„Meine lieben Kinder! Wir fahren soeben nach dem Osten, wissen nicht wohin.“

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Postalische Zeugnisse zur deutschen Besatzungsherrschaft im Protektorat Böhmen und Mähren. Buchvorstellung und Diskussion mit Heinz Wewer. Wir dokumentieren im Folgenden die Einführung unseres Mitarbeiters Eike Stegen und die Einleitung des Vortrags von Heinz Wewer, die er seiner Präsentation der postalischen Zeugnisse voranstellte.

Zum heutigen Vortrag und zur Diskussion mit dem Autor Heinz Wewer anlässlich des achtzigsten Jahrestags der Besetzung Tschechiens möchte ich Sie im Haus der Wannsee-Konferenz begrüßen.

Heinz Wewer studierte Rechtswissenschaften, Geschichte und Politikwissenschaften. Er berichtete 1961 als Korrespondent vom Eichmann-Prozess, war wissenschaftlicher Mitarbeiter im Berlin Document Center und begründeten verschiedene zivilgesellschaftliche Initiativen, die mit der Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen zu tun haben. Zuletzt war er Leiter des Referats Internationale Beziehungen der Universität der Künste Berlin.

Am 25.11. letzten Jahres hat Heinz Wewer sein Buch „Abgereist, ohne Angabe der Adresse“. Postalische Zeugnisse zu Verfolgung und Terror im Nationalsozialismus vorgestellt, und es entstand zwischen uns beiden sogleich die Idee, zum 80. Jahrestag der Besetzung Tschechiens eine Veranstaltung ins Auge zu fassen, denn Sie haben auch detailliert zu den postalischen Zeugnissen aus dem so genannten Protektorat Böhmen und Mähren gearbeitet.

Das Haus der Wannsee-Konferenz hat eine Reihe von Veranstaltungen zu den achtzigsten Jahrestagen seit 2013 veranstaltet oder mitveranstaltet – darunter eine umfangreiche wissenschaftliche Tagung zum 80. Jahrestag der Nürnberger Gesetze 2015, auch, da der vermeintlich legale Rahmen des Regierungshandelns beim Völkermord so kennzeichnend für die Wannsee-Konferenz ist.

Zuletzt sprach zum 80. Jahrestag des Novemberpogroms am 9. November 2018 der amerikanische Historiker Prof. Alan Steinweis. Zum 80. Jahrestag des Überfalls auf Polen haben wir derzeit ein Projekt zur Digitalisierung privater Fotoaufnahmen aus den ersten Kriegsmonaten nach dem Überfall auf Polen, „Stumme Zeugnisse“, das am 1.9.2019 präsentiert werden wird.

Der 80. Jahrestag der Besetzung Tschechiens ist mehrfach mit unserem Haus verbunden. Es ist zwar erst zweieinhalb Jahre später, dass der Leiter der Wannsee-Konferenz, Reinhard Heydrich, als Stellvertreter Neuraths amtierender „Protektor von Böhmen und Mähren“, aber diese Verbindung unseres Hauses mit Tschechien ist wohl am deutlichsten: Das zweite Einladungsschreiben vom 8. Januar 1942 verschickt Heydrich aus Prag; ein halbes Jahr später wird er dort getötet und in der Folge der Ort Lidice zerstört.

Adolf Eichmann, der spätere Wannsee-Protokollant, baut in Prag nach dem Vorbild der von ihm bereits in Wien eingerichteten Zentralstelle für jüdische Auswanderung eine Bürokratie für die Vertreibung und Enteignung von Juden auf. Wilhelm Stuckart wirkt maßgeblich am Erlass mit, der am 16. März 1939 das Protektorat begründet. In der Ausstellung zeigen wir ein Foto aus dem März 1939, das ihn mit Hitler und weiteren NS-Größen auf der Prager Burg zeigt.

Schließlich ist das Lager Theresienstadt, das im Protektorat eingerichtet werden wird, das einzige, das im Protokoll der Wannsee-Konferenz explizit genannt wird: „Es ist beabsichtigt, Juden im Alter von über 65 Jahren nicht zu evakuieren, sondern sie einem Altersghetto – vorgesehen ist Theresienstadt – zu überstellen.“

Mehrere tausend Juden aus dem „Protektorat“ flohen 1939 nach Shanghai.

Heinz Wewer:

„Ich habe ein schweres Amt. Es würde mir ungemein leid tun, wenn ich diese schöne Stadt vernichten müsste“, so Göring in der Nacht zum 15. März 1939 in dem Treffen zwischen Hitler und Hácha in der Reichskanzlei Berlin. Mit „dieser schönen Stadt“ war Prag gemeint.

Diese Drohung mit militärischer Gewaltanwendung gab den letzten Anstoß zur Unterzeichnung der Unterwerfungserklärung durch den tschechischen Präsidenten Hácha und seinen Außenminister Chvalkovský, die eigentlich wegen eines ganz anderen Themas, nämlich der Abtrennung der Slowakei, nach Berlin gereist waren. In der auch von Hitler und Außenminister Ribbentrop unterzeichneten Erklärung hieß es, dass Hácha „das Schicksal des tschechischen Volkes und Landes vertrauensvoll in die Hände des Führers des Deutschen Reiches“ lege. Die tschechische Seite werde der Besetzung durch die Wehrmacht keinen Widerstand entgegensetzen.

