Podcast: Wannsee. Looking at the International Dimension of the Holocaust 

2024 startet die Gedenk- und Bildungsstätte mit einem neuen Format. In einem englischsprachigen Podcast wollen wir unsere Themen einem interessierten internationalen Publikum vermitteln und mit Fachleuten ins Gespräch kommen. In der ersten Folge haben wir mit dem amerikanischen Historiker Prof. Michael A. Meyer über Leo Baeck gesprochen.

 

Wie reagierten Jüdinnen und Juden in Europa auf den steigenden Antisemitismus der 1920er Jahre? Wie verhielten sie sich ab 1933 gegenüber den nationalsozialistischen Machthabern? Wie wehrten sich Jüdinnen und Juden in Belgien gegen die deutsche Mordpolitik? Welche Rolle spielten polnische Bürgermeister während des Holocaust?  Und wie reagierte der türkische Staat auf die verzweifelten Flüchtlinge an seinen Grenzen?  

Dies sind einige der Fragen, die wir im neuen Podcast „Wannsee. Looking at the International Dimension of the Holocaust” stellen wollen. Es geht uns dabei um die verschiedenen nationalen Perspektiven auf dieses von den Deutschen initiierte „europäische Projekt“. Denn Antisemitismus gab es überall in Europa, und die deutschen Mörder*innen fanden überall willige Helfer*innen. Es geht aber auch um den Widerstand gegen die Mordpläne, der ebenfalls überall in Europa stattfand. Die Bedingungen waren in Belgien anders als in den Niederlanden, in Italien anders als in Ungarn. Hieran lassen sich Fragen anknüpfen, die für die Gegenwart relevant sind. Welche Umstände begünstigten oder erschwerten den Massenmord?   

Um dies zu diskutieren, laden wir Expert*innen ein, die ihre Forschungen zu unterschiedlichen europäischen Ländern während des Holocaust präsentieren. Unser besonderes Interesse gilt hierbei den Gesellschaften unter deutscher Besatzung und ihren jüdischen Communities, weniger den deutschen Täter*innen.   

Die Moderation liegt bei Judith Alberth und Jakob Müller, während Hauke Jacobs für Aufnahme, Schnitt und Produktion verantwortlich ist. Judith Alberth ist seit 2023 Wissenschaftliche Volontärin an der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz. Sie ist Historikerin mit Schwerpunkten auf Frauen- und Geschlechtergeschichte sowie Zeitgeschichte. Für das Jüdische Museum Augsburg produzierte sie den Podcast „Let’s talk, Sisters*!“ über jüdische Identität und Feminismus. Jakob Müller ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter und promovierte zur deutschen Besatzung Belgiens im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Hauke Jacobs betreut die digitalen Sammlungen der Joseph-Wulf-Bibliothek, in der wir die Episoden auch aufzeichnen. Er studierte Geschichte mit einem Schwerpunkt auf europäischer und lateinamerikanischer Zeitgeschichte. 

Warum ein englischsprachiger Podcast?  

Das Haus der Wannsee-Konferenz steht wie kaum ein anderer Ort für die internationale Dimension des Holocausts. Das zeigen auch die vielen ausländischen Besucher*innen, von denen die meisten kein Deutsch sprechen. Als Gedenk- und Bildungsstätte mit internationaler Ausstrahlung wollen wir diesem Umstand mit einem auf Englisch produzierten Podcast Rechnung tragen. Um den Zugang zu erleichtern, stehen Transkripte der Sendungen zur Verfügung, die über eine Volltextsuche erschließbar sind. Durch Klick auf den Suchbegriff kann man zur jeweiligen Stelle im Gespräch springen.   

Ein englischsprachiges Gesprächsformat bedeutet, über den eigenen Tellerrand zu schauen. Wir haben uns deshalb für einen Titel entschieden, der im Englischen eindeutig ist, während er deutsche Zuhörer*innen möglicherweise zunächst irritiert – hoffentlich produktiv: Im Deutschen wird „Wannsee“ vor allem mit dem Berliner Stadtteil und den hier gelegenen Naherholungseinrichtungen assoziiert. Etwa mit dem größten Berliner Freibad, dem Strandbad Wannsee, dem der 1951 von Conny Froboess gesungene Schlager „Pack‘ die Badehose“ gewidmet ist. Außerhalb von Deutschland wird „Wannsee“ hingegen fast ausschließlich mit der Wannsee-Konferenz und der Planung des Massenmordes an den europäischen Jüdinnen und Juden verbunden.

Abweichend vom Sprachgebrauch in unserer Dauerausstellung verwenden wir außerdem das Wort „Holocaust“ als die im Englischen gängige Bezeichnung für den Mord an den europäischen Jüdinnen und Juden.      

© PAAA Berlin
Die Seite 6 des Wannsee-Protokolls illustriert den Holocaust als 'europäisches Projekt'. Es wurde ausführlich darüber gesprochen, in welchen Staaten die Kooperation aus Sicht der Mörder gut lief und wo etwa mit Widerstand zu rechnen war.

Die internationale Dimension des Holocausts – Michael A. Meyer über Leo Baeck  

Unsere erste Episode beschäftigt sich mit Deutschland. Hierfür sprachen wir mit Prof. Michael A. Meyer, dessen eigenes Leben durch die nationalsozialistische Verfolgung geprägt wurde. 1937 in Berlin geboren, gelang es seinen Eltern, 1941 mit ihm in die Vereinigten Staaten zu emigrieren. Meyer lehrte über fünfzig Jahre am Hebrew Union College in Cincinnati mit einem Schwerpunkt auf deutsch-jüdischer Geschichte. Am bekanntesten ist wohl die von ihm herausgegebene vierbändige Buchreihe „Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit“, die bis heute ein Standardwerk ist.   

