Expert*innen-Gespräch über den Holocaust in der historisch-politischen Bildung und Herausforderungen der Erinnerungsarbeit von Museen und Gedenkstätten in Polen
Auf Einladung der Bundestagsabgeordneten Brigitte Freihold fand am Mittwoch, 16.01.2019, im Deutschen Bundestag ein Expert*innen-Gespräch statt, bei dem der Austausch über Erfahrungen und Möglichkeiten der gedenk- und erinnerungspolitischen Bildungsarbeit in Deutschland und Polen im Zentrum stand.
2023 wird in Polen das Museum des Warschauer Ghettos eröffnet, welches sich als erste Einrichtung in Polen gezielt mit der historischen Vermittlungsarbeit zur Shoah beschäftigen soll. Vor diesem Hintergrund stellte der Leiter des Museums des Warschauer Ghettos, Albert Stankowski, die inhaltlichen Schwerpunkte der zukünftigen Dauerausstellung vor. Frau Dr. Halina Postek, Leiterin der Bildungsabteilung des geplanten Museums, teilte ihre Erfahrungen bei der Durchführung von bereits stattfindenden Bildungsangeboten an polnischen Grundschulen für die Klassen I-III (7-10jährige Schüler*innen) und IV-VIII (11-14jährige Schüler*innen) sowie Möglichkeiten der deutsch-polnischen Jugendarbeit und Lehrer*innen-Weiterbildung. Besonderes Interesse bestand dabei an den Erfahrungen deutscher Bildungs- und Gedenkeinrichtungen bei der Vermittlung der Shoah.
In diesem Zusammenhang stellten Frau Dr. Elke Gryglewski, stellvertretende Direktorin und Leiterin der Bildungsabteilung der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz und Frau Anna Rosenhain-Osowska, Museumspädagogin und Polen-Expertin, die Arbeit der Gedenkstätte vor. Diese bietet neben Ausstellungen vielfältige pädagogische Möglichkeiten, sich mit der Geschichte der Verfolgung und Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden, mit der Geschichte des Nationalsozialismus, mit der Vorgeschichte und den Nachwirkungen zu befassen. Die ständige Ausstellung „Die Wannsee-Konferenz und der Völkermord an den europäischen Juden“ informiert über die Vorgeschichte der nationalsozialistischen Verfolgung der Jüdinnen und Juden, über ihre Ausgrenzung, Entrechtung und Vertreibung sowie über die Deportation, Ghettoisierung und Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden.
Im Hinblick darauf fragte Brigitte Freihold nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten bei der Vermittlung des historischen Wissens und bemühte sich, durch dieses Treffen einen Austausch über Best-Practices-Beispiele der bildungspolitischen Arbeit, eine offene Diskussion über Ausgestaltung und Schwerpunkte der bildungspolitischen Arbeit des Museums des Warschauer Ghettos sowie einen Ideenaustausch hinsichtlich möglicher Kooperationen mit deutschen Einrichtungen der politischen Bildung zu ermöglichen. Insbesondere bei der Ausgestaltung der Dauerausstellungen und der Erarbeitung von Lehr- und Infomaterialien wurde seitens der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz Unterstützung angeboten und Interesse an einer Zusammenarbeit geäußert, von der beide Seiten profitieren und auch lernen können.
Das sich im Aufbau befindende Museum des Warschauer Ghettos arbeitet gegenwärtig bereits mit der Gedenkstätte des ehemaligen deutschen Vernichtungslagers Treblinka zusammen. In den Jahren 1942-1943 haben die deutschen Besatzer schätzungsweise 300.000 Jüdinnen und Juden sowie Sinti und Roma aus dem Getto Warschau in das deutsche Vernichtungslager Treblinka in den Tod deportiert. Weitere NS-Verfolgte starben in den Lagern des damaligen Distrikts Lublin und bei der sog. Aktion Erntefest. Insgesamt wurden im Zuge der „Aktion Reinhardt“ zwischen Juli 1942 und Oktober 1943 schätzungsweise 1,8 Millionen Jüdinnen und Juden und mehrere Zehntausende Sinti und Roma mehrheitlich aus dem besetzten Polen ermordet.
Bei der Gestaltung der Dauerausstellung ist auch eine Kooperation mit Mitarbeiter*innen der Gedenkstätte des deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek angedacht.
Im Hinblick auf das Fehlen historischer Artefakte aus der Zeit der Ghettos hob Herr Stankowski das Interesse an Kooperationen hervor, um u.a. Bilddokumente und Dokumente aus der Besatzungszeit zu erschließen, die sich in Nachlässen in Deutschland befinden. Frau Dr. Postek erläuterte bei dem Treffen, dass im Vordergrund der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit des Museums der Perspektivwechsel und die Förderung von Empathie stehen. Dabei werde versucht, bereits jüngere Altersgruppen in den Schulen an das Thema Shoah altersgerecht heranzuführen.
Die Gespräche darüber sollen durch die beiden Einrichtungen nun vertieft werden. Brigitte Freihold wird das Vorhaben weiter mit ihrer bildungs- und erinnerungspolitischen Expertise begleiten und auf der politischen Ebene mit parlamentarischen Initiativen unterstützen, um den fachlichen Austausch zwischen deutschen und polnischen Einrichtungen zum Thema Erinnerungsarbeit zu intensivieren.
