Léon Poliakov: St. Petersburg – Berlin – Paris. Memoiren eines Davongekommenen. Eine Buchvorstellung

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Am Sonntag, 23. Juni 2019, 11 Uhr, stellen die Übersetzer der Memoiren von Léon Poliakov eben dieses Werk in der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz vor: Alexander Carstiuc und Jonas Empen, zusammen mit der Lektorin Janina Reichmann, kompetent moderiert von Dr. Katrin Stoll, die der deutsch-französischen Forschergruppe „Frühe Schreibweisen der Shoah. Wissens- und Textpraktiken von jüdischen Überlebenden in Europa 1942-1965 (PREMEC)“ angehört.

Bücher Léon Poliakovs aus unserer Joseph Wulf Mediothek. Wulf und Poliakov, beide Überlebende und frühe Holocaustforscher, geben in den 50er Jahren drei Bände gemeinsam heraus.

Genau das ist Léon Poliakov: ein jüdischer Überlebender, der früh über den Holocaust schreibt. 1946 verfasst er einen Bericht über sein Überleben im besetzten Frankreich und über seine Aktionen in einem Netzwerk jüdischer Widerstandskämpfer*innen, das vielen Verfolgten das Leben rettet. Der Bericht bildet den Hauptteil seiner Erinnerungen, von ihm und den Editor*innen nur durch Fußnoten ergänzt. 1981 schreibt er für die französische Ausgabe seiner Memoiren sozusagen ein Vor- und ein Nachwort.

So entstehen drei Teile: „Kindheit und Jugend“, „Die Musikantenwirtschaft“ (über die Besatzungszeit) und „Neue Lehrzeit und Reife“. Eingebettet werden diese drei Teile in ihrer gerade erschienenen deutschen Übersetzung (Edition Tiamat im Klaus Bittermann Verlag) nun wiederum in Vorwort und Nachwort. Die französische Shoah-Historikerin Annette Wieviorka, selbst Kind von Holocaustüberlebenden, bietet im Vorwort, der Historiker und Mitübersetzer Alexander Carstiuc bietet im Nachwort wichtiges Kontextwissen. Darüber hinaus setzen die Editor*innen Erklärungen und weiterführende Literaturhinweise in allen drei Teilen in die Fußnoten – wohl dosiert, den Lesefluss sehr sinnvoll ergänzend.

Das Lesen fließt tatsächlich: Die Erinnerungen Poliakovs sind auf verblüffende Weise unbeschwert, ja komisch zu lesen. Die Geschichte(n) um Rabbi Schneerson (auch Schneersohn) zum Beispiel: In Nizza droht der jüdischen Gemeinschaft (viele sind Geflüchtete) nach Abzug der Italiener und Übernahme durch die Deutschen Deportation und Mord. Poliakov unterstützt dort die orthodoxe Gemeinschaft des Rabbiners Salman Schneerson. Sein Cousin Isaac wird später das für die Shoah-Geschichtsschreibung so bedeutende „Centre de Documentation Juive Contemporaine“ (CDJC), das Dokumentationszentrum für jüdische Zeitgeschichte, gründen, dessen wichtigster Gründungswissenschaftler Poliakov werden wird.

Schneerson will Nizza nicht verlassen. Er braucht für seine Gemeinschaft neue Lebensmittelmarken. Ein „Generaldirektor für Verpflegung“ verweist Poliakov und sein Netzwerk an eine „Abteilung für die Gemeinschaften“. Sie sprechen dort vor, und nach dem Namen der Gemeinschaft gefragt, für die sie die Marken bräuchten, sagen sie: „Gemeinschaft der versteckten Juden von Nizza!“ Poliakov schreibt: „Das beste daran war, dass diese Abteilung von da an jeden Monat automatisch die Karten erneuerte […], allen Ernstes auf den Namen ‚Gemeinschaft der Heiligen Maria‘.“

Schneerson besteht darauf, zum Neujahrsfest Schofar zu blasen, das Widderhorn. Der Lärm würde das Versteck verraten. „Ich versuchte mich auf Pikuach Nefesch zu berufen und argumentierte, dass es sich ja um eine Frage von Leben und Tod handele, doch der Rabbiner ignorierte meine Theologie.“ Bahngleise führen direkt an der Wohnung vorbei. „Ein kurzes Nachschlagen in den Fahrplänen bestätigte, dass die Durchfahrt des Schnellzuges von Marseille mit dem Aufgehen des Abendsternes zusammenfiel. Die Lokomotive würde das Horn übertönen: Wir waren gerettet.“

