Diktatur wählen? Demokratische Kultur und ihre Feinde

Für unsere Veranstaltung anlässlich des 82. Jahrestags der Wannsee-Konferenz waren wir am 21. Januar 2024 zu Gast in der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Den folgenden Vortrag hielten unsere Kolleg*innen Aya Zarfati und Dr. Matthias Haß als Einführung zu einer zweiteiligen Diskussionsrunde, in der es um die Vergleichbarkeit der heutigen politischen Situation mit der Weimarer Republik und um gegenwärtige Handlungsoptionen in den Bereichen Justiz, Bildung, Medien sowie Kunst und Kultur ging.

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, liebe Kolleginnen und Kollegen,

gestern jährte sich die Wannsee-Konferenz zum 82. Mal, jene Dienstbesprechung mit anschließendem Frühstück, die wie kein zweites Ereignis für den staatlich organisierten und arbeitsteilig durchgeführten Verwaltungsmassenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden steht.

Die Wannsee-Konferenz ist ein extremes Beispiel für die Gefahren, die einem nichtdemokratischen Regime innewohnen. Heute denken wir diese Geschichte der Verfolgung immer vom Ende her und setzen die Besprechung in den Kontext von Deportationen und Massenmord. Aber die Besprechung am Wannsee hat eine Vorgeschichte. Eine Vorgeschichte gesellschaftlich und staatlich praktizierter Ausgrenzung, basierend auf der Ideologie von Volksgemeinschaft und Antisemitismus, betrieben von einem Regime, das rechtsstaatliche Prinzipien, die Gleichheit vor dem Gesetz, Meinungsfreiheit und Pluralismus außer Kraft gesetzt hat und in dem Terror und Gewalt herrschten.

Ein solches Treffen hätte in dieser Form 1933 nicht stattfinden können. Das Programm des NS-Regimes in der sog. „Judenfrage“, das sich in den darauffolgenden Jahren entwickeln und radikalisieren sollte, stand1933 erst am Anfang. Die Politik jedoch und die dahinterliegende ideologische Grundhaltung, die die Verfolgung möglich gemacht hat, war längst sichtbar: die antisemitische Propaganda, die Einschränkung individueller Freiheiten, die Ausgrenzung von als Jüdinnen und Juden definierte Menschen, die Verfolgung politischer Gegner*innen, die Einschränkung von kultureller und gesellschaftlicher Vielfalt.

Um den Weg nach Wannsee, also die Beteiligung der staatlichen Verwaltung an der Organisation und Durchführung des Massenmordes, zu skizzieren, reicht es allerdings nicht, nur den Anfang des NS-Regimes anzuschauen, sondern wir müssen auch die Jahre vor 1933 in den Blick nehmen und in der Übergangsphase zwischen Demokratie und Diktatur gesellschaftliche Prozesse und Handlungsspielräume erkennen und näher betrachten.

Gerade für die Frage nach der Relevanz dieser Geschichte in der Gegenwart ist ein Verständnis der Etablierung der Diktatur unter Zustimmung großer Teile der Bevölkerung und unter Mitwirkung der Funktionseliten aus Staat, Kultur und Gesellschaft zentral. 

Und es stellt sich somit auch die Frage, wo wir heute gesellschaftlich stehen? Warum sind Wähler*innen – damals wie heute – bereit, Politiker*innen zu wählen, die Grundpfeiler der Demokratie – Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Meinungsfreiheit, Gleichheit – untergraben und dies offen proklamieren? Was können wir tun, damit demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien nicht leichtfertig bei Seite geschoben werden, sondern die Demokratie als Grundlage gesellschaftlichen Miteinanders nicht nur akzeptiert, sondern aktiv unterstützt wird?

Wie kann uns der Blick in die Vergangenheit eine Handlungsorientierung für die  Gegenwart geben?

Bei Walter Benjamin gibt es das Bild des Engels der Geschichte. Dieser fliegt mit schreckgeweitetem Blick auf die Katastrophen der Vergangenheit, „die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her […]. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt.“1

Wir sind wie dieser Engel, blind für das, was kommen wird, wir können das Ende der gesellschaftlichen Entwicklung nicht sehen, weil wir mittendrin stecken. Aber wir können unseren Blick auf die Geschichte richten, uns den Übergang von Demokratie zur Diktatur ansehen und fragen, wie viel von dieser Vergangenheit in der Gegenwart wiederkehrt. Wir können aufmerksam sein für die Gegenwart, aus der Katastrophe, aus den sich unablässig auftürmenden Trümmern – anders als der Engel bei Benjamin, der fortgeweht wird – Lehren ziehen und die Handlungsaufforderung mitnehmen, einzugreifen, uns einzumischen.

