Kujaus Hitler und die Wannsee-Konferenz

Der „Stern“ kündigte 1983 an, im Besitz von Hitlers Tagebüchern zu sein. Der Chefredakteur schrieb dazu im Editorial: „Die Geschichte des Dritten Reiches muss teilweise umgeschrieben werden.“ Was damit eigentlich gemeint ist, hat jetzt der NDR herausgefunden, der den Original-Text der gefälschten Tagebücher online gestellt hat. Auch die Wannsee-Konferenz spielt darin eine kuriose Rolle.

In diesem Jahr ist es 40 Jahre her, dass das Magazin „Stern“ auf den Fälscher Konrad Kujau hereinfiel und den sensationellen Fund von Hitler-Tagebüchern ankündigte. Als nach wenigen Tagen klar war, dass die Zeitungsmacher einem Betrüger aufgesessen waren, verschwanden die 60 Bände mit dem Monogramm FH auf dem Titel in den Tiefen des „Stern“-Archivs. 2013 kündigte der Verlag Gruner + Jahr an, die Tagebücher an das Bundesarchiv zu geben – tat dies aber nicht. Erst die Veröffentlichung des NDR in diesem Jahr haben tatsächlich zu einer Übergabe geführt. Und Interessierte können sich online selbst ein Bild machen von dem Hitler, den Kujau und seine Helfer der deutschen Öffentlichkeit präsentieren wollten.

Der Politologe Hajo Funke und die Historikerin Heike Görtemaker, die vom NDR als Expert*innen gebeten wurden, sich den erstmals vollständig erschlossenen Text anzuschauen, erkannten sofort die Geschichtsfälschung, Verharmlosung und Holocaust-Leugnung, die Kujau durch die Tagebücher in die Welt setzen wollte. Über einen politischen Hintergrund dieser Tat war in den vergangenen vier Jahrzehnten allerdings nie gesprochen worden: In der Berichterstattung über den Fall dominierte das Bild eines gewitzten Betrügers, der vor allem Geld verdienen wollte und geschickt die Gier des „Stern“-Redakteurs Heidemann ausgenutzt und ihm immer mehr Kladden verkauft hatte. Kujau wurde wegen Betrugs und Urkundenfälschung zu vier Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt, nach drei Jahren entlassen und war danach ein gern gesehener und unterhaltsamer Gast in verschiedenen TV-Formaten. Er lebte vom Verkauf seiner Fälschungen und starb im Jahr 2000.

In den neuesten Recherchen heißt es nun, Kujau habe sich selbst damals wiederholt als Neonazi bezeichnet: „In seiner Stammkneipe soll er regelmäßig den Hitlergruß gezeigt haben und gelegentlich in SS-Kluft erschienen sein. Bei seiner Verhaftung 1983 trug Kujau einen SS-Ring, in den eine Imitation von Himmlers Unterschrift eingraviert war.“ (https://www.ndr.de/geschichte/tagebuecher/Holocaust-Leugnung-Die-Wahrheit-hinter-den-Hitler-Tagebuechern,hitlertagebuecher114.html) Beim Verfassen der Tagebücher habe ihm mindestens Lothar Zaulich geholfen, Pressesprecher der nationalsozialistischen Partei ANS/NA – ein Rechtsextremist. Möglicherweise waren weitere Parteimitglieder involviert.

Wie die Beiden die Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942 darstellten, wird auch von Funke und Görtemaker als Beispiel für die Verharmlosung angeführt: Kujau tut nicht nur so, als würde Hitler gespannt das Ergebnis dieser Konferenz erwarten – was absurd ist angesichts einer Staatssekretärs-Besprechung, die sich mit organisatorischen Fragen beschäftigen sollte. Er macht auch deutlich, dass „sein“ Hitler von den bereits laufenden Mordaktionen nichts mitbekommen hat, denn „er“ hofft noch auf einen „Platz im Osten“, wo die Jüdinnen und Juden Europas sich „selbst ernähren können“. Im Wortlaut heißt es im Eintrag vom 20. Januar 1942:

20.
Morgenlage
Feldmarschall v. Bock bei mir. Brauche ihm. Erwarte die Meldungen der Konferenz über die Judenfrage. Wir müssen unbedingt einen Platz im Osten finden, wo sich diese Juden selbst ernähren können. Ich habe von den Teilnehmern der Kroferenz [sic] eine schnelle Lösung verlangt. Es muß doch im Osten einen Flecken geben, wo man diese Juden unterbringen kann. Der Judenrat ruft die Juden auf gegen uns zu kämpfen und im Reiche zu Sabotageakten, aber haben oder versorgen will sie keiner.