Bereits zuvor hat die Abgeordnete Brigitte Freihold sich mit verschiedenen Anträgen zum Bundeshaushalt dafür eingesetzt, dass die Bundesrepublik einen substantiellen finanziellen Beitrag zur Gewährleistung einer langfristigen Gedenkperspektive zur Erinnerung an die Opfer der „Aktion Reinhardt“ leistet. In einem umfassenden Haushaltsänderungsantrag (Ausschussdrucksache 19(22)72) und einem Entschließungsantrag zum Einzelplan 05 (BT-Drs. 19/3131) forderte die Abgeordnete einen ganzheitlichen erinnerungspolitischen Ansatz, der die Dimensionen von Wissenschaft und Forschung mit historischer Vermittlung und Gedenken verbindet.
Der Maßnahmenkatalog umfasste unter anderem Beiträge zur nachhaltigen Förderung der pädagogischen Infrastruktur in Treblinka, Bełżec und Sobibor als Lernorten unter Einbeziehung bereits vorhandener zivilgesellschaftlicher Projekte; die Sanierung der gedenkpolitischen Infrastruktur sowie die Unterstützung beim Neubau eines Bildungs-Zentrums in der Gedenkstätte Treblinka. Darüber hinaus wurde dort auch die Erschließung erhalten gebliebener Lagerobjekte, wie die ehemalige Kommandantur Bełżec, für Bildungszwecke berücksichtigt sowie die Unterstützung der Bemühungen der Rabbiner-Kommission für Jüdische Friedhöfe bei der Identifizierung von unbekannten Grabstätten der Massaker der „Aktion Reinhardt“.
Leitgedanke des Konzeptes ist die Förderung einer breitenwirksamen Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse und angemessener Bildungs- und Gedenkmaßnahmen für die Opfer der in den drei deutschen Vernichtungslagern der „Aktion Reinhardt“, Treblinka, Bełżec und Sobibor, ermordeten Jüdinnen und Juden. Besonders unterstrichen werden dabei Maßnahmen zur Erforschung der im Zuge der „Aktion Reinhardt“ in deutschen Vernichtungslagern und zahlreichen Massenexekutionen im Generalgouvernement in den Jahren 1942 bis 1943 ermordeten Sinti und Roma. Dabei soll auch die Bedeutung der geographischen Lage zwischen der Ukraine und Belarus für trilaterale Bildungs- und Lernprojekte unter Einbeziehung der sogenannten Transit-Ghettos wie z. B. Izbica, Piaski, Włodawa oder Szczuczyn berücksichtigt werden.
Diese parlamentarischen Bemühungen greifen dabei auch auf Empfehlungen des Fachgesprächs „Holocaust-Erinnerung mit Auslandsbezug“ im Unterausschuss Auswärtige Kultur und Bildungspolitik (UAKB) vom 16. Januar 2017 zurück sowie Anregungen, welche die Abgeordnete bei einem intensiven Austausch mit der Rabbiner-Kommission für Jüdische Friedhöfe, dem Verband der Jüdischen Gemeinden in Polen, dem Deutschen Historischen Institut (DHI) Warschau, dem Jüdischen Historischen Institut (ŻIH) Warschau sowie dem Touro College Berlin gewinnen konnte und zuletzt auch in einem Expert*innen-Gespräch im November 2018 mit Vertreter*innen des Zentralrats der Deutschen Sinti und Roma und des Verbands der Roma in Polen.
Bei der Umsetzung dieser ganzheitlichen und länderübergreifenden erinnerungspolitischen Maßnahmen ist eine strukturelle Zusammenarbeit aller bildungs- und gedenkpolitischen Akteur*innen notwendig. Die Abgeordnete Brigitte Freihold folgt deshalb der Anregung von Prof. Dr. Stephan Lehnstaedt (Touro College), der bei dem Fachgespräch im UAKB im Januar 2017 die Einrichtung eines internationalen wissenschaftlichen Beirates zur Erinnerung und Erforschung der „Aktion Reinhardt“ für unabdingbar hielt, um im Sinne der Theresienstädter Erklärung die beispiellose Geschichte und das Vermächtnis des Holocaust für zukünftige Generationen im Gedächtnis zu bewahren und für alle Zeiten daran zu erinnern. Ziel eines solchen Beirates ist es, neben der musealen und didaktischen Vermittlung auch fachwissenschaftliche Expertise bei der Umsetzung der Maßnahmen zu berücksichtigen und die relevanten Akteure aus Forschung, Bildungsarbeit und Gedenkstätten einzubinden, zu vernetzen und den Bedarf in diesen Bereichen zu identifizieren.
Das aktuelle Expert*innen-Gespräch im Bundestag vom 16. Januar 2019 hat die Notwendigkeit eines ganzheitlichen Ansatzes in der Erinnerungspolitik unterstrichen und zugleich deutlich gemacht, dass die Vertiefung des deutsch-polnisch-jüdischen Austausches und der bildungspolitischen Zusammenarbeit zum Thema „Aktion Reinhardt“ gleichermaßen bereichernd für alle Beteiligten ist.
An dem Expert*innen-Gespräch nahmen teil:
Brigitte Freihold, MdB, erinnerungspolitische Expertin der LINKEN, Mitglied im Unterausschuss Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik (UAKB) sowie Ausschuss für Kultur und Medien
Dr. Elke Gryglewski, stellvertretende Direktorin und Leiterin der Bildungsabteilung der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz
Anna Rosenhin-Osowska, Museumspädagogin und freie Mitarbeiterin der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz
Albert Stankowski, Direktor des Museums des Warschauer Ghettos
Dr. Halina Postek, Leiterin der Bildungsabteilung des Museums des Warschauer Ghettos