Pädagogische Standards und kuratorische Regeln. Zur Synthese grundlegender Parameter der neuen Dauerausstellung

von Elke Gryglewski

Auszug aus: Elke Gryglewski/Hans-Christian Jasch/David Zolldan (Hrsg.): Design für Alle. Standard? Experiment? Notwendigkeit? Das Making of zur 3. Dauerausstellung. Berlin: Metropol, 2021. S. 29-39.

© GHWK Berlin
Buch „Du bist sofort im Bilde“

Die Gedenk- und Bildungsstätte ist eine der wenigen sogenannten großen Gedenkstätten, die über keine getrennten Forschungs- und Bildungsabteilungen verfügen bzw. bei denen diese immer miteinander verwoben waren. Seit der Gründung 1992 war es der Bildungsbereich, der für seine Seminare mit den unterschiedlichsten Partner*innen und Zielgruppen die dafür benötigten Quellen in den Archiven recherchierte und für die Vermittlung aufbereitete. Forschung war immer mit Bildung verknüpft und wurde vor allem mit dem Ziel betrieben, einen relevanten Beitrag zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zu leisten. Vor diesem Hintergrund überrascht nicht, dass sich die inhaltliche Positionierung der Gedenkstätte national und international aus der Bildungsarbeit ableitet und definiert und die Abteilung sich bei zentralen Fragen zu Standards der Gedenkstättenpädagogik auch in den Prozess der Erarbeitung der neuen Dauerausstellung einbrachte.

Historische Schwerpunktsetzung des Ausstellungsnarratives

Worauf soll der Schwerpunkt einer Ausstellung gelegt werden, die mit dem Anspruch erarbeitet wird, für das Publikum die Kernthemen des Hauses rezipierbar zu machen und dabei deutlich weniger Inhalt anzubieten? Diese Frage stellte die erste große Herausforderung bei der Erarbeitung des Ausstellungsnarratives dar. Während aus kuratorischer Sicht die sogenannte Wannsee-Konferenz für den systematischen Massenmord steht und dieser mitsamt seiner

Nachkriegsgeschichte vertieft präsentiert werden sollte, ist aus pädagogischer Sicht der Weg hin zur Besprechung am 20. Januar 1942 der relevante zu erzählende Themenkomplex. Einerseits weil es dabei für die Besucher*innen einfacher ist, die Komplexität der Entscheidung zum systematischen Massenmord nachzuvollziehen und der vielfach mitgebrachten Vorstellung einer Besprechung mit Beschlusscharakter etwas entgegenzusetzen. Andererseits können durch die Thematisierung vorangegangener Verfolgungsmaßnahmen, wie dem Prozess der Ausgrenzung durch die Markierung als Andere, durch Enteignung, gewaltsame Verschleppung und Konzentration, angemessene Wertmaßstäbe (wieder) hergestellt werden. Angesichts des systematischen Massenmords drohen vorangegangene Maßnahmen zu verblassen, weniger »schlimm« zu sein. Bei Lernprozessen ist es wichtig zu verdeutlichen, dass schon die Verdrängung aus dem öffentlichen Leben nicht hinnehmbar sein dürfte. Hinzu kommt die wichtige Erkenntnis, wohin vermeintlich geringfügige politische Entscheidungen langfristig führen können. Gedenkstätten sind die Orte, an denen Besucher*innen sich fundiertes Wissen aneignen können, sodass aus Sicht der Bildungsabteilung das Verhältnis mindestens zwei Drittel Geschichte des NS und ein Drittel die Darstellung der Nachgeschichte ausmachen sollte. Der nach langen Erörterungen erreichte Kompromiss führte zu einem möglicherweise unüblichen Ausstellungsnarrativ, das ein Angebot für Einzelbesucher*innen und eines für betreute Gruppen enthält. Während Einzelgäste in der Regel den mit Raum 0 beginnenden chronologischen Rundgang für ihren Besuch wählen, starten die Führungen für Gruppen vielfach im zweiten Teil der Ausstellung und arbeiten mit sogenannten Flextafeln in Raum 6, um ausführlich die Stufen der Verfolgung von 1933 bis 1939 zu besprechen.