Poliakov selbst betitelt die drei Kapitel über die Besatzungszeit als „Abenteuer“, er gibt den drei Kapiteln die gemeinsame Überschrift „Die Musikantenwirtschaft“, ein wichtiger, aber eben auch geselliger und familiärer Treffpunkt des Rettungs-Netzwerks. Poliakov schreibt, wie hier an Schneerson gezeigt, empathisch und freundschaftlich. Nicht der Schofar-Bläser ist der irrsinnige. Irrsinnig ist der deutsche Mörder, dem das religiöse Ritual nun pervers in die Hände spielen könnte. So ist der Lesefluss nur vermeintlich unbeschwert. Poliakov schreibt (auch) über Verrat, Misstrauen, Folter.

„Was mir damals keine Ruhe ließ“, schreibt Poliakov zu Beginn des dritten Teils seiner Memoiren, in dem er seinen Werdegang als Historiker und Gelehrter nach dem Krieg beschreibt, „das war das Geheimnis der Henker; das waren die Umstände, unter welchen die Führungsebene des Dritten Reiches beschlossen hatte, mich zu töten, ebenso wie Millionen andere menschliche Wesen, deren Besonderheit darin bestand, in dem einen Bett geboren zu sein und nicht in dem anderen.“

Als Leiter der Forschungsabteilung des gerade gegründeten CDJC, dem Dokumentationszentrum für jüdische Zeitgeschichte, macht er sich einen Namen („Vielleicht bin ich ein geborener Forscher“) und wird Mitglied im französischen Team beim Nürnberger Prozess. „Ruinenfelder so weit das Auge reichte […]“, schreibt er über Nürnberg, „Deutschland zur Stunde Null“. Aber dieses Stunde-Null-Stereotyp dekonstruiert er direkt im folgenden Satz: „Kinder, die um Zigaretten bettelten, und noch eine Begegnung: zwei junge Mädchen, die meinen Freund Joseph Billig und mich belästigten: ‚Ihr seid Juden, wir sehen es an eurem Blick.‘“

Es ist bedrückend, wie Poliakov auch für Frankreich feststellt, dass die Nachkriegsjahre „mit jenen der Besatzung eine viel stärkere Einheit bilden, als man sich das heute, am Ende des Jahrhunderts, gemeinhin vorstellt. […] Auschwitz hatte noch nicht sein symbolisches Gewicht, und Antisemitismus und Rassismus konnten noch weitgehend ungehindert zum Ausdruck kommen. Die Käufer jüdischen Eigentums schlossen sich mit Unschuldsmiene zur ‚Vereinigung der redlichen Erwerber‘ (Association d’acquéreurs de bonne foi) zusammen […].“

Léon Poliakov legt seine Widerstands-Identität als „Robert Paul“ ab. Er ist „überrascht von der Menge der Levys oder Kagans, die lieber Dupont oder Martin bleiben wollten, worin sie die damals um ‚Französisierung‘ bemühten Behörden bestärkten; mir selbst kam das aber nicht in den Sinn.“ Er wird damit konfrontiert, dass seine 1942 verfügte Ausweisung bestand hat. Eine Bescheinigung, die seine Zugehörigkeit zum Widerstand beglaubigt, legt er seinem Antrag auf Einbürgerung bei. Der Beamte rät ihm davon ab: „Die Bescheinigung ist ganz ausgezeichnet“, zitiert ihn Poliakov, „aber wer weiß … der Wind mag sich drehen.“ Trocken kommentiert Poliakov: „Mit fünfzig Jahren Abstand kann ich diesem guten Mann höchstens seinen berufsbedingten Pessimismus vorwerfen.“

Buchvorstellung in der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, v.l.n.r.: Alexander Carstiuc (Mitübersetzer), Janina Reichmann (Lektorin), Jonas Empen (Mitübersetzer), Dr. Katrin Stoll (Moderatorin)

Ein eigenes Kapitel widmet Poliakov seinem wichtigen frühen Holocaust-Werk „Brevier des Hasses“. Er leitet das Kapitel mit einer spannenden Frage ein: „Wie wird man ein ernstzunehmender Historiker?“ Und seine Antwort ist ganz bescheiden: durch das Sammeln und Veröffentlichen von Dokumenten. Beim CDJC sieht er darin einen Mangel, dass nur institutsintern für ein begrenztes Publikum ediert wird. Also wendet er sich an einen externen Verlag, um das Brevier erscheinen zu lassen, das in den 50er Jahren eine breite, auch internationale Rezeption erfährt.