Der nächste Eintrag ist datiert auf den 28. Januar 1942. Hier finden sich fast wortgleiche Versatzstücke aus dem Wannsee-Protokoll, die Kujau allerdings in einen ganz anderen Kontext stellt. Zunächst äußert „sein“ Hitler Unmut darüber, dass Heydrich als Folge der Konferenz „allein für die Judenfrage verantwortlich“ sein soll – mit diesem Anspruch eröffnete Heydrich ja laut Protokoll die Besprechung. Er will, dass die Verantwortung bei Himmler bleibt und beschreibt seine Vorstellung so: „Die Juden kommen im Osten in geeigenter [sic] Weise zum Arbeitseinsatz.“ Im Protokoll heißt es, nur geringfügig abweichend: „Unter entsprechender Leitung sollen nun im Zuge der Endlösung die Juden in geeigneter Weise im Osten zum Arbeitseinsatz kommen.“

Auf Seite 6 des Protokolls listete Eichmann die extra für diese Besprechung eingeholten Zahlen über die jüdische Bevölkerung in den verschiedenen europäischen Ländern auf und summierte diese auf über 11 Millionen. Kujau schreibt: „Himmler muß sich bewußt sein, im europäischen Raum kommen über 10 Millionen Juden in Betracht.“ – man könnte den Eindruck gewinnen, er wollte mit diesen kleinen Veränderungen das Abschreiben der Quelle verschleiern.

Das von Eichmann verfasste Wannsee-Protokoll ist kein Wort-Protokoll, die Beiträge der Teilnehmer werden nur ihrem Inhalt nach wiedergegeben. Auf Seite 14/15 heißt es da:

„Staatssekretär Dr. B ü h l e r stellte fest, daß das Generalgouvernement es begrüßen würde, wenn mit der Endlösung dieser Frage im Generalgouvernement begonnen würde, […] Juden müßten so schnell wie möglich aus dem Gebiet des Generalgouvernements entfernt werden, weil gerade hier der Jude als Seuchenträger eine eminente Gefahr bedeutet und er zum anderen durch fortgesetzten Schleichhandel die wirtschaftliche Struktur des Landes dauernd in Unordnung bringt.“

Kujau schreibt: „Dr. Bühler will die Juden so schnell wie möglich aus dem Generalgouvernement entfernt wissen. Er meint sie werden dort zur Seuchengefahr. Es muß sofort untersucht werden ob das simmt [sic], wenn ja, muß sofort mit der Verschickung der dortigen Juden begonnen werden. Sollten schon Seuchen ausgebrochen sein, müssen diese mit allen Mitteln bekämpft werden.
Auch mit dem Schleichhandel soll es in den Judengebieten schlimm aussehen. Dr. Bühler meint, dieser Schleichhandel bringt die ganze wirtschaftliche Situation in Unordnung.“

Aus dem Protokollsatz: „Von den in Frage kommenden etwa 2 1/2 Millionen Juden sei überdies die Mehrzahl der Fälle arbeitsunfähig“, der ebenfalls Bühler zugeordnet ist, macht Kujau eine Erkenntnis von Hitler selbst: „Meinen Berechnungen nach sind es etwas über 2 Millionen arbeitsunfähiger Juden, diese aber können leicht von den arbeitsfähigen Juden mit ernährt werden.“

Auch der in unseren Führungen und Seminaren viel besprochene Absatz von Seite 7/8, in dem die Mordabsicht besonders deutlich wird, findet Eingang in „Hitlers“ Tagebuch. Im Original heißt es da:

„Unter entsprechender Leitung sollen nun im Zuge der Endlösung die Juden in geeigneter Weise im Osten zum Arbeitseinsatz kommen. In großen Arbeitskolonnen, unter Trennung der Geschlechter, werden die arbeitsfähigen Juden straßenbauend in diese Gebiete geführt, wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird.

Der allfällig endlich verbleibende Restbestand wird, da es sich bei diesem zweifellos um den widerstandsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden müssen, da dieser, eine natürliche Auslese darstellend, bei Freilassung als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaues anzusprechen ist. (Siehe die Erfahrung der Geschichte.)“

 

Kujau veränderte nur wenige Worte – und schon konnte von Mord nicht mehr die Rede sein:

„Die Arbeitskolonnen müssen groß gehalten werden, da der Jude in kleinen Gruppen gefährlich ist. Sehr wichtig ist es, daß die Geschlechter über Kilometer getrennt werden und auch getrennt bleiben. Wen [sic] dan [sic] die normale Verminderung eintritt, werden wir es schaffen, Europa judenfrei zu machen. Nun wird es eine Zeit lang dauern, da es auch wiederstandsfähige [sic] Juden giebt [sic] und diese als natürliche Auslese gelten werden. Ich rechne bis ins Jahr 1965 werden wir es in Europa geschafft haben.
Sollten aber einige der durch natürliche Auslese erhalten gebliebenen Juden freikommen, werden diese, wie die Geschichte schon einige male [sic] gezeigt hat, die Keimzelle des jüdischen Neuaufbaus. Es muß daher ein Gebiet sein, daß wir sehr gut kontrollieren können und kein Jude dieses Gebiet verlassen kann.“

Wir haben es also tatsächlich mit dem Versuch einer dramatischen Geschichtsfälschung zu tun: ein Hitler, der von dem Mord an den europäischen Jüdinnen und Juden nichts wusste – und ihn auch nicht wollte.

Von Dr. Ruth Preusse

 

Kommentierte Printausgabe (Bild oben): Die echten falschen »Hitler-Tagebücher«, hg. und mit einem Vorwort von John Goetz sowie einer Einleitung von Heike B. Görtemaker und einer historisch-politischen Einordnung von Hajo Funke, Berlin 2023