„Erinnerungskulturen“ deutscher Funktionseliten - Hypothesen von Bernd Rüthers

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Prof. Bernd Rüthers bei seinem Vortrag an der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz am 14. Oktober 2018 „Erinnerungskulturen“ deutscher Funktionseliten.

Hypothesen von Bernd Rüthers

Das Wort Erinnerungskultur bezeichnet den Umgang des Einzelnen und der Gesellschaft mit ihrer Vergangenheit und ihrer Geschichte. Erinnerungskulturen sind die historisch und kulturell variablen Ausprägungen von Vergangenheiten im kollektivem (gruppenspezifischen) Gedächtnis. Der oft gebrauchte Singular „Erinnerungskultur“ verschleiert eine wichtige Tatsache: Die jeweilige Erinnerungskultur ist eine individuell und gruppen­spezifisch geprägte Erscheinung. Das „kollektive Gedächtnis“ ist eine oft „gespaltene Realität“. Ihre Inhalte werden von der sozialen Umgebung (Gruppe, Klasse, Beruf, Bildungs­schicht…) geprägt. Es gibt also oft zu denselben Ereignissen oder Erlebnissen mehrere, verschiedene, nicht selten gegen­sätzliche und konkurrierende „Erinnerungs­kulturen“.

Im Sommersemester 1950 begann ich in Münster / Westf. mit dem Studium. Dort habe ich 1958 als Jurist mit einer Arbeit über „Streik und Verfassung“ promoviert. Mit wachsender Verwun­derung merkte ich, daß während dieser acht Jahre im Rahmen meiner Juristenausbildung weder an der Universität (in Vorle­sungen und Seminaren) noch in der Referendarzeit (Arbeits­gemeinschaften und „Bildungswochen“) von der Rolle der deutschen Rechtswissenschaft und Justiz während des Nationalsozialismus je die Rede war. In der Ausbildung herrschte aus Gründen, die ich erst später durchschaute, ein konsequentes Schweigen zur NS-Zeit.

Das Erstaunen war auch biographisch bedingt. Meine Familie, mein Vater war Arbeiter bei der Hoesch AG, wohnte in Dortmund im Haus eines wohlhabenden jüdischen Kaufmanns (Louis Sternberg) in der Mansardenwohnung. Die Wohnung wurde mit seiner Familie in der Nacht des 9. November 1938 („Reichskristall­nacht“) von einer betrunkenen Horde von SA-Männern gestürmt. Er wurde mit seiner Familie (darunter meine gleichaltrige Freundin Ingrid, seine Tochter) aus dem Haus geprügelt. Die Wohnung in der Beletage wurde verwüstet, das Mobiliar mit großem Lärm durch die Fenster auf die Straße geworfen. Tags darauf, am 10. November beim Abend­essen, sagte mein Vater zu meinen Brüdern (Helmut 14 Jahre, Franz 13 Jahre) und mir (8 Jahre) einen unvergeßlichen Satz: „Ihr wißt jetzt, wir leben in einem Verbrecherstaat. Aber ihr dürft das niemals jemandem sagen.“

Mit diesem Satz im Kopf gingen wir drei fortan zur Schule und die folgenden Jahre in der Hitlerjugend und durchs Leben. Er wurde, ohne daß wir das wußten, die Grundlage einer „Doppelexistenz“, gerade während des Krieges. Mein Vater hörte abends, wenn wir im Bett waren, regelmäßig in unserem kleinen „Volksempfänger“ den Londoner Rundfunk. Das war damals mit der Todesstrafe bedroht. Die Einstellung zu den Epochen der beiden deutschen totalitären Diktaturen hängt aus meiner Sicht maßgeblich, aber nicht allein von der Frage ab, in welchem Elternhaus und in welchem sozialen Milieu der Einzelne jeweils aufgewachsen ist und sozialisiert wurde. Es macht einen entscheidenden Unterschied, ob jemand in eine regimekritische, religiös gebundene Familie hineingeboren wurde oder ob er – ein entgegengesetztes Beispiel – als Sohn eines Gestapochefs oder eines fanatischen nationalso­ziali­stischen Lehrers groß­wurde. Die Beispiele stammen aus dem Kollegenkreis.