Weder ist mit dem Blick in die Geschichte der Weg in der Gegenwart vorgezeichnet, noch wiederholt sich die Geschichte, aber sie kann uns Hinweise auf Gefahren geben, auf die Folgen von Entwicklungen, die nie zwangsläufig, sondern gestalt- und veränderbar sind.

Welche Fragen stellen wir uns bei diesem historischen Rückblick? Welche gesellschaftlichen Gruppen und Personen konnten sich am Ende der Weimarer Republik gegen die Normverschiebungen und die Zerstörung demokratischer Prinzipien einsetzen? Haben sie ihre Handlungsmöglichkeiten genutzt? Wie früh war erkennbar, dass es sich bei den Nationalsozialisten nicht nur um eine weitere politische Partei am äußersten rechten Rand handelte, sondern um eine Partei, deren oberstes Ziel es war, das demokratische System als Ganzes abzuschaffen?

Bei Erich Kästner können wir schon 1933 lesen: „An allem Unfug, der passiert, sind nicht etwa nur die Schuld, die ihn tun, sondern auch die, die ihn nicht verhindern.“2 Die Funktionseliten Deutschlands haben sich an vielen Stellten selbst „gleichgeschaltet“ – bevor sie dazu gezwungen wurden. Der Einstellungswandel von einem demokratischen und pluralistischen Miteinander zu einem autoritären und eindimensionalen schwarz-weiß Denken hatte schon begonnen, bevor er gesellschaftlich sichtbar und in politische Macht umgesetzt wurde. 

Der Historiker Michael Wildt schrieb über den Antisemitismus an der Tübinger Universität, dass dieser „bereits vor der nationalsozialistischen Machtübernahme so wirksam [hat] werden können, dass im Frühjahr 1933, wie die Universität selbst stolz anmerkte, nur zwei Prozent der Hochschullehrer, weniger als an jeder anderen Universität, entlassen wurden. […] Schon 1931 gab es keinen jüdischen Professor mehr an der Universität Tübingen. Die Tübinger Hochschullehrer hatten sich offensichtlich frühzeitig darüber verständigt, möglichst selten Juden zu berufen oder zu habilitieren.“3

In der juristischen Fakultät der Universität Heidelberg kam es nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten zu „gewalttätigen Ausschreitungen und lautstarken Protesten” der Studierenden, die sich insbesondere gegen den berühmten Romanisten Ernst Levy richteten. Levy, der im Wintersemester 1932 turnusgemäß für ein Jahr das Dekanat übernommen hatte, konnte angesichts der studentischen Hetze sein Amt nicht führen und verzichtete auf das Dekanat. 1936 emigrierte er in die USA und kehrte nicht nach Deutschland zurück.

Der Rechtswissenschaftler und Rechtshistoriker Klaus-Peter Schröder, der Jahre später selbst an der juristischen Fakultät der Uni Heidelberg tätig war, schreibt: 

„Letztlich beschämend hilflos standen die Mitglieder der Juristenfakultät den provozierenden Aktionen und herabwürdigenden Diffamierungen der national-antisemitisch beeinflussten Studentenschaft gegenüber. Man diskutierte zwar über Einzelheiten der Taktik, die dem studentischen Terror entgegengesetzt werden sollten. Niemand besaß aber den Mut, sich offen gegen die rechtsfeindliche Stimmung zur Wehr zu setzen.“4

Man hat billigend hingenommen, wie demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien missachtet wurden, Antisemitismus als kultureller Code akzeptiert wurde und sich auch gewalttätig Geltung verschaffen konnte. Dies zeigt, dass die Normen von Rechtsstaat und Demokratie leere Hüllen bleiben, wenn sie nicht aktiv gelebt werden. Die Resilienz der Demokratie gegen den Nationalsozialismus war offensichtlich nicht stark genug, auch wenn es anders schien: Erst 11 Jahre davor erschütterte die deutsche Gesellschaft die Ermordung von Außenminister Walther Rathenau, der am 24. Juni 1922 auf der Fahrt ins Auswärtige Amt von Angehörigen der rechtsextremen Organisation Consul erschossen wurde. In der Weimarer Republik löste dieser Mord ein politisches Erdbeben aus. Eine Million Menschen waren bei der Beerdigung auf der Straße. In mehreren Städten demonstrierten Hunderttausende. Wie konnte eine Gesellschaft, die 1922 von einem politischen Mord tief erschüttert war, 11 Jahre später die Demokratie so schnell und mutwillig aufgeben und sich einem diktatorischen, antisemitischen und offen terroristischen Regime ausliefern und andienen? 