Umgang mit Objekten

Zahlreiche Besucher*innen fragen nach dem Mobiliar des Gästehauses, manche wünschen sich eine Rekonstruktion der Besprechungssituation. Dieser Forderung entgegnen wir regelmäßig, dass die Besprechungssituation nicht bekannt ist, die wenigen verbliebenen Möbel des Gästehauses vermutlich nach dem Krieg entwendet wurden und eine kritisch-reflexive historische Bildung offensiv mit dieser Leere umgehen muss. Zur Verfügung stehende Objekte sind das Gebäude selbst und das Ergebnisprotokoll der Besprechung. Die Ambivalenz der Einbettung dieser Objekte in die Verfolgungsgeschichte der Jüdinnen und Juden Europas, die weitab vom idyllischen Wannsee umgesetzt wurde, gehört zum pädagogischen Alltag der Mitarbeiter*innen und hat im Verlauf der Jahre zu dem – oft unausgesprochenen – Konsens geführt, in den Ausstellungen keine dreidimensionalen Objekte zu präsentieren.

Als Objekte finden sich in der neuen Ausstellung nun zum einen Bücher und zum anderen faksimilierte Dokumente. Bei den präsentierten Büchern handelt es sich, bis auf die im Raum zur Geschichte des Hauses, um NS-Literatur. Dies führt im Hinblick auf die Frage der Multiperspektivität zu einer besonderen Herausforderung. Die grafisch detailliert gestalteten »Rückführungen« Deutschstämmiger aus dem Osten im Lexikon von Konrad Meyer zieht ebenso die Aufmerksamkeit auf sich wie die grafische Erklärung der Nürnberger Rassengesetze in Max Eichlers »Du bist sofort im Bilde«.

Damit wird den Besucher*innen angeboten, vertieft in die Perspektive und Logik der Täter einzusteigen – was an diesem spezifischen Ort sinnvoll ist. Erst das punktuelle Sich-Einlassen auf die Denkweise der Täter und Mitläufer ermöglicht zu begreifen, dass deren Handeln nicht unerklärbar ist. Gleichzeitig diskutieren wir seit Jahren, an welchem Punkt und wie unsere Adressat*innen wieder aus der Logik entlassen werden können bzw. wie diese Logik gebrochen werden kann und muss. Reichen dazu die präsentierten Fotos von Erschießungen der polnischen Zivilbevölkerung in Leszno und die Schilderungen einer Jüdin aus Włocławek?

Bei der zweiten Kategorie präsentierter Objekte handelt es sich um Dokumente, die durch die hervorragende Qualität der Faksimiles und die Art der Präsentation eine eigenständige Aura entwickeln können. Dies wird insbesondere bei Quellen deutlich, die durch ihre Gestaltung oder die Autorenschaft eine besondere Wirkung entfalten. So wirkt der Kommentar zu den Nürnberger Rassengesetzen eher unscheinbar und wird neben dem o.g. ausgestellten Buch oft nicht wahrgenommen. Ein Schmuckblatt von 1940 mit der sogenannten Prophezeiung Hitlers hingegen entfaltet durch seine Beleuchtung eine besondere Anziehungskraft, sodass wir uns fragen müssen, ob wir damit nicht eine von vielen Gästen geteilte »Hitlerisierung« verstärken. Dies ist kontraproduktiv angesichts des Bemühens, den Besucher*innen zu verdeutlichen, dass das System des Massenmords nicht ohne die bereitwillige Beteiligung aller sonst in der Ausstellung vorgestellten Berufsgruppen, Institutionen und weiter Teile der Gesellschaft möglich gewesen wäre.

Multiperspektivität

Das Dilemma, zwischen der Notwendigkeit, durch fokussierte Präsentation zur Auseinandersetzung mit der Täterperspektive anzuregen, und dem Anspruch, Geschichte multiperspektivisch zu erzählen, begleitete die Entwicklung der neuen Ausstellung kontinuierlich. Genügen 13 biografische Annäherungen durch Audiostationen, um an einem sogenannten Täterort die Perspektive der Verfolgten hinreichend einzubringen? Oder reduzieren die zu hörenden Berichte die Verfolgten zu Statisten, die »lediglich« die von den Täter*innen erdachten, organisierten und durchgeführten Verbrechen erleiden? Demgegenüber wünschten sich andere Kolleg*innen mehr Beispiele wie die Erzählung zum sogenannten Aprilboykott, bei dem Richard Stern als jüdischer Eigentümer eines Geschäfts, das von den Terrormaßnahmen der SA betroffen war, eine aktive Rolle des Protests einnimmt. Hätte man beispielsweise an der einen oder anderen Stelle ein Faksimile von Victor Klemperers Tagebuchaufzeichnung zu dem spezifischen Ereignis ergänzen sollen? Dass uns diese Diskussion auch nach der Eröffnung begleitet, zeigt sich in der nach der Eröffnung getroffenen Entscheidung, einen Screen zum Thema Beweissicherung mit illegal angefertigten Fotos des Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau und des Oneg-Shabbat-Archivs zu ergänzen.