Wer ein wahres Bild von totalitären Dikta­turen gewinnen will, muß diese Systeme mit den Augen ihrer Toten, ihrer Zuchthaus­gefangenen sowie ihrer Vertriebenen und Ausge­bürgerten sehen. Das gilt sowohl für des NS-Regime wie für das SED-Regime und vergleichbare Unrechtssysteme. Ihre Nutznießer und Funktions­eliten haben ein anderes Bild, ein Beispiel spezifischer „Erinne­rungskulturen“. Das gilt nicht nur für die Spitzenfunktionäre, sondern auch, bisweilen erst recht, für ihre beflissenen unteren Kompanien.

Bernd Rüthers: Entartetes Recht. Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich, München 1994.

Die Unwilligkeit, sich zu erinnern

In der Studentenzeit lernte ich: Für die deutsche Rechtswissenschaft und Justiz insgesamt ist die Erforschung ihrer Rolle im Dritten Reich kein Ruhmesblatt.  Die Neigung vieler deutscher Juristen in Wissenschaft und Praxis, sich mit ihrer Verstrickung in das staatliche Unrecht im Nationalsozialismus auseinanderzusetzen war nach dem Zusammenbruch 1945 gering. Das hatte plausible Gründe. Die Vertreibung ihrer jüdischen Kollegen nach dem verlogen betitelten „Gesetz zur Wieder­herstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 hatte vielen von ihnen den lang ersehnten Aufstieg ermöglicht. Die ersten Massentötungen vom 30. Juni 1934 waren allgemein bekannt. Die Blutschutzgesetzgebung von 1935 beseitigte die bis dahin geltenden Grundsätze der allgemeinen Recht­sfähigkeit und Staatsbürgerschaft im Sinne der NS-Rassenideologie. Die Pogrome nach dem 9. November 1938 mit der polizeilich geschützten Niederbrennung von Hunderten jüdischer Syna­gogen und der Verwüstung von Tausenden jüdischer Geschäfte und Wohnungen fand in aller Öffentlichkeit und ohne erkennbaren Widerstand der intellektuellen, kirchlichen und wissenschaftlichen Funktionseliten statt. Die massenhafte Deportation der jüdischen Bevölkerung 1941/1942 war nicht nur den Nachbarn bekannt, sondern in den deutschen Großstädten ein öffentliches Ereignis. Die gängige Behauptung nach 1945, „davon haben wir nicht gewußt“, war in der Regel die Verdrängung unangenehmer Erinnerungen an eigene Verstrickungen.

Personelle Kontinuitäten

Der Mangel an unbefangenen universitätsöffentlichen Erörte­rungen zur Geschichte von Jurisprudenz und Justiz in der NS-Zeit in der frühen Bundesrepublik hatte plausible Gründe. In den westdeutschen juristischen Fakultäten amtierten nach 1949 überwiegend Dozenten, die diesen Beruf bereits vor 1945 ausgeübt hatten. Manche hatten ihre Lehrtätigkeit nach Wieder­eröffnung der Universitäten ununterbrochen fortgeführt; andere waren nach kurzen oder längeren „Warteschleifen“ in die Lehre zurückgekehrt.  Das gilt vor allem für solche Autoren, die mit ihrer Forschung, Literatur und Lehre maßgeblich, nicht selten führend, an der „nationalsozialistischen Rechtserneuerung“ mitgewirkt hatten. Die juristischen Professoren, die bereits im Nationalsozialismus tätig gewesen waren, be- oder erhielten, bisweilen nach der erwähnten „Warteschleife“, mit wenigen Ausnahmen nach 1945 wieder juristische Lehrstühle. Viele andere wurden zu akademischen Leitfiguren („Klassikern“) der deutschen Nach­kriegs­jurisprudenz. 

