Das Projekt „Antisemitismus und Jugend“ an der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz

“Ich kenn‘ einige Jüdinnen und Juden,
also was heißt kennen is‘ übertrieben, ich weiß, dass sie existieren.”

Anke, 16 Jahre

Welche Erfahrungen haben Jugendliche und junge Erwachsene in Deutschland mit Jüdinnen*Juden und dem Judentum, und was wissen sie?

“Ich kenn keine richtigen Juden und dachte einfach so, boah [Pause] ich möchte mehr darüber erfahren. [Pause] Und dann hab ich mir ganz viele Reportagen und Dokus und so dazu angeguckt.”

Veronika, 26 Jahre

Welche Erfahrungen haben sie mit der Auseinandersetzung mit Shoah und Nationalsozialismus?

Die Studie

Diesen Fragen und Themenkomplexen geht bereits seit 2020 das Projekt „Antisemitismus und Jugend“ nach, das die Universität Duisburg-Essen (Projektteam: Fatma Bilgi, Henriette Fischer, Monika Hübscher und Nicolle Pfaff) in Kooperation mit der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz inklusive einer qualitativen Studie bis April 2024 durchführt. Gefördert wird das Projekt von der Bundeszentrale für politische Bildung.

Mit 31 nicht-jüdischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 14 und 26 Jahren aus verschiedenen Regionen Deutschlands wurden biographisch-narrative Interviews geführt. Neben den oben genannten Themenbereichen wurden sie dazu befragt, was sie mit dem Judentum verbinden, was sie darüber wissen und inwieweit sie Jüdinnen*Juden aus ihrem Alltag oder aus den Medien kennen. Neben ihrem Wissen über Israel kommt in den Interviews auch zur Sprache, welche antisemitismusrelevanten Kenntnisse sie besitzen bzw. welche Stereotype oder negativen Zuschreibungen gegenüber Jüdinnen*Juden ihnen bekannt sind. Die zwei eingangs zitierten Antworten weisen bereits darauf hin, dass die Erfahrungen und das erworbene Wissen neben Bereichen ihres Alltags auch den schulischen Lernraum betreffen.

Ein erster Zwischenbericht zu den Befunden der Studie erschien in „Jüdisches Leben in Deutschland“, der Novemberausgabe 2021 von „Aus Politik und Zeitgeschichte“ (APuZ). In „Ich weiß, dass sie existieren…“ beleuchten Monika Hübscher, MdB Lamya Kaddor und Prof. Nicolle Pfaff die Kontexte der Begegnung junger Menschen mit jüdischem Leben. Die Autor*innen halten – auch in Bezug auf ihre eigenen Forschungen – fest, dass insbesondere in schulischen und peerkulturellen Zusammenhängen „antisemitische Sprechweisen inzwischen breit dokumentiert“ (APuZ 44-45/2021, S. 49) seien.

In dem Beitrag setzen sie sich mit Erkenntnissen anderer Studien auseinander, die Bezug auf „begegnungspädagogische Prinzipien des interkulturellen und interreligiösen Dialogs“ nehmen. Aus einer Reihe von rekonstruktiv angelegten Studien ergibt sich, dass bei den befragten Jugendlichen ein Ungleichgewicht zwischen den – oftmals fehlenden – Interaktionen mit Jüdinnen*Juden und der medialen Auseinandersetzung mit Jüdinnen*Juden sowie dem Judentum in historischen und politischen Zusammenhängen besteht. Ihr Sprechen „über Juden“ knüpft eher an Medienberichte, Diskurse in Sozialen Medien und Lernkontexte an.

Dieses Bild ergibt sich auch aus den durchgeführten Interviews. Die Schule wird überwiegend als der Raum genannt, in dem sich mit dem Judentum auseinandergesetzt wird. Allerdings passiert dies meist nur in der Thematisierung von Nationalsozialismus und Shoah und der Darstellung von Jüdinnen*Juden als Opfer. Lediglich im schulischen Religionsunterricht wird Judentum in aktuellen Kontexten und als gelebte Religion sichtbar, Synagogenbesuche erweisen sich „als dominante Formen der Begegnung mit dem Judentum und jüdischen Menschen“ (APuZ 44-45/2021, S. 52).

Mediale Darstellungen erzeugen bei den Befragten ein unvollständiges Bild, gar ein Zerrbild des Judentums und von Jüdinnen*Juden. Exotisierende Serien und Berichte befassen sich unverhältnismäßig oft mit ultra-orthodoxen Jüdinnen*Juden, daneben stehen Darstellungen antisemitischer Übergriffe auf Menschen und jüdische Einrichtungen.

