Kommunisten gewesen seien, dass das eine Kampagne aus dem Osten war, um den Westen als antisemitisch zu diskreditieren. Darüber wurde dann sehr eindeutig in der Presse berichtet, auch in der ausländischen Presse, weil es so aussah, als wollte der Hamburger Bürgermeister den Antisemitismus auf den Osten abschieben, statt Verantwortung zu übernehmen, das war damals ziemlich skandalös.“

Harlan wurde erneut freigesprochen, denn das Gericht glaubte ihm, dass er zum Dreh gezwungen worden war.

Auf TikTok wurde daraufhin viel diskutiert: Es gab Menschen, die Harlan verstanden („Warum können Menschen so schlecht objektiv sein? Wenn der Herrscher etwas will, kann doch nicht der Ausführende schuld sein.“) und Menschen, die vor der NS-Propaganda warnten („Hochgefährlich trotz geschichtlicher Aufklärung. Die Suggestivwirkung solcher Filme ist ungebrochen.“).

#NS-Ideologie #Antisemitismus #1990er Jahre

Im Mai ging es um den Angriff auf eine Synagoge: 1994 verübten Rechtsextreme kurz vor dem Pessach-Fest einen Brandanschlag auf die Synagoge in Lübeck. Es war der erste Angriff dieser Art seit der NS-Zeit. Nur ein Jahr später, im Mai 1995, wurde in einem Nebengebäude der Synagoge erneut Feuer gelegt. Chaim Kornblum, heute Rabbiner in Wuppertal, war damals Vorbeter in Lübeck und hat mit uns über diese Zeit gesprochen. Er erzählte, dass die Jüdische Gemeinde durch die Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, die Anfang der 1990er Jahre als sogenannte Kontingentflüchtlinge gekommen waren, gerade erst deutlich gewachsen war:

Nach dem ersten Anschlag waren alle schockiert und verängstigt. Kornblum sagt, er selbst als in Deutschland Geborener habe darüber nachgedacht, ob er in diesem Land wirklich bleiben will. Für die gerade erst Angekommenen war eine erneute Auswanderung allerdings keine realistische Option. Die zahlreichen Solidaritätsbekundungen aus der Lübecker Bevölkerung und der Politik halfen bei der Bewältigung von Trauer und Wut. Dann geschah ein Jahr später der zweite Anschlag, und weitere Angriffe folgten: Es gab Schmierereien auf dem Jüdischen Friedhof, die Gemeinde erhielt Post mit antisemitischen Beleidigungen. „Man war wirklich wie traumatisiert in diesem Augenblick, man hätte das natürlich nicht für möglich gehalten“, erzählt Kornblum. In dieser Zeit wurde die ständige Überwachung des Gebäudes durch die Polizei eingeführt – und dennoch konnte 2001 eine Bombenattrappe an der Synagoge installiert werden. Kornblum und seine Familie, die in dem Gebäude wohnten, mussten ihre Wohnung verlassen. Er erinnert sich bis heute an die Frage seines 5jährigen Kindes: „Papa, Mama, wieso gibt es Leute, die uns so sehr hassen?“
„Wie soll man erklären, was man selbst kaum versteht?“
Kornblum macht es traurig, dass Polizeischutz an jüdischen Einrichtungen nötig ist und dass man nicht überall in Deutschland mit einer Kippa über die Straße laufen kann – „das find ich einfach schlimm“.“

Für den zweiten Brandanschlag konnte laut Polizei kein*e Täter*in ermittelt werden. Darüber entstanden auf Tiktok in den Kommentarspalten Diskussionen, die teils persönlich beleidigend wurden. Einige Beiträge mussten wir melden und löschen.

#Israelbezogener Antisemitismus #Linker Antisemitismus #1970er Jahre

Im Juni haben wir die Flugzeugentführung nach Entebbe vor 47 Jahren thematisiert. Im Diskurs über linken Antisemitismus ist das Ereignis vor allem aufgrund der von einigen Geiseln als „Selektion“ empfundenen Trennung der jüdisch-israelischen Menschen von den restlichen Geiseln bekannt. Verantwortlich dafür waren u. a. die beiden deutschen Flugzeugentführer*innen Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann.