Diese wie die übrigen an der NS-Rechtser­neu­erung beteiligten Juristen entwickelten unterschied­liche Selbstbehauptungs- und Verdrängungs­strategien. Von ihren Fakultäts- und Fachkollegen wurden die NS-Autoren in aller Regel geschont, indem einschlägige Themen – sei es aus kollegialer Solidarität, aus Achtung vor ihrer Fachkompetenz oder wegen des Bedarfs an fachkompetenten Dozenten – in der Fakultät in der Lehre wie auch literarisch vermieden.  Die jüngeren Wissenschaftler kannten diese Vergangenheiten nicht oder mußten, wenn sie sie thematisierten, befürchten, ihre Karriere als "Nestbeschmutzer" zu gefährden.

Die Verdrängungs- und Schweigespirale (Schulbildung als prägender Faktor der Erinnerungskultur)

Fachlich gute Hochschullehrer ziehen begabte Schüler an. Das war auch nach 1945 bei den bedeutenden juristischen NS-Autoren nicht anders, die jetzt ihre Karriere erfolgreich fortsetzten. Es bildeten sich um die führenden Kapazitäten in den Teildisziplinen der Rechtswissenschaft Gruppen von fachlich qualifizierten Schülern, die ihren akademischen Lehrern in Dankbarkeit und Verehrung zugetan waren. Schon deshalb, aber auch um ihr eigenes Ansehen nicht zu gefährden, hatten sie an der Erörterung der Rolle ihrer Lehrer in der NS-Zeit kein Interesse. Es entstand eine über Jahrzehnte geübte über das ganze Fach Rechtswissenschaft und die Justiz verbreitete Schweigespirale bezüglich der NS-Zeit. Qualifizierte, dankbare und loyale Schülerscharen schirmten in der Folge auch in ihrer eigenen Forschung und Lehre ihre in die NS-Ideologie verstrickten, fachlich anerkannten und menschlich verehrten Doktor- und Habilitationsväter gegen Kritik konsequent ab.

Daraus ergab sich in den ersten Jahrzehnten nach 1945 eine zwar ungeschriebene, aber, soweit ich sehe, fast ausnahmslos durchgehaltene Verhaltensregel für den Umgang mit der Rechtsentwicklung in der NS-Zeit. Sie lautete: Erörterungen in der Lehre, in Seminaren, Dissertationen und Habilitationen, die einen Fakultätskollegen belasten könnten, hatten zu unter­bleiben. Meine akademische Heimatuniversität Münster hatte in der juristischen Seminarbibliothek einen sog. Giftschrank. Dort waren bis 1945 die Bücher jüdischer Autoren eingeschlossen, vor denen die juristischen Studierenden bewahrt werden sollten.  Nach 1945 wurde der Inhalt ausgewechselt. Dort war jetzt die belastende Literatur von Fakultätskollegen aus der NS-Zeit für Studierende nur noch mit einer Sondergenehmigung zugänglich. Ähnliche Regelungen gab es an den meisten Fakultäten.

Die Entwicklung des Rechts im Nationalsozialismus wurde so in den westdeutschen juristischen Fakultäten über Jahrzehnte hin weitgehend aus der Forschung und erst recht aus der Lehre, auch aus den Lehrbüchern sowohl in den dogmatischen Rechts­gebieten wie in den Grundlagenfächern (Rechtsphilo­sophie, Rechtsgeschichte, Methodenlehre) ausgeschlossen. Musterbei­spiele dafür sind die von namhaften NS-Autoren verfaßten oder fortgeführten Lehr- und Handbücher oder Kommentare in fast allen Rechtsgebieten. Das setzte sich in der umfangreichen Jubiläums-, Fest- und Gedenkschriftenliteratur der Nachkriegszeit bis in die neunziger Jahre fort. Dieser Trend durchzieht, bisweilen verschärft, heute noch zahlreiche Lebensbilder von Kollegen der NS-Zeit, die von Schülern in Sammelbanden und Einzelschriften verfaßt wurden.