„Es gibt wenig so Komisches, wie die unbeteiligt-überlegene Ruhe, mit der wir, ich und meinesgleichen, den Anfängen der Nazi-Revolution in Deutschland wie von einer Theaterloge aus zusahen – einem Vorhang, der immerhin exakt darauf abzielte, uns aus der Welt zu schaffen“, schrieb Raimund Pretzel unter dem Pseudonym Sebastian Haffner im Jahr 1939 in England über die Machtübergabe 1933.5

Zu dieser Zeit war Sebastian Haffner Referendar im Berliner Kammergericht. Als Jurist reflektiert er über das Wechseljahr 1933: „Was ist eine Revolution?“ fragt er und antwortet: „Staatsrechtler sagen: die Änderung einer Verfassung mit anderen als den in ihr vorgesehen Mitteln. Akzeptiert man diese dürre Definition, dann war die Nazi-‚Revolution‘ vom März 1933 keine Revolution. Denn alles ging streng ‚legal‘ vor sich, mit Mitteln, die durchaus in der Verfassung vorgesehen waren.“6

Die Nationalsozialisten nutzten die demokratischen Institutionen der Weimarer Republik aus, um ihre Macht zu etablieren: Sie missbrauchten die bestehenden rechtlichen und politischen Strukturen, um das demokratische System von innen heraus zu demontieren und zu zerstören und schließlich ein faschistisches Regime zu errichten. 

Wer demokratisch gewählt wird, muss nicht gewillt sein, sich an demokratische Spielregeln zu halten.

Wann gleitet die Demokratie in eine Diktatur ab? Gibt es einen Punkt, an dem ein Zusammenbruch verhindert werden kann, oder ist Letzteres nicht erkennbar? 

2024 wächst die Sorge, dass unsere Demokratie (wieder) gefährdet ist. Im September werden die Landtage in Sachsen, Thüringen und Brandenburg neu gewählt. In allen drei Ländern ist die AfD in Umfragen die mit Abstand stärkste Kraft, in Thüringen und Sachsen kommt sie auf 34 bis 36 Prozent. 

Die Ergebnisse der letzten Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung vom September 2023 zeigen, dass die Mitte der deutschen Gesellschaft zunehmend empfänglich für extremistische und demokratiefeindliche Einstellungen wird. Jede zwölfte Person in Deutschland teilt mittlerweile ein rechtsextremes Weltbild. Weitere 20 Prozent seien nicht klar demokratisch orientiert.

Bei allen Indikatoren, mit denen die Expertinnen und Experten rechtsextreme Einstellungen messen, verzeichnet die aktuelle Befragung Anstiege. Dazu gehören nationalchauvinistische Einstellungen, die Verharmlosung der Verbrechen der Nationalsozialisten, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und sozialdarwinistische Haltungen, die zwischen sog. „wertvollem“ und „unwertem“ Leben unterscheiden. Antidemokratische Haltungen, rechtsextreme Weltbilder und autoritäre Einstellungen sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

In der Mitte-Studie heißt es:

„Es besteht zumindest die Gefahr, dass Teile der Mitte sich von der Norm des demokratischen Konfliktausgleiches entfernen, zur Demokratie selbst auf Distanz gehen; sei es, um Eigeninteressen und Identitäten aufrechtzuerhalten, sei es in der Hoffnung, in einer mehr auf Vorrechte oder durch nationale Herkunft bestimmten Gesellschaft Einfluss zu erhalten. Eben solche Suchbewegungen liegen näher, wenn Krisen in besonderer Weise die Gesellschaft herausfordern […]. Krisen und Konflikte verlangen nicht nur eine Krisenregulation und erhöhen den Druck auf die Politik und gesellschaftliche Institutionen, sondern sie verlangen eine Positionierung.“7

Die Wahl autoritärer und antidemokratischer Parteien scheint in Krisenzeiten wie den gegenwärtigen für viele Menschen eine reale Option.

