Erinnerungskultur – ein Beitrag zum 9. November

  • Erinnerungspolitische Bildungsarbeit
  • Veröffentlicht in:" Berlin

Es ist Ende September, ich gehe durch Moabit zu dem Haus, in dem ich meine Kindheit verbracht habe. Die Kastanien haben ihre Blätter bereits verloren und ein kühler Herbstwind, duftend nach Pizzeria, Blumenladen und Wäscherei, trägt die Wärme der letzten Sonnenstrahlen davon. Ich überquere die Straße und gehe an dem Mahnmal vorbei, das direkt neben dem Haus steht. Ein wuchtiger und düsterer Eisenbahnwaggon, dahinter eine zehn Meter hohe rostrote Stahlplatte, die in der Sonne leuchtet. Dahinter: ein Spielplatz.

Gemeinde und Ehrengäste beim Verlassen der Synagoge nach dem Einweihungsgottesdienst am 7. April 1914. Foto: Landesarchiv Berlin
Gemeinde und Ehrengäste beim Verlassen der Synagoge nach dem Einweihungsgottesdienst am 7. April 1914. Foto: Landesarchiv Berlin

Früher stand hier an diesem Ort eine Synagoge, eine der größten von ganz Berlin, welche die Nazis zunächst beschädigten und sich später aneigneten. Das nun entweihte Gebäude am Ende der Straße wurde genutzt, um Berlinerinnen und Berliner zu sammeln und zu Fuß durch Moabit zu treiben, vorbei an Geschäften, an Schulen, Wohnungen, Baustellen, Büchereien, belebten Straßenkreuzungen, über Brücken bis zu dem etwa drei Kilometer entfernten Bahnhof Westhafen; und dann raus aus der Stadt. Wohin? Das Mahnmal sagt:

  • 27. November 1941: unbekannte Anzahl Juden nach Riga
  • 28. Oktober 1942: 791 Juden nach „Osten“
  •  3. März 1943: 1732 Juden nach Auschwitz
  •  April 1945: 24 Juden nach Ravensbrück/Sachsenhausen

 

Deportationsmahnmal (1988) in der Levetzovstraße 7 in Berlin-Moabit. Foto: Miriam Guterland, CC BY-SA 3.0
Deportationsmahnmal (1988) in der Levetzovstraße 7 in Berlin-Moabit. Foto: Miriam Guterland, CC BY-SA 3.0

Jedes Jahr im November gehen die 9. Klassen aller Moabiter Oberschulen denselben Weg, mitten durch den Kiez, für alle sichtbar. Die Straßen werden zu diesem Anlass gesperrt und Lautsprecherwagen begleiten den Zug.

Nur noch ein paar Schritte und ich stehe vor der Haustür. Jemand hat zwei Gerbera auf die Stolpersteine vor unserem Haus gelegt, die hier vor etwa zehn Jahren auf Eigeninitiative verlegt wurden. Im zweiten Stock hatte ein jüdisches Ehepaar gewohnt, 1943 wurden sie zunächst enteignet, dann deportiert. In die Wohnung ist damals eine junge Familie mit zwei Töchtern eingezogen, die Jüngere wohnte dort bis zu ihrem Tod vor zehn Jahren. Meiner Mutter hat sie mal im Vertrauen erzählt, wie sie als Fünfjährige auf dem Fensterbrett gesessen und zugesehen hatte, wie ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger zusammengetrieben und weggeführt wurden. Das heißt, nur solange ihre Mutter sie nicht entdeckt hatte und sie wegscheuchte, um die Vorhänge vorzuziehen.

Der Rechtsanwalt Ben Ferencz meinte mal: „War makes murderers out of otherwise decent people. All wars, and all decent people.“ Er hatte bei den Prozessen von Nürnberg insgesamt 22 SS-Offiziere angeklagt. Sie alle waren Teil der sogenannten Einsatzgruppen und hatten die Funktion, nach der Eroberung eines Landstrichs durch die Wehrmacht alle Ortschaften nach Juden, nach Kommunisten, Sinti und Roma und anderem „lebensunwerten Leben“ zu durchkämmen. Diese Menschen wurden dann aus ihren Häusern und Verstecken getrieben, in einen Graben geprügelt und hingerichtet, einer nach der anderen. Je nach Anzahl der Menschen konnte sich dieser Prozess über mehrere Tage hinziehen. Bis zu eine Million Menschen wurden allein im Jahr 1941 auf diese Weise ermordet – auf Befehle hin. Ich denke daran und mir wird schlecht, wenn Andreas Gauland auf einer Wahlveranstaltung propagiert, dass die Deutschen ein Recht darauf haben, stolz auf die Leistungen deutscher Wehrmachtssoldaten zu sein. Oder wenn Bernd Höcke wiederholt seine Nutzung des Begriffes „Lebensraum“ in gesellschaftspolitischen Kontexten verteidigt.

Alle angeklagten Offiziere wurden damals verurteilt, vier von ihnen zum Tode.

Wenn ich heute auf dem Balkon meiner Eltern sitze höre ich Kinder spielen, Jugendliche auf dem Bolzplatz. Keine Gründe, sich hinter Gardinen zu verstecken, und ich bin dankbar. Dankbar, dass diese Stadt, dieses Land eine weitere Chance bekommen hat, es besser zu machen; und ich trauere um das Ehepaar aus meinem Haus und alle anderen, die aufgrund von Antisemitismus, Rassismus, Xenophobie, Homophobie oder anderen Gründen der Gelegenheit beraubt wurde, das mitzuerleben.

Ihr werdet nicht in Vergessenheit geraten.

„Beschädigt 1938“ – eine eher karge Information auf der 1985 gestalteten Gedenkplakette für die Synagoge Levetzowstraße. Foto: Peter Kuley, CC BY-SA 3.0.
„Beschädigt 1938“ – eine eher karge Information auf der 1985 gestalteten Gedenkplakette für die Synagoge Levetzowstraße.