Buchvorstellung und Website-Präsentation
Ein Bericht von den Veranstaltungen im Haus der Wannsee-Konferenz am 25. November 2018.
Buchvorstellung „Abgereist, ohne Angabe der Adresse/parti, sans laisser d’adresse“ von Heinz Wewer
Am 25. November 2018 nahmen wir, Studierende des Masterstudiengangs Public History an der FU, in der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz an der Buchvorstellung „Abgereist, ohne Angabe der Adresse/parti, sans laisser d’adresse“ von Heinz Wewer teil. Eike Stegen, Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Gedenk- und Bildungsstätte, eröffnete die Veranstaltung und verdeutlichte zunächst die Verbindung zwischen Wewers Forschungsmethode - der Betrachtung postalischer Zeugnisse - und dem Veranstaltungsort. Zum einen nutzt auch die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz Postkarten und Briefe in verschiedenen Ausstellungsräumen, zum anderen erfolgte auch die Einladung zur Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 auf postalischem Weg. Die Bedeutung von Erlässen und Gesetzen kann anhand von Briefen und Postkarten auf einer persönlichen und alltagsbezogenen Ebene gezeigt werden.
Heinz Wewer erklärte die Methode der „Social Philately“ als Ansatz, bei dem Dokumente der postalischen Kommunikation in ihren historischen Kontext gesetzt und nach ihrer sozialgeschichtlichen Aussage hin untersucht werden. Einen großen Teil der postalischen Zeugnisse erhielt Wewer durch eine Anzeige, die er in der deutsch-jüdisch-amerikanischen Zeitung »Aufbau« schaltete. Anhand von ausgewählten historischen Zäsuren vollzieht Wewer den Antisemitismus und die nationalsozialistische Verfolgung der deutschen Juden und Jüdinnen auf Postkarten, Briefmarken, Poststempeln und Briefen nach. Dabei beginnt er in den 1890er Jahren, als viele deutsche Seebäder Postkarten mit antisemitischen Motiven und Gedichten verbreiteten und widmet sich dann halbamtlichen Stempeln zu Topoi wie der „Dolchstoßlegende“ und dem Mythos der „jüdischen Weltverschwörung“. Als infolge der sogenannten Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar 1933 das Postgeheimnis aufgehoben wurde, spiegelte sich das anfangs sogar in offiziellen Aufklebern wider, die über die vorgenommene Zensur informierten.
Auf anderen postalischen Dokumenten zeigt Wewer die Emigration großer Teile der deutschen Intellektuellen, die vor allem nach Prag, Paris und Südfrankreich flohen. So zum Beispiel eine Postkarte, die Thomas Mann an seinen Bruder Heinrich verfasste. Über amtliche Briefe erfuhren nicht regimekonforme Beamte, Professoren, Anwälte und Ärzte von ihrer Entlassung. Als jüdisch geltende Menschen mussten die Vornamen Sara beziehungsweise Israel annehmen, was sich nun auch in ihrer Post niederschlug. Die zunehmende Ausgrenzung von Juden und Jüdinnen zeigt Wewer anhand von Stempeln wie „Arisches Unternehmen“ oder solchen, die über die ursprünglichen Namen von Kaufhäusern und Geschäften gedrückt wurden. Besonders berührten uns die Briefe und Karten im Zusammenhang mit Deportationen von Menschen, die von ihren Verwandten und Freunden Abschied nehmen mussten und in eine unbekannte, bedrohliche Zukunft in Arbeits- und Vernichtungslager geschickt wurden. Heinz Wewer nannte abschließend die Möglichkeit, Opfern Namen und Biografien zurückzugeben, die größte Stärke der Methode und der Arbeit mit postalischen Dokumenten.