Poliakov berichtet uns über die Reaktionen in Italien, Großbritannien, den USA, Neuseeland und Australien. Deutsche Reaktionen erwähnt er nicht. Das Brevier wird nämlich nicht übersetzt, obwohl Poliakov, wie Alexander Carstiuc im Nachwort berichtet, sich bittend an das Münchener Institut für Zeitgeschichte wendet. Wie gern hätten wir von Poliakov selbst erfahren, wie er den Kontakt ins Nachkriegs-Deutschland erlebt hat, also in ein Land, das Carstiuc im Nachwort als ein auf Restauration setzendes Wirtschaftswunder-Land charakterisiert, „dessen Historiker und Intellektuelle in Wagnerscher Diktion wahlweise von der ‚Deutschen Tragödie‘ oder einer ‚hereingebrochenen Katastrophe‘ schwadronierten.“

Aus dem Französischen von Jonas Empen, Jasper Stabenow und Alex Carstiuc. Critica Diabolis 266. Berlin 2019 (288 Seiten. 24,- Euro, ISBN 978-3-89320-243-0)

Sein gesamter Kontakt zu Joseph Wulf (dem Überlebenden, der in Deutschland von den so beschriebenen Historikern und Intellektuellen ausgegrenzt wurde), seine gesamte editorische Arbeit mit ihm in den 1950er Jahren auf Deutsch und für ein deutschsprachiges Publikum fehlt in den Memoiren aber leider komplett. „Trotz mancher Rivalitäten“, so schreibt Carstiuc im Nachwort, „waren Poliakov und Wulf zeitlebens befreundet und unterstützten sich gegenseitig so gut es ging, ein reger humorvoller Briefverkehr legt davon Zeugnis ab.“

Während Joseph Wulf, heute als Namensgeber der Mediothek im Haus der Wannsee-Konferenz geehrt, in Deutschland marginalisiert wird und daran verzweifelt, hat Poliakov in Frankreich Erfolg, seine Bücher sind bis heute als Standardwerke anerkannt. In seiner Rezension zu Poliakovs Memoiren hofft René Schlott in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 5. Juni 2019: „Vielleicht bringt sie ja einen größeren Verlag auf den Gedanken, die Übersetzung von Poliakovs Pionierarbeit ‚Bréviaire de la haine‘ in Angriff zu nehmen.“ In Frankreich wurde das Brevier zuletzt 2017 wieder gedruckt.

Aber selbstverständlich ist die Übersetzung der Memoiren nicht nur eine Erinnerung an die mangelnden deutschen Übersetzungen und der Verbreitung der Werke Poliakovs. Das Buch liefert wichtige, in Deutsch bislang nicht vorliegende Berichte eines Zeitzeugens des Völkermords und des Widerstands in Frankreich unter deutscher und italienischer Besatzung. Dazu sei abschließend noch einmal aus dem Nachwort von Alexander Carstiuc zitiert:

„Poliakovs Autobiographie ist ein Dokument der Résistance, die einzige deutschsprachig vorliegende Beschreibung der erfolgreichen Rettungsaktionen in Le Chambon-sur-Lignon, bei der tausende Juden auf dem protestantischen Hochplateau am Rande der Cevennen überlebten. Die großflächige und (gemessen an anderen Städten) sehr erfolgreiche Rettung von Juden aus Nizza ist in der deutschen Historiographie ebenfalls nur selten beschrieben worden. Vielleicht rührt dieses Schweigen daher, dass diese beiden Orte den Unterschied zwischen der deutschen und der französischen Bevölkerung sowohl in städtischen als auch ländlichen Regionen am eindringlichsten verdeutlichen. Einen derart aktiven Massenwiderstand gegen den Holocaust fand man hierzulande nie – weder in Städten und Dörfern.“