Der 52. Deutsche Historikertag in Münster zum Thema „Gespaltene Gesellschaften“

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Als wissenschaftliche Volontärin der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz hatte ich die Möglichkeit, vom 25. bis 28. September 2018 am 52. Deutschen Historikertag in Münster teilzunehmen. Die Tagung stand unter dem politisch aktuellen Motto „Gespaltene Gesellschaften“ und verknüpfte im Programm gekonnt historische und tagespolitische Themen.

Der Münster Dom
© GHWK
Der Münster Dom
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Studentisches Ausstellungsprojekt „Ich sehe was was du nicht siehst“

Die über 100 Fachsektionen widmeten sich Inhalten diverser Epochen und geschichtswissenschaftlicher Disziplinen. Zudem konnten die Tagungsbesucher an Festveranstaltungen, Exkursionen, den Mitgliederversammlungen des Verbands der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD) und des Verbands der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) sowie an vielen weiteren Begleit- und Sonderprogrammen teilnehmen. Am Anreisetag konnte ich bereits an einer Exkursion zum ehemaligen Kriegsgefangenenlager des Ersten Weltkriegs „Haus Spital“ und dessen Ehrenfriedhof teilnehmen, bei der Sabine Kittel (WWU Münster) die Ergebnisse des studentischen Ausstellungsprojekts „Ich sehe was, was du nicht siehst“ vorstellte. Bei einem dreistündigen Spaziergang durch die malerische nordrhein-westfälische Landschaft berichtete sie über die Geschichte des Kriegsgefangenenlagers, in dem 1914 bis 1918 bis zu 50.000 Soldaten der ehemaligen Feindmächte interniert waren.

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Wolfgang Schäubles Festrede zur Eröffnung des Historikertags

Am Abend wurde der Historikertag bei einer feierlichen Veranstaltung von Eva Schlotheuber, der Vorsitzenden des VHD, eröffnet. Sie betonte die Integrationskraft der Geschichtswissenschaften und warf die Frage auf, ob Historiker*innen die Plicht hätten, sich bei den aktuellen politischen Debatten öffentlich zu Wort zu melden – diese Frage wurde im Verlauf der Tagung eindeutig positiv beantwortet. Auch Wolfgang Schäuble, Präsident des Deutschen Bundestags, hielt bei der Eröffnungsfeier eine Festrede. Auch er stellte viele tagespolitische Bezüge her, betonte die Gegenwartsrelevanz der Geschichtswissenschaften und erinnerte daran, dass Historiker*innen besonders in Zeiten des Populismus und der Anzweiflung von Eliten eine wichtige Rolle zukomme. Die nächsten drei Veranstaltungstage waren gespickt mit interessanten Vorträgen und Podiumsdiskussionen, zu spezifischen historischen Einzelthemen ebenso wie zur generellen Rolle der Geschichtswissenschaften in gespaltenen Gesellschaften und im digitalen Wandel, von denen im Folgenden nur einige der von mir besuchten vorgestellt werden können.

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Gefahr für die Demokratie - Die neue Rechte in Deutschland

Großes Publikumsinteresse erregte die Sektion „Gefahr für die Demokratie? Die neue Rechte in Deutschland“, bei der Frank Bösch (ZZF Potsdam), Gideon Botsch (MMZ Potsdam), Ulrich Herbert (ALU Freiburg) und Axel Schildt (ehem. FZH Hamburg) über diese tagespolitische Frage diskutierten. Frank Bösch beantwortete sie mit einem eindeutigen „Ja“, während Ulrich Herbert vor Panikmache warnte und sein Vertrauen auf die große, selbstbewusste demokratische Mehrheit in Deutschland aussprach. Konsens bestand bei allen vier Diskussionsteilnehmern darin, dass es Aufgabe der Geschichtswissenschaften sei, die Traditionslinien der Erfolge rechter Parteien, deren Geschichtsbilder, interne Diskurse und Wählerschaften stärker in den Fokus zu nehmen, um diese Forschungslücke zu schließen.

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Die Komfortzone verlassen -Zur politischen Relevanz von Geschichtswissenschaft heute

Dies war auch die thematische Überleitung zur abendlichen Sonderveranstaltung „Die Komfortzone verlassen? Zur politischen Relevanz von Geschichtswissenschaft heute“, bei der Eva Schlotheuber ihre Auftaktfrage erneut aufgriff und mit der „Resolution des VHD zur gegenwärtigen Gefährdung der Demokratie“ beantwortete. Konsens herrschte bei allen Diskussionsteilnehmer*innen – darunter u.a. Norbert Frei (FSU Jena), Jan C. Behrends (ZZF Potsdam) und Barbara Stollberg-Rilinger (Wissenschaftskolleg zu Berlin) – und im Publikum darüber, dass eine undefinierte Beunruhigung über die momentanen Entwicklungen herrsche und es an der Zeit sei, dass Historiker*innen sich in die politischen Debatten – zum Beispiel zu Migration, Rassismus, Europa, Demokratie und Kapitalismus – mit ihren jeweiligen Expertisen öffentlich mehr einbringen sollten.

