"Stumme Zeugnisse 1939" - Der Sammelaufruf ist erfolgreich abgeschlossen

  • Digitales
  • Veröffentlicht von:" Dario Treiber
  • Veröffentlicht in:" Berlin

Als wir, Studierende des Masterstudiengangs Public History an der FU Berlin, im Oktober 2018 mit der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz unseren Sammelaufruf starteten, sahen wir uns mit mehreren Unsicherheiten konfrontiert:  Würden sich überhaupt Menschen bei uns melden und uns Dokumente und Zeugnisse vom deutschen Überfall auf Polen 1939 zuschicken? Wie könnten wir sie erreichen? Was, wenn wir kaum Material bekämen? Wie gehen wir damit um, wenn wir zu viel Material bekommen würden?

Selbst aus Japan Erreichte uns Material für unsere Online-Ausstellung.

Jetzt, knapp ein halbes Jahr später, endet unser Sammelaufruf. Im nächsten Schritt werden wir alle eingegangenen Materialien digitalisieren, die historischen Hintergründe recherchieren, Texte schreiben und die Online-Ausstellung bis zum 1. September 2019 fertig stellen.

Wir sind beeindruckt, wie viele Menschen wir mit unserem Sammelaufruf erreichen konnten und welche Reichweite wir erzielten! Einige kamen mit ihren Unterlagen direkt in die Gedenk- und Bildungsstätte. Andere schickten uns eingescannte Fotos oder selbst transkribierte Tagebücher per Email. Die meisten schickten uns ihre Materialien auf dem Postweg. Vor ein paar Wochen erhielten wir sogar einen Umschlag aus Japan, der einen deutschen Briefwechsel aus dem Herbst 1939 enthielt. Wir haben ganz unterschiedliche Quellen erhalten: Fotoalben, Tagebücher und Briefwechsel, aber auch Tagebücher mit Bildern, Andenken oder getrockneten Blumen und sogar ein Fluglogbuch.

Beim Sichten der vielen spannenden Unterlagen wurde uns der Umfang unserer Arbeit erst richtig bewusst. Wir sind beeindruckt, wie viele Menschen uns ihre Familienerbstücke für das Projekt zur Verfügung gestellt haben. Wir bedanken uns für das Interesse und für das ins uns gesetzte Vertrauen! Wir werden mit den Materialien respektvoll umgehen und ihre Geschichten so gut wir können recherchieren. Der Erfolg des Sammelaufrufs zeigt, wie viele Quellen zur deutschen Geschichte noch in privatem Besitz sind: Geschichten, die noch unerzählt sind und aufgearbeitet werden können.

Einige der eingegangenen Materialien wollen wir hier kurz vorstellen:

Kriegstagebuch von Heinz G., cc by NC GHWK

Unter den Dokumenten, die uns zugeschickt wurden, befindet sich das Kriegstagebuch von Heinz G. (1920-2001), in dem er seine Erinnerungen an den Überfall auf Polen 1939 als Gefreiter der deutschen Wehrmacht schildert. Das Tagebuch basiert auf einem kleinen Notizheft, das er im Krieg mit sich führte und aus dem er später dieses Erinnerungsbuch mit Fotos für seine Eltern schuf. Es beginnt mit dem Abschiednehmen von seiner Familie Ende August 1939, schildert unter anderem das ewige Warten, den Hunger und die schwankende Stimmung unter den Soldaten. Das Schlachten eines Schweines wird ebenso auf einem Foto festgehalten wie brennende polnische Dörfer, die von der Wehrmacht zerstört wurden. Am 15. Oktober 1939 kehrte Heinz G. mit seiner Kompanie zurück ins Deutsche Reich.

Fotoalbum eines unbekannten Soldaten, cc by NC Münchener Stadtmuseum.

Ein sehr umfangreiches Fotoalbum erreichte uns aus dem Münchner Stadtmuseum. Leider ist der ursprüngliche Besitzer unbekannt. Auf ungefähr 50 Albumseiten finden sich beschriftete Fotografien zum deutschen Überfall auf Polen. Neben vielen Aufnahmen von deutschem Kriegsgerät und zerstörten polnischen Dörfern ist vor allem der Alltag der Soldaten abgebildet. Immer wieder gibt es Fotos vom Lagerfeuer, Essen, Haareschneiden und Zeltaufschlagen. Hier wird nachvollziehbar, weshalb manche deutschen Soldaten ihre Wahrnehmung des Krieges auf dessen abenteuerlichen Charakter reduzierten – die vielen polnischen Opfer wurden ausgeblendet oder zumindest nicht dargestellt.

Ziel des Projekts war es, den deutschen Überfall auf Polen aus privaten Dokumenten multiperspektivisch darzustellen. Wie nahmen Wehrmachtsangehörige das Kriegsgeschehen wahr? Was fotografierten und dokumentierten die polnischen Soldaten und die Zivilbevölkerung? Wie unterscheiden sich die beiden Erfahrungen? Es ist uns leider nicht gelungen, Dokumente und Zeugnisse vom Beginn des Zweiten Weltkriegs von polnischer Seite zu sammeln.

Das liegt zum einen daran, dass wir Schwierigkeiten hatten, in Polen auf unser Projekt aufmerksam zu machen. Zum anderen war es vermutlich eine größere Hürde, kostbare Familienerbstücke per Post in ein anderes Land und an eine deutsche Institution zu schicken. Auch historisch bedingt gibt es in Polen heute weniger Quellen aus dieser Zeit: Kameras waren zu Beginn des Zweiten Weltkrieges in Polen nicht so verbreitet und viele polnische Zeugnisse vom September 1939 wurden wahrscheinlich im Krieg zerstört. Das war zunächst eine Enttäuschung für uns, aber wir werden versuchen, Multiperspektivität durch die historische Kontextualisierung herzustellen und auf bereits existierende polnische Online-Archive mit ähnlichem Material zu verweisen.

Materialien des Sammelaufrufs.

Nun freuen wir uns auf die nächsten Arbeitsschritte: Zunächst müssen die unterschiedlichen Dokumente alle eingescannt werden. Zudem versuchen wir, so viel wie möglich über die Urheber der Fotos, Tagebücher, Logbücher und Briefwechsel herauszufinden und den historischen Kontext zu recherchieren. Da wir uns für eine Online-Ausstellung entschieden haben, muss der Aufbau der Website geklärt werden, bevor wir mit dem Schreiben der Ausstellungstexte beginnen können. Schließlich wollen wir alle Texte ins Englische und Polnische übersetzen lassen, um unsere Ergebnisse einem breiten Publikum zugänglich zu machen.

Wir bedanken uns bei allen, die uns unterstützt und unseren Sammelaufruf verbreitet haben und ganz besonders bei denjenigen, die uns ihre Dokumente zum deutschen Angriffskrieg gegen Polen 1939 zugeschickt haben.

Über das Projekt

Das Projekt "Stumme Zeugnisse 1939" wird in Kooperation mit dem Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, dem Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden und dem Münchner Stadtmuseum realisiert und durch die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ gefördert.