Michael A. Meyer veröffentlichte 2021 eine Biografie über Leo Baeck, den wohl bedeutendsten Theologen des liberalen Judentums des 20. Jahrhunderts. Dessen Name ist vielen geläufig, etwa durch das Leo-Baeck-Institut mit Dependance in London, Jerusalem und New York. In Zehlendorf ist eine Straße nach ihm benannt, außerdem gibt es das Leo-Baeck-Haus, den Sitz des Zentralrats der Juden in Deutschland in der Berliner Tucholskystraße. Dort befand sich bis 1942 die maßgeblich von ihm geprägte „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“. Letztes Jahr jährte sich Baecks Geburtstag zum 150. Mal. Wer Leo Baeck war, wissen hingegen nur wenige.  

Im Podcast entwirft Michael A. Meyer das Bild eines engagierten Theologen, der sich neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit immer auch gesellschaftlich engagierte. Bereits im Kaiserreich ergriff er das Wort gegen Antisemitismus, war im Ersten Weltkrieg Feldrabbiner und in der Weimarer Republik im Vorstand des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten übernahm Baeck den Vorsitz der „Reichsvertretung der deutschen Juden“. Dieser aus der Not geborene Zusammenschluss unterschiedlicher politischer und religiöser Organisationen sollte die deutschen Jüdinnen und Juden gegenüber den neuen Machthabern vertreten. Die Reichsvertretung war eine demokratische „Anomalie“ im Nationalsozialismus.

“Es war erstaunlich. Auf der einen Seite eine Diktatur mit einem Führer an der Spitze und ohne Bürgerrechte. Und innerhalb dieses nationalsozialistischen Staates gab es eine Demokratie, die ‚Reichsvertretung‘, mit ordentlich gewählten Vertretern, in der es verschiedene Fraktionen gab, die ihre jeweiligen Ansichten vertraten. Dies war genau jene Gesellschaft, welche die Nazis im Rest von Deutschland unterdrückten.”

Michael A. Meyer

Leo Baeck fungierte als von allen jüdischen Fraktionen akzeptierte Integrationsfigur in einer Institution, die immer mehr soziale Funktionen wahrnehmen musste. Die Versorgung für eine durch die Verfolgung verarmende jüdische Bevölkerung, die Organisation von Schulen für Kinder, die keine staatlichen Schulen besuchen durften, und vor allem die Vorbereitung und Organisation der Auswanderung.   

Die Nationalsozialisten duldeten die Reichsvertretung zunächst und machten sie dann mehr und mehr zum reinen Befehlsempfänger ihrer Verfolgungspolitik. Nach dem Novemberpogrom 1938 ersetzten sie die Reichsvertretung durch die „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“, deren Mitgliedschaft für alle Jüdinnen und Juden in Deutschland verpflichtend war. Den Vorstand der bisherigen Reichsvertretung beließen sie im Amt, und Baeck leitete die Reichsvereinigung, bis er 1943 selbst nach Theresienstadt deportiert wurde. Zu den furchtbaren Aufgaben der Reichsvereinigung gehörte es, auf Anordnung der deutschen Behörden Deportationslisten zusammenzustellen und die Betroffenen zu benachrichtigen. Obwohl Baeck wahrscheinlich wusste, dass viele Deportierte an den Bestimmungsorten der Transporte ermordet wurden, entschied er sich dagegen, die Opfer zu warnen. Hierfür wurde er nach dem Krieg scharf kritisiert.

“Warum warnte er die Menschen in Deutschland und Theresienstadt nicht? Ich glaube, dass folgende Gründe dafür verantwortlich waren. Erstens, die Suizidrate war in den 1930er Jahren enorm angestiegen. Er befürchtete, dass sich viele Jüdinnen und Juden in Berlin und Theresienstadt eher das Leben nehmen würden als weiterzuleben. Sie hätten alle Hoffnung verloren. Zweitens dachte er, dass auch die Deportierten eine Chance hatten, zu überleben. Und wenn sie sich das Leben nahmen eben nicht. Es gab Menschen, die nach dem Krieg zu Baeck sagten: ‚Ich bin froh, dass Sie mir damals nicht gesagt haben, was uns erwartete. Ich hätte mir sonst das Leben genommen und so habe ich überlebt‘. Und, als letzten Punkt: Damals war es gängige Praxis, todkranken Patienten nicht zu sagen, dass sie bald sterben würden. Damit sie die wenige ihnen noch verbleibende Zeit nicht in Verzweiflung verbringen würden. Heute denken wir anders darüber.”

Michael A. Meyer

Baeck überlebte das Ghetto Theresienstadt und emigrierte zu seiner Familie nach London. Er blieb bis zu seinem Tod 1956 eine der zentralen Figuren des liberalen Judentums.   

Baecks Wirken, aber auch die Tatsache, dass die Fortführung der Tradition der „Wissenschaft vom Judentum“ nach dem Holocaust vor allem außerhalb Deutschlands stattfand, machen seine Person zu einem guten Ausgangspunkt für einen Blick auf die internationale Dimension des Holocaust. In den kommenden Episoden werden wir uns den Reaktionen auf die deutsche Mordpolitik in Belgien und Polen widmen.

Autor:

Dr. Jakob Müller

Abteilung Bildung und Forschung / wissenschaftlicher Mitarbeiter

(030) 2179986-26

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