Die Besetzung hatte bereits am 14. März mit dem Einmarsch deutscher Truppen und der SS-Leibstandarte Adolf Hitler in den Bezirk Mährisch-Ostrau begonnen. Am 15. März wurde die Besetzung ohne größere Zwischenfälle vollendet. Am folgenden Tag, dem 16. März 1939, verkündete Hitler in Prag das Protektorat Böhmen und Mähren, also faktisch die Annexion der böhmischen Länder. In dem „Erlass des Führers und Reichskanzlers vom 16. März 1939 über das Protektorat Böhmen und Mähren“ sicherte Hitler dem Protektorat Autonomie und Selbstverwaltung zu. Die Realität der Besatzungsherrschaft klang im Artikel 4 an. Es heißt hier:

„Als Wahrer der Reichsinteressen ernennt der Führer und Reichskanzler einen Reichsprotektor in Böhmen und Mähren… Der Reichsprotektor hat als Vertreter des Führers und Reichskanzlers die Aufgabe, für die Beachtung der politischen Richtlinien des Führers und Reichskanzlers zu sorgen. Die Mitglieder der Regierung des Protektorats werden vom Reichsprotektor bestätigt… Die Verkündigung von Gesetzen, Verordnungen und sonstigen Rechtsvorschriften sowie der Vollzug von Verwaltungsmaßnahmen und rechtskräftigen gerichtlichen Urteilen ist auszusetzen, wenn der Reichsprotektor Einspruch einlegt.“

Hier ist bereits die vollständige Abhängigkeit der tschechischen Regierung von der deutschen Besatzungsmacht normiert. Für die zeitliche Einordnung des Endes der Rumpf-Tschechoslowakei kommen also drei Daten in Frage:

  • der 14. März als Beginn der Besetzung,
  • der 15. März als förmliche Unterwerfung der tschechischen Staatsspitze und Vollendung der Besetzung,
  • der 16. März als Tag der Errichtung des Protektorats.

Welche strategischen Interessen verfolgte Hitler mit dem, was er als „Zerschlagung der Rest-Tschechei“ bezeichnete?

Werfen wir einen kurzen Blick zurück. Am 5. November 1937 versammelte Hitler die militärische Führung des Reiches zu einer Besprechung, in der er seine Angriffsziele erläuterte. Im Vordergrund standen Österreich und die Tschechoslowakei. In der so genannten Hoßbach-Niederschrift, einem Dokument, das später dem Nürnberger Militärgerichtshof als Nachweis der Vorbereitung eines Angriffskrieges vorlag, heißt es:

„Zur Verbesserung unserer militär-politischen Lage muss es unser 1. Ziel sein, die Tschechei und gleichzeitig Österreich niederzuwerfen, um die Flankenbedrohung eines etwaigen Vorgehens nach Westen auszuschalten.“

Durch eine „zwangsweise Emigration aus der Tschechei von zwei, aus Österreich von einer Million Menschen“ könnten „Nahrungsmittel für 5-6 Millionen Menschen“ gewonnen werden. Der Überfall auf die Tschechei müsse „blitzartig schnell“ erfolgen.

Also: Es ging um die Ausgangsposition für einen europaweiten Angriffskrieg, um die Gewinnung wirtschaftlicher Ressourcen und die Vertreibung eines Teils der tschechischen (und auch der österreichischen!) Bevölkerung, also die Gewinnung von „Lebensraum“.

Antisemitische Kennzeichnung auf der Werbepostkarte eines jüdischen Betriebs im „Protektorat“.

Das Aggressionsprogramm hat die NS-Führung dann konsequent realisiert. Am 30. Mai 1938 bekräftigte Hitler in der „Weisung Grün“ seinen „unabänderlichen Entschluss, die Tschechoslowakei in absehbarer Zeit durch eine militärische Aktion zu zerschlagen.“ Durch das Schüren von deutsch-tschechischen Spannungen mit Hilfe der Sudetendeutschen Partei kam es im Sommer 1938 zur Kriegsgefahr. Als Folge der Münchner Konferenz Ende September wurde die Tschechoslowakei schließlich vom Deutschen Reich mit Billigung Großbritanniens und Frankreichs gezwungen, die Randgebiete, das so genannte Sudetengebiet, an das Deutsche Reich abzutreten.

Hier beginnt mein Versuch, einige Aspekte der deutschen Besatzungsherrschaft in Böhmen und Mähren mit Hilfe von postalischen Dokumenten anschaulich zu machen.

Weiterlesen! Entweder im gekauften Buch (bei Hentrich&Hentrich zu bestellen) oder in unserer Joseph Wulf Bibliothek, montags bis freitags, 10-18 Uhr.