Diese „Erinnerungskultur“ der Funktionseliten der NS-Zeit hat in vielen Bereichen eine Irreführung der nachgeborenen Generationen bewirkt, nämlich verbreitete falsche Geschichtsbilder. Es gibt noch heute unter den arrivierten Juristen aller Ränge bis in die Bundesgerichte nicht wenige, welche das juristische und methodische Geschehen jener Jahre nicht oder nur vage kennen, oft unbewußt relativieren und aus ihrem Methodenbewußtsein ausklammern. Die falsche Parole, nicht die Juristen, sondern der böse „Positivismus“ habe das Unrecht der NS-Zeit verursacht, hatte Anhänger bis hin zu BGH-Präsidenten (H. Weinkauff, G. Hirsch). Die Professoren der NS-Zeit werden von ihren Schülern und „akademischen Enkeln“ heute (rein fachtechnisch vertretbar) als „Klassiker“ verehrt. Der Umgang dieser Gruppe mit ihrer Disziplingeschichte und diese lückenhafte Erinnerungskultur erklären zugleich die Tatsache, daß über mehrere Generationen hin eine „Schlußstrich-Mentalität“ um sich griff.

Die Entwicklung des Rechts im Nationalsozialismus wurde über Jahrzehnte hin aus dem öffentlichen Diskurs und erst recht aus der Lehre sowohl in den dogmatischen Rechtsgebieten wie in den Grundlagenfächern (Rechts-philosophie, Rechtsgeschichte, Me­tho­­­denlehre), unterstützt von den staatlichen Juristen­aus­bil­dungs­­ordnungen, weitgehend ausgeschlossen. Musterbei­spiele dafür sind die von namhaften NS-Autoren verfaßten oder fortgeführten Lehr- und Handbücher oder Kommentare in fast allen Rechtsgebieten, besonders zur juristischen Methodenlehre und zur Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. Die Erinnerungsbereitschaft in der deutschen Justiz weist ähnliche, zum Teil skandalöse Verzögerungen und Verwerfungen auf wie die der Jurisprudenz. Erst 2013, also 68 Jahre nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes und 64 Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik, erschien ein Buch zur Rolle des Justizministeriums bei Staatsverbrechen im NS-Staat und in der Nachkriegszeit bei der verzögerten und teilweise gezielt verhinderten Aufklärung dieser Verbrechen.

Viele schwerste Verbrechen blieben ungesühnt, weil sie nur als Beihilfe eingestuft wurden und deshalb verjährt waren. Das darin enthaltene Skandalon kann hier nur angedeutet werden. Wie in den juristischen Fakultäten und in den meisten anderen staatlichen Institutionen war nach 1949 auch in der westdeutschen Gerichtsbarkeit die große Mehrheit der Richter und Staatsanwälte im Amt geblieben.  Kontinuitäten der Gedankenwelt der NS-Zeit zeigten sich besonders in der Recht­sprechung des Bundesgerichtshofes zum Widerstand, zur Rechtmäßigkeit eines SS-Standgerichtes im KZ Flossenbürg (BGH „Huppenkothen-Prozeß“, Urteil vom 19. Juni 1956) und zur Verfolgung von Sinti und Roma (Urteil vom 7. Januar 1956). Ähnliche Erinnerungskulturen bildeten sich nach der Implosion der DDR 1989 in Ost und West. Oft waren sie von Verleugnung und Verdrängung (Ost) oder von naiver Ignoranz (West) geprägt. Günter Grass etwa erinnerte sich an die menschen­verachtende Unterdrückungs- und Zersetzungsma­schinerie des zweiten deutschen Totalitarismus als einer „kommoden Diktatur“.