Darstellung von Gewalt

Die Erfahrungen mit der ersten Dauerausstellung im Haus und mit Ausstellungen in anderen Gedenkstätten zeigten, dass Gewaltdarstellungen nicht geeignet sind, Empathie beim Publikum hervorzurufen. Jugendliche reagierten verunsichert, was sich in Kichern äußern kann, Erwachsene waren oft emotional überwältigt oder betroffen, dass diese – die Opfer immer wieder aufs Neue durch die Blicke der Gäste entwürdigenden – Fotos überhaupt ausgestellt wurden.

Das schwarz-weiß Foto zeigt Frauen und Kinder vor ihrer Erschießung. Sie schauen aus quadratischen Fenstern mit Holzrahmen. Das Foto wurde 1941 in Swiahel in der Westukraine aufgenommen.
© Foto: Privat
Foto, das auf einer Tafel in der 2. Dauerausstellung abgebildet war. Es gab den Hinweis, es handele sich um ein von einem Wehrmachtssoldaten aufgenommenes Foto, der nach dem Krieg folgende Notiz auf der Rückseite ergänzte: "Sie warten auf ihren Tod. Jüdische, polnische u. ukrainische Frauen u. Kinder (vom Säugling bis zur Greisin) sind in einem Gewächshaus eingesperrt, weil die ausgeworfenen Gruben für die vielen Erschießungen nicht ausreichten. Sie kamen am andern Tag dran."

Und so wurde in der zweiten Dauerausstellung gänzlich auf diese expliziten Darstellungen von Brutalität verzichtet. Gewählt wurden Abbildungen, die in ihrer Subtilität sehr berühren konnten.

Allerdings genügten schnelle, oberflächliche Besichtigungen der Ausstellung nicht, um diese Quellen wahrnehmen zu können. Und so galt für viele Besucher*innen: Angesichts der über die sozialen Medien und das Fernsehen konsumierbaren Fotos und Filme gegenwärtiger Gewalttaten scheint die NS-Vergangenheit im Vergleich weniger bildgewaltig und damit weniger schlimm. So bestand Einigkeit im Team, dass die neue Ausstellung nicht auf Gewaltdarstellungen würde verzichten können. Wo aber sind die Grenzen dessen, was man als Beweis braucht, zu der (erneuten) Verletzung der Würde der Betroffenen? Werden die Verfolgten in ihrer Würde eher verletzt, wenn wir mit Fotos dokumentieren, die sie nach der Erschießung auf dem Boden liegend zeigen? Oder eher, wenn wir ein anderes Foto aus der gleichen Serie nehmen, auf dem sie mit erhobenen Händen zur Erschießung gebracht werden, also eines, das die Gewalt subtiler präsentiert?

Es waren schwierige Diskussionen, die verdeutlichten, dass die Wahrnehmung eines Gewaltverbrechens im Nationalsozialismus – und vermutlich auch aus anderen Kontexten – individuell und nicht verallgemeinerbar ist. Auch in dieser Situation war der Blick des wissenschaftlichen Beirats ein wichtiges Korrektiv. Beiratsmitglieder, deren Familienangehörige zu den Verfolgten und Ermordeten gehört hatten, baten noch vor Ausstellungseröffnung, drei Fotos aus Screens zu entfernen.

Die entstandene Ausstellung hat an vielen Stellen sinnvolle Kompromisse zu den genannten Herausforderungen gefunden, die uns auch in Zukunft weiter beschäftigen werden. Die gewählte Gestaltung einschließlich der großzügig angelegten technischen Möglichkeiten bieten eine gute Grundlage für die Weiterentwicklung und gegebenenfalls Ergänzung/Veränderung von Inhalten. Deswegen freuen wir uns über den weiteren Austausch mit Kolleg*innen zu den aufgeworfenen Fragen.