Über den Inhalt der Resolution wurde kontrovers diskutiert, bevor sie auf der Mitgliederversammlung des VHD am 27. September verabschiedet wurde. Die Resolution spricht sich aus für die Nutzung historisch sensibler Sprache und für eine pluralistische Streitkultur anstelle von Populismus, gegen Nationalismus und den politischen Missbrauch von Geschichte, für Humanität und gegen Diskriminierung von Migrant*innen.

Auch um die Themen Rassismus, Diskriminierung und Migrationsgesellschaft drehten sich viele der Panels. Bei „Was the Third Reich a ‚Racial State‘?“ wurde das 2017 erschienene Buch „Beyond the Racial State. Rethinking Nazi Germany” mit dessen Autoren Devin Pendas, Mark Roseman und Richard Wetzell diskutiert. Anschließend wurde unter Beteiligung von Michael Wildt (HU Berlin) und Stefanie Schüler-Springorum (ZfA Berlin) vor allem der semantische Unterschied zwischen „race“ und „Rasse“ herausgearbeitet, um dessen Implikationen für andere rassistische Regime und den Nationalsozialismus aufzuzeigen.

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Rassismus seit der ‚Stunde-Null‘ - Einwanderung und Differenz in Deutschland 1945-2018

Ein weiteres Mal widmete man sich dem Thema in der Sektion „Rassismus seit der ‚Stunde Null‘. Einwanderung und Differenz in Deutschland 1945-2018“, in der Norbert Frei (FSU Jena) Rassismus als den „blinden Fleck“ der zeitgeschichtlichen Forschung bezeichnete. Zunächst zeigte Maria Alexopoulou (UMA Mannheim) die lange Traditionslinie des frappierenden Rassismus in der bundesdeutschen Auseinandersetzung mit außereuropäischen Asylanwärter*innen auf. Anschließend kritisierte Manuela Bojadžijev (BIM Berlin), dass Rassismus in der deutschen Forschungslandschaft zu lange als Phänomen der Vergangenheit, als Problem der gesellschaftlichen Ränder oder anderer Länder angesehen wurde. Sie forderte die anwesenden Historiker*innen auf: „Forschen Sie dazu! Stellen Sie Anträge! Bewilligen Sie Anträge!“

Den Praxisbezug versuchte schließlich die Podiumsdiskussion „Nationalsozialismus und Holocaust in der Migrationsgesellschaft“ herzustellen, die von Michael Wildt und Andreas Wirsching (IfZ München) geleitet wurde. Gülay Gün (Museum der Arbeit Hamburg) und Lamya Kaddor (Religionspädagogin Duisburg) wurden als Vertreterinnen der Migrationsgesellschaft auf dem Podium vorgestellt, wogegen sich beide vehement wehrten und betonten, dass die gesamte deutsche Gesellschaft als Migrationsgesellschaft zu verstehen sei und nicht nur die Angehörigen der Minderheitengruppen. Hier zeigte sich schon zu Beginn das zum Teil divergierende Verständnis der Diskussionsteilnehmer*innen von gesellschaftlicher Inklusion. Verschiedene Zugänge zur Geschichtsvermittlung und politischen Bildungsarbeit wurden im Folgenden angeregt diskutiert: Sollten mehr universalisierbare Deutungsangebote der NS-Geschichte gegeben werden? Könnte über die europäische Kolonialgeschichte und ihre Themenfelder (u.a. Ausbeutung, Gewaltgeschichte, rassistische und genozidale Gewalt) der Holocaust zugänglicher vermittelt werden? Kann der biografische Zugang Anknüpfungspunkt für Jugendliche mit Migrationshintergrund sein? Sollten die Ausgrenzungsmechanismen von Antisemitismus und Islamfeindlichkeit in den Mittelpunkt gerückt werden? Kann oder sollte es überhaupt eine einheitliche Erinnerungskultur in einer pluralistischen Gesellschaft geben? Keine dieser Fragen konnten abschließend beantwortet werden – was aber keinesfalls zu Frustrationen führte, sondern das Publikum mit vielen neuen Denkanstößen aus der Diskussion entließ. 

Der 52. Deutschen Historikertag in Münster konnte vor allem aufzeigen, wie viel Gegenwart sich in der Geschichtswissenschaft und wie viel Geschichte sich in der Gegenwart wiederfindet. Er hat sicher nicht nur mir viele neue Anregungen, Eindrücke und vielleicht auch Forschungsfragen mit auf die Heimreise gegeben.