Darauf erkundigte sich eine Stimme aus dem Publikum nach dem Umgang mit dem Briefgeheimnis der Verfasser und Verfasserinnen. Wewer erklärte, dass er, wenn möglich, mit dem Einverständnis der Nachkommen arbeite und generell keine Intimitäten aus den Dokumenten preisgibt. Eine weitere Frage war, inwieweit es interfamiliäre, verschlüsselte Andeutungen auf Postkarten und in Briefen bezüglich des Bewusstseins über die Zensur gab. Herr Wewer wies auf wiederkehrende Ausdrucksweisen wie „verreist“, „lange Reise“ oder einfach „weg“ hin, wenn über die Deportation von Bekannten berichtet wurde. Eike Stegen schloss die Buchvorstellung mit dem Fazit, dass die postalischen Dokumente eine globale Topographie und ein Netzwerk geographischer Bezugssetzungen ermöglichten, weil sie aus verschiedenen Ländern Europas, aus Australien, Palästina und den USA kämen. Ähnlich wie durch Stolpersteine vor unseren Haustüren helfen uns bekannte Adressen auf den Briefen und Postkarten zudem eine räumliche Vorstellung von der nationalsozialistischen Verfolgung und eine individuelle Verbindung zu den deportierten Jüdinnen und Juden herzustellen.
Digitale Foto-Ausstellung zum deutschen Überfall auf Polen 1939
Im Anschluss an die Präsentation wurde die „Digitale Foto-Ausstellung zum deutschen Überfall auf Polen 1939“ mit Fotos aus dem Bestand des ehemaligen Wehrmachtssoldaten Kurt Seeliger eröffnet. Svea Hammerle, wissenschaftliche Volontärin der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, präsentierte die von ihr kuratierte interaktive Online-Ausstellung, die in deutscher, englischer und polnischer Sprache zugänglich ist. Frau Hammerle führte kurz in die Biografie des Fotografen und Wehrmachtssoldaten Kurt Seeliger ein, der die Bilder als Mitglied der motorisierten Beobachtungs-Abteilung des 13. Infanterieregimentes während des deutschen Überfalls auf Polen im Herbst 1939 aufgenommen hatte. Auf den Fotografien sind sowohl der Alltag der Soldaten, durch den Krieg zerstörte polnische Ortschaften als auch Repressalien gegen die örtliche Zivilbevölkerung, der Zwangsarbeitseinsatz von Juden und Jüdinnen und die durch den Krieg ausgelösten Fluchtbewegungen zu sehen.
Da der Fotograf genaue Anmerkungen auf der Rückseite der Fotos hinterließ, ist eine relativ enge historische Einordnung der gezeigten Aufnahmen möglich. Die Kommentare sind in Sütterlin verfasst und wurden von Svea Hammerle für die Ausstellung transkribiert. Dies erzeugte reges Interesse im Publikum und es wurden sofort Versuche unternommen, die Sütterlin-Kommentare gemeinsam zu übersetzen. Außerdem wurden die Fotos geodatenreferenziert - das heißt, die geografischen Koordinaten der Aufnahmeorte wurden bestimmt. Hierfür hatte Frau Hammerle die historischen Bilder mit heutigen Ortsaufnahmen auf Google-Maps abgeglichen. Nun lassen sich die Fotos sowohl auf einer interaktiven Karte verorten, nach elf verschiedenen Themen sortiert anzeigen sowie in zusammenhängenden Bildsequenzen mit historischem Kontext auswählen.
Anschließend stellte sie unser gemeinsames, auf der Online-Ausstellung aufbauendes Projekt „Stumme Zeugnisse 1939 – Der deutsche Überfall auf Polen in Bildern und Dokumenten“ vor, das eine öffentliche Auseinandersetzung mit familienbiografischen Zeugnissen zum Zweiten Weltkrieg aus deutscher und polnischer Perspektive fördern will. Wir suchen nach Fotos, Briefen und Tagebüchern, die den deutschen Überfall auf Polen dokumentieren, um diese wichtigen Zeugnisse zu erforschen und der Öffentlichkeit zugänglich machen zu können. Als Frau Hammerle mit der Vorstellung der Online-Ausstellung und des Sammelaufrufs geschlossen hatte, gab es sofort Hinweise aus dem Publikum auf eigene Fotoalben, zudem wurde uns empfohlen, in Seniorinnen- und Seniorenheimen nachzufragen. Wir hoffen nun, dass viele Menschen unseren Sammelaufruf so engagiert unterstützen wollen.
Informationen: Hinweis
Der Sammelaufruf ist abgeschlossen. Die Online Ausstellung "Stumme Zeugnisse 1939" wurde am 1. September 2019 veröffentlicht.