Aber diese Haltungen und Werte zeigen sich auch im vorpolitischen und im gesellschaftlichen Raum, häufig verbunden mit eher zögerlichen Reaktionen staatlicher Stellen und der Zivilgesellschaft. Die Beispiele hierfür sind vielfältig und von uns nicht repräsentativ ausgewählt:

Wir haben heute rechte Gruppen, die an den Schulen dominant sind und für Angst und Schrecken sorgen. Und wir haben rechte Elternhäuser, die die Entlassung eben derer fordern, die für eine Bewahrung der Demokratie eintreten. Und von offiziellen Stellen gibt es doch häufig eher eine einerseits andererseits Reaktion, wo Klarheit von Nöten wäre.

In Brandenburg gibt es eine rechte angehende Grundschullehrerin, deren Verbeamtung aufgehoben wurde. Haben wir nach der nächsten Wahl in Brandenburg einen rechtspopulistischen oder gar rechtsextremen Kultusminister sieht dies möglicherweise ganz anders aus.

Wie steht es um die Resilienz im Bildungsbereich, dem Feld, in dem auch wir als Gedenk- und Bildungsstätte aktiv sind? Wie sieht es im Bereich der Justiz aus, wo ein rechtspopulistischer Staatsanwalt nach wie vor die Grenzen demokratischen Miteinanders in Frage stellen darf. 

Wie reagieren die Institutionen der wehrhaften Demokratie auf die Versuche – nein, nein, es sind ja nur Gedankenspiele – von Jurist*innen aus dem rechtspopulistischen Milieu rechtsstaatliche Prinzipien mit Hilfe von Gesetzen abzuschaffen und insbesondere die Gleichheit vor dem Gesetz aufzuweichen? Hier sind die Kontinuitätslinien zu völkischem Denken und zu den historischen Zusammenhängen des Nationalsozialismus offensichtlich. In den Nürnberger Gesetzen wurde unterschieden zwischen sogenannten „Deutschblütigen“ und Juden, während für erste volle Reichsbürgerrechte galten, wurden Jüdinnen und Juden zu Staatsangehörigen mit eingeschränkten Rechten. 

In den Medien kommen zunehmend rechtspopulistische Stimmen zu Wort, die rhetorisch geschult ein ums andere Mal den ihnen gegebenen Raum für ihre Propaganda zu nutzen wissen und so auch den Diskursraum verändern, das erweitern, was sagbar ist. Und das journalistische Gegenüber scheint immer nicht in der Lage ein demokratisches Miteinander einzufordern bzw. die hinter solchen Äußerungen liegende autoritär antidemokratische – ja offen faschistische – Haltung offen zu legen. Diese antidemokratischen Einstellungen zeigen sich auch bei dem Versuch, Journalist*innen von der freien Berichterstattung von Parteitagen auszuschließen. Dabei geht es inzwischen auch um die Institution des öffentlich-rechtlichen Rundfunks insgesamt, der von rechtsautoritärer Seite in Frage gestellt wird. Und damit – das ist ja die Erfahrung nicht nur aus der Geschichte, sondern die Situation in anderen europäischen Ländern – geht es um die Existenz einer freien Presse insgesamt. 

Autoritäre, ausgrenzende und gewalttätige Tendenzen gibt es jedoch nicht nur aus dem rechtsextremen Spektrum. Sondern auch aus Milieus, die sich selbst als links, gar als aufgeklärt verstehen. Vor allem nach dem 7. Oktober ist ein Antisemitismus hervorgebrochen, der bis dahin in dieser Offenheit undenkbar schien.

An Berliner Universitäten finden als „Kunstaktionen“ oder unter dem Label der Meinungsfreiheit verbrämte antisemitische Aktionen statt bis hin zu körperlichen Angriffen gegen jüdische Studierende. Nur zögerlich reagieren die universitären Institutionen, uneindeutig sind auch die Haltungen einiger Professorinnen und Professoren (und der Hinweis, dass es auch um die US-amerikanischen Eliteuniversitäten nicht viel besser bestellt sei, ist hierbei kein Trost, sondern der Hinweis darauf, dass es im akademischen Betrieb überall offensichtlichen Handlungsbedarf gibt). Ich erinnere kurz an die Hilflosigkeit Heidelberger Professoren angesichts nationalsozialistischer Studenten und ihrem gewalttätigen Aktivismus Anfang der 1930er Jahre, auf die wir zu Beginn hingewiesen haben.

Gesellschaftlich hat sich offensichtlich das Modell autoritären, intoleranten Miteinanders durchgesetzt.