Unter den Geiseln befand sich auch der Auschwitz-Überlebende Yitzchak David, der Böse seine auf den Arm tätowierte Nummer gezeigt haben soll. Nicht nur in der israelischen Berichterstattung, auch international wurde dieser Umstand – Deutsche entscheiden durch das Verlesen einer Liste über das Schicksal von Jüdinnen und Juden– ins Zentrum gestellt. Wir haben den Historiker Robert Wolff gefragt, wie sich diese Darstellung auf den Diskurs über die Entführung in den deutschen linken Szenen ausgewirkt hat. Tatsächlich interessierte dort eher die Frage, wie die (erfolgreiche) Befreiungsaktion des israelischen Militärs zu bewerten sei, das illegal in Uganda operiert hatte: „In den Veröffentlichungen der zu diesem Zeitpunkt sehr heterogenen linksradikalen Milieus in der Bundesrepublik, die sich zum Teil erbittert verfeindet gegenüberstanden, überwog zunächst ganz klar die Kritik an der aus deren Sicht völkerrechtswidrigen Befreiungsaktion der Israelis. Die Befreiungsaktion wurde besonders von den kommunistischen Gruppen als imperialistische Aggression Israels gegen ein vermeintlich freies Volk interpretiert, ohne auf die Diktatur in Uganda und den ideologischen Charakter der Aufteilung der Geiseln einzugehen. Kritische Stimmen zur Flugzeugentführung und der Aufteilung der Geiseln blieben lange Zeit aus. Erst Anfang der 1990er Jahre kam es zu einer breiteren Diskussion in der radikalen Linken über diese Fragen. Heute wird auch in linksradikalen Kreisen überwiegend kritisch über Formen des linken Antisemitismus diskutiert und durch Veranstaltungen und Publikationen politischer Bildungsträger flankiert.“

Wie kam es eigentlich zu dieser deutsch-palästinensische Kommandoaktion? Und wer profitierte von wem? Robert Wolff erzählte uns, dass die Verbindung zwischen deutschen Radikalen und der PLO 1968 begann. Im Jahr darauf reiste erstmals eine deutsche Gruppe, darunter Dieter Kunzelmann, in den Nahen Osten, um sich dort militärisch ausbilden zu lassen. Solche Reisen wiederholten sich in den folgenden Jahren.: „Die palästinensischen Gruppen hatten aus ihrer Sicht große militärische Erfolge mit der Entführung von Flugzeugen und Geiselnahmen erreicht und immer wieder erfolgreich eigene Kämpferinnen und Kämpfer unter den Augen der globalen Medienöffentlichkeit befreit. Da immer mehr Mitglieder von deutschen Stadtguerilla-Gruppen durch die Sicherheitsbehörden inhaftiert wurden, nahm das Problem ihrer Befreiung bald eine zentrale Rolle in den Aktivitätsschwerpunkten aller linker bewaffneter Gruppen ein. Von der Zusammenarbeit mit den erfahrenen palästinensischen Organisationen konnten die deutschen Gruppen in diesem Punkt also profitieren. Außerdem wurde es ihnen ermöglicht, Stützpunkte außerhalb der BRD anzulegen, um international agieren zu können. Im Gegenzug lernten die palästinensischen Gruppen auch von den Deutschen, die besser in den Bereichen Passfälschung, logistische Unterstützung, Geldbeschaffungen etc. aufgestellt waren. Die Ideologie spielte bei der Zusammenarbeit nur eine untergeordnete Rolle. Entscheidend waren vielmehr die militärischen Vorteile der Kooperationen auf beiden Seiten.“

Auf Twitter wurden unsere Beiträge inhaltlich diskutiert, auch kritisiert und ergänzt.

Von Dr. Ruth Preusse