Das Bild, das die in der Studie befragten Jugendlichen und jungen Erwachsenen von Jüdinnen*Juden haben, ist nicht negativ belastet, und dennoch bleiben Jüdinnen*Juden als „die Anderen“ markiert. Daran ändern auch Synagogenbesuche oder Austauschprogramme mit Schulen oder Einrichtungen aus Israel kaum etwas, da diese keine alltäglichen oder unbelasteten Räume darstellen und stets in einem pädagogischen und institutionellen Rahmen stattfinden. Den Interviews folgend, bieten die schulischen Zusammenhänge dennoch antisemitismuskritische Reflexionspotentiale, in denen antisemitismusrelevantes Wissen irritiert, diskutiert und in Frage gestellt werden kann.

Es bleibt jedoch anzumerken, dass die begegnungspädagogischen Ansätze oftmals nicht zu einem besseren Verständnis von Antisemitismus führen bzw. die Auseinandersetzung mit den ideologischen Aspekten von Antisemitismus berühren. Dass es für Antisemitismus keine Juden braucht, also dass antisemitisches Denken und Handeln nicht aus dem Handeln von Jüdinnen*Juden entsteht, dürfte kaum dadurch reflektiert werden, dass man das Handeln von Jüdinnen*Juden kennengelernt. Antisemitismus als Welterklärungsmodell, als flexibler Code der eigenen Aufwertung, Orientierung und Identitätssicherung zu verstehen, bedarf anderer Formen antisemitismuskritischer Bildungsarbeit.

Der Bezug zur Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz

Die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz hat das Projekt von Beginn an begleitet, seit August 2022 ist sie mit einer eigenen Projektstelle beteiligt.
Im damit beginnenden zweiten Schritt des Projekts werden Materialien für die Prävention und Intervention gegen Antisemitismus für einen breiten Nutzer*innenkreis entwickelt.

Aus den durchgeführten Interviews ergibt sich ein Aspekt, der auch für die Bildungsarbeit an der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz besonders interessant ist. Befragt nach ihren Bildungserfahrungen zur Shoah, wünschen sich mehrere Interviewpartner*innen eine stärker emotional-moralische Vermittlungsweise, im Schulunterricht sowie bei Gedenkstättenbesuchen. 

Gleichzeitig erleben einige der Befragten eine Überwältigung in den Lernräumen, die allerdings nicht aus einem darauf abzielenden pädagogischen Ansatz herzurühren scheint, sondern aus den Lerninhalten selbst. Zumindest kritisieren sie in diesen Fällen nicht die ursprüngliche Vermittlungsform, sehr wohl aber eine unsensible bzw. Nicht-Reaktion auf emotionale Zusammenbrüche.

Die nächsten Schritte

Im Rahmen des Projekts wird es regelmäßig Veranstaltungen rund um die Themen Antisemitismus und antisemitismuskritischer Bildung geben.
Ein erster Fachtag zur Reflexion antisemitismuskritischer Bildung fand in der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz am 13.11.2022 statt.
40 Teilnehmer*innen verfolgten Inputs  zu Antisemitismus und jüdischer Geschichte als Themen der Geschichtsdidaktik von Dr. Martin Liepach und zur Rolle von Emotionen in der antisemitismuskritischen Bildungsarbeit durch Marina Chernivsky. Prof. Nicolle Pfaff und Monika Hübscher stellten Zwischenergebnisse der Projektstudie vor, insbesondere zu der Frage, wie der Holocaust, Antisemitismus und das Judentum im Sprechen junger Menschen über ihre Bildungserfahrungen thematisiert werden.

Für den Nachmittag wurden zwei Workshops (Bildung gegen Antisemitismus an NS-Gedenkstätten durch Deborah Hartmann und Lucas Frings und Antisemitismus in den sozialen Medien einordnen und dekonstruieren durch Henriette Fischer und Monika Hübscher von der Universität Duisburg-Essen) angeboten. Der nächste Fachtag findet im Mai 2023 an der Universität Duisburg-Essen statt.

Ab Frühjahr 2023 geht das Projekt in eine nächste Phase. In dieser werden Workshops und Weiterbildungsangebote für Multiplikator*innenschulungen erarbeitet.

Die Auswertung der Interviews wird aufzeigen, welche Handlungsbedarfe für die antisemitismuskritische Bildungsarbeit bestehen und welche Schwerpunkte gesetzt werden. Lehrer*innen und Multiplikator*innen der außerschulischen historisch-politischen Bildung werden ausgebildet, um das fertiggestellte Bildungsmaterial in eigenen Bildungsangeboten zu nutzen. Durch die parallel stattfindende Evaluation werden die Materialien vor ihrer Veröffentlichung angepasst.
Sie werden ab 2024 öffentlich zugänglich und für Pädagog*innen nutzbar seien.

 

Text: Lucas Frings (Newsletter I/2023, Januar 2023)