Den rechtsautoritären Parteien und Bewegungen von heute geht es darum, diesen vorpolitischen gesellschaftlichen Raum zu besetzen, zu dominieren und dies letztlich dann bei Wahlen in politische Macht umzusetzen.

Und dabei gehen sie davon aus, dass viele Menschen ihre Parteien wählen, ohne dass sie jedes einzelne Ziel unterstützen. Sie selbst allerdings wollen die Abschaffung des jetzigen demokratischen Systems und artikulieren dies inzwischen ganz offen. Die Menschen, die sie wählen sind offensichtlich bereit, dies in Kauf zu nehmen.

Und auch hier hilft der Hinweis auf eine Frage, mit der wir an unserem historischen Ort immer wieder konfrontiert werden: Wollten die Deutschen den Holocaust? Nein, wir glauben nicht, dass alle Deutschen den Holocaust wollten, aber sie wollten das nationalsozialistische Regime und waren bereit, die Verfolgung von Jüdinnen und Juden in Kauf zu nehmen. 

Wir sind aktuell nicht in einer Situation, die solche Horrorszenarien realistisch erscheinen lassen. Die Frage, die sich für uns stellt, ist die nach den Warnhinweisen für unser demokratisches Miteinander. Lassen Sie mich Bezug nehmen auf den Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz Thomas Haldenwang.

Er führte im August 2023 in den „Tagesthemen“ aus, wie sehr die Hetze gegen Minderheiten aus der AfD die Kriterien der Verfassungsfeindlichkeit, wie sie vom Verfassungsgericht aufgestellt wurden, erfüllen und sagte dann: „Wir müssen uns die Geschichte tatsächlich noch einmal vor Augen rufen. Die Weimarer Republik ist seinerzeit gescheitert, weil eben eine Partei mit den demokratischen Mitteln, durch Wahlen, diese Demokratie damals abgeschafft hat. Und es war eine rechtsextremistische Partei, die Deutschland in den Abgrund geführt hat, die Welt in Brand gesetzt hat und verantwortlich war für sechs Millionen tote jüdische Menschen.“8

In einem Interview mit dem ARD-Politikmagazin „Kontraste“ Anfang Januar 2024 spricht Haldenwang auch die Passivität großer Teile der deutschen Gesellschaft an: „Man hat sich sehr in seinem komfortablen Privatleben eingerichtet und man nimmt nicht hinreichend wahr, wie ernsthaft die Bedrohungen für unsere Demokratie inzwischen geworden sind“.9

Die Enthüllungen des Recherchekollektivs Correctiv letzte Woche zeigen, wie bedroht unsere Demokratie tatsächlich ist, wie weit Überlegungen rechtsextremer Ideologen gehen und wie sehr eine Mentalität, die diesen Ideologien Raum gibt, inzwischen wieder (oder etwa immer noch?) verbreitet ist.

Aber wir wollen bei unserem Jahrestag nicht nur auf die Gefahr für die demokratische Kultur durch ihre Feinde hinweisen, sondern auch diskutieren, welche Handlungsspielräume wir haben, wo wir aktiv sein können. Wie sieht es aus in den Bereichen Bildung und Kultur, wie in der Justiz und den Medien, welche Rolle spielt die Erinnerungskultur für die demokratische Verfasstheit einer diversen Gesellschaft?

Walter Benjamin, Thesen über den Begriff der Geschichte. These IX. In: Gesammelte Schriften, Band 1, Frankfurt am Main 1974, S. 698.

Erich Kästner, Das fliegende Klassenzimmer, Stuttgart 1933, S. 103.

Michael Wildt, Generation des Unbedingten: Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2003, S. 91f.

Klaus-Peter Schroeder, Gerhard Anschütz (1867-1948) – Lebenslinien eines deutschen Staatsrechtslehrers, StudZR 1/2008, online Ausgabe: chrome-extension://efaidnbmnnnibpcajpcglclefindmkaj/https://studzr.de/medien/beitraege/2008/1/pdf/StudZR_2008-1_Schroeder_Anschuetz.pdf, abgerufen am 25.1.2024, S. 70.

Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen: Die Erinnerungen 1914-1933, München 2002, S. 104f.

Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen: die Erinnerungen 1914-1933, München 2002, S. 122.

Andreas Zick, Beate Küpper, Nico Mokros (Hg.), Die distanzierte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2022/23, Berlin 2023 S. 25f.