Die „furchtbaren Juristen“?

Das Geschilderte könnte den Fehlschluß nahelegen, diese fragwürdige „Erinnerungskultur“ sei eine Ausnahmeerscheinung bei den Juristen. Die Tatsachen legen eher das Gegenteil nahe. Das gilt für die Angehörigen aller „staatsnahen“ Wissenschafts­gebiete (Philosophie, Germanistik, Geschichte, Soziologie, Biologie u.v.a.). Wer von den fachlich Hochbegabten in der NS-Zeit bereit war, sich in den Dienst der Rassenideologie des NS-Staates zu stellen oder davon zu profitieren, der hatte in allen Berufsbereichen große Karrierechancen. Dasselbe galt für alle staatsnahen Institutionen, etwa der Medizin (Euthanasie!) sowie für viele andere Berufsgruppen, besonders für Journalisten (Hachmeister/Siering, Die Herren Journalisten, München 2002) und Künstler.

Der Vorbericht einer vom Bundesinnenminister im Dezember 2014 in Auftrag gegebenen Untersuchung zur Geschichte seines Hauses während der NS-Zeit zeigt: Von der „Referats­leiterebene“ an aufwärts waren zwischen 1949 und 1970 54% aller Mitarbeiter im BMI vor 1945 Mitglieder der NSDAP. Im Juli 1961 waren es 66%. Im Innenministerium der DDR waren es 14%. Das habe, so de Maizière, die gesellschaftliche Entwicklung in der frühen Bundesrepublik maßgeblich geformt. Ähnliche Ergebnisse zeigen die umfangreichen früheren Untersuchungen für das Außen- und das Justizministerium. Mit Blick auf diese Zahlen und die reale „Durchsetzung“ aller staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen mit Funktions­eliten der NS-Zeit ist es verständlich, daß die Ermittlung und Verfolgung der Beteiligten an den Verbrechen des NS-Regimes in der frühen Bundesrepublik von den zuständigen Behörden in Polizei und Justiz lange verzögert, teils bewußt verhindert wurde.

Die Erlebnisse des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer bei der mühsamen Erzwingung der Auschwitzprozesse in Frankfurt a. M. gegen heftige Wider­stände aus den eigenen Reihen der Justiz bestätigen das. Ähnliche personelle Strukturen wiesen die Leitungsebenen vieler Großun­ternehmen, besonders die ehemaligen „National­soziali­stischen Musterbetriebe“ nach 1945 auf. Hier fanden Spitzenfunktionäre des NS-Regimes, auch ehemalige Gestapo-Chefs oder Spitzenbeamte der „Reichskanzlei“ nach ihrer Entlas­sung aus alliierter Haft eine bereitwillige „Willkom­menskultur“ bei den alten Kameraden. Das Gesprächs­klima jener Jahre in solchen Ministerien, Firmen oder Verwaltungs­einheiten schloß unbefangenen Umgang mit der NS-Geschichte von vornherein aus. Wer dagegen verstieß, wurde zum Außenseiter.

Zusammengefaßt:

In der frühen Bundesrepublik herrschte, bedingt durch die personellen Kontinuitäten, ein generelles Klima des „kommunikativen Beschweigens“ der NS-Vergangenheit, nicht nur bei den Juristen. Die dadurch entstandenen Wissens- und Bewußtseinslücken der Nachgeborenen werden bis heute verkannt oder gern übersehen. Die akademischen „Schüler- und Enkelkohorten“ der der ehemals führenden NS-Juristen verstärken (oft unbewußt) diesen Trend zur Geschichtsfälschung bis in die Gegenwartliteratur hinein. Die verfestigten, fehlerhaften, kollektiven und individuellen „Erinnerungskulturen“ vermitteln keine realen Geschichtsbilder, sondern oft verzerrte historische Fehldeutungen und „Unkulturen“. Aus der Geschichte, die man nicht kennt, kann man nichts lernen.

Die gruppenspezifischen Erinnerungsvarianten enthalten also keinerlei „Wahrheitsgarantie“. Dabei spielen politische Absich­ten, etwa das Erstreben von Deutungshoheiten oder die Erzeugung von bestimmten Geschichtsbildern auch bei „unab­hän­gigen Wissenschaftlern“ oft eine nicht geringe Rolle. Es gab einen regelrechten „Kampf der Erinne­rungs­kulturen“. Ein Beispiel dafür ist das lange gepflegte Märchen von de „sauberen Wehrmacht“ und der Leugnung gerade der Rolle von deren Generalität. Bis in untere Ränge hinein waren Angehörige der Wehrmacht Mitwisser der Massen­morde hinter der Front. Das gilt sogar für nicht wenige Seelsorger beider Konfessionen in der Wehrmacht, die von den Morden hinter der Front Kenntnis erhielten. Teilweise waren Offiziere und Soldaten auch Mittäter. Generalfeld­marschall von Manstein forderte die bei der Judenver­nichtung in seinem Befehlsbereich angefallenen Uhren der Ermordeten für seine Truppe. (Nachzulesen in DER SPIEGEL 42/1999)

Die heute lebende Generation trägt für alles das, was damals geschehen ist, keine moralische Verantwortung. Es steht ihr nicht zu, Pauschalurteile über die Generation der damals Handelnden und Verantwortlichen zu fällen. Verant­wortlich aber sind wir alle, daß das Geschehene nicht vergessen, verdrängt oder vertuscht wird. Diese Vergangenheit vergeht nicht und sie darf um der Zukunft willen nicht im Dunklen bleiben oder vernebelt werden.

Weiterführende Literatur:

  • AK Erinnerungskultur in der Marburger Geschichtswerkstatt (Hrsg.): Weiter erinnern? Neu erinnern? –  Überlegungen zur Gegenwart und Zukunft des Umgangs mit der NS-Zeit. Unrast Verlag, Münster 2003.
  • Hermann Lübbe, Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewußtsein, in: Historische Zeitschrift 236 (1983), S. 579-599; unter dem Titel „Der Nationalsozialismus im politischen Bewußtsein der Gegenwart“ dann in: Martin Broszat u.a. (Hg.), Deutschlands Weg in die Diktatur. Internationale Konferenz zur nationalsozialistischen Machtübernahme im Reichstagsgebäude zu Berlin. Referate und Diskussionen. Ein Protokoll, Berlin 1983, S. 329-349; unter dem Titel „Der Nationalsozialismus im Bewusstsein der deutschen Gegenwart“ zuletzt in: Hermann Lübbe, Vom Parteigenossen zum Bundesbürger. Über beschwiegene und historisierte Vergangenheiten, München 2007, S. 11-38.
  • Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. In: Schriftenreihe 633, Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn 2007, C.H.Beck, München 2006.
  • Walther L. Bernecker, Sören Brinkmann: Kampf der Erinnerungen. Der Spanische Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft 1936–2006. Nettersheim 2006.
  • Michael Bernhard, Jan Kubik (Hrsg.): Twenty Years After Communism: The Politics of Memory and Commemoration. Oxford University Press, 2014. 
  • Erich Bulitta, Hildegard Bulitta:  Erinnerung - Gedenken - Hoffnung … am Volkstrauertag, Pädagogische Handreichung. München 2015.
  • Erich Bulitta: Trauer, Erinnerung, Mahnung – Grundlagen und Materialien für einen zeitgemäßen Volkstrauertag. Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Kassel 2002
  • Erich Bulitta, Hildegard Bulitta: Reihe Schritte zu einer Erinnerungs- und Gedenkkultur – Band I: Grundlagen einer Erinnerung – Analyse